Beobachtungen zur Verlaufsgestaltung klassischer Sonatenexpositionen
Einleitung
Zu keinem anderen Thema der musikalischen Formenlehre existieren mehr Publikationen als zur Ausgestaltung des Sonatensatzes. Dabei standen bislang vor allem Tonarten- und Motivkonstellationen im Zentrum des Interesses, das Phänomen der zeitlich-rhythmischen Formbildung wurde hingegen kaum berücksichtigt. Allerdings lässt sich belegen, dass mit der harmonischen Bewegung hin zur Seitensatztonart auch eine rhythmisch-energetische Übersetzung einhergeht. Somit nimmt sich eine Sonatenexposition insgesamt als schrittweiser Verdichtungsprozess aus. Dieser Sachverhalt wurde bislang kaum angemessen dargestellt, 1 obwohl sich Arbeiten zu rhythmischen Phänomenen in der Musik mehren, die sich allerdings eher spezifischen Details widmen als der Entwicklung der musikalischen Form in der Zeit in ihrer grundlegenden Ereignishaftigkeit. 2 Interessanterweise hat nicht ein Musiktheoretiker, sondern der Interpret Alfred Brendel ein ähnliches Phänomen, das er als »Verkürzungstechnik« bezeichnet, bereits 1977 beschrieben. 3
Meinen Darlegungen vorausgegangen ist das Studium unzähliger Sonatensätze und die Beobachtung, dass Studierende, welche selbst Sonatensätze als Stilstudien verfasst hatten, zu Fragen gelangten wie: »Warum klingt sogar bei identischer Harmoniefolge eine Modulation bei den Meistern wie ein Wunder, bei der Stilkopie aber umständlich?« Solche Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis verdeutlichen, dass es nicht ausreicht, die Modulation in der Sonatenexposition auf den harmonischen Prozess zu reduzieren.
Die fortschreitende Veränderung der inneren Bewegung wurde in der Zeit der Wiener Klassik zu einem wichtigen Charakteristikum für die Verlaufsgestaltung klassischer Sonatenexpositionen. Dieses Phänomen, dessen Beschreibung in einer im Entstehen begriffenen größeren Publikation an komplexeren Beispielen noch ausdifferenziert werden soll, wird im vorliegenden Artikel anhand der frühen Klaviersonaten Joseph Haydns beispielhaft beschrieben.
Zur Exposition der klassischen Sonatenform bei Joseph Haydn
Die Exposition der Klaviersonate in C-Dur, Hob XVI:1, die Joseph Haydn um 1760 komponiert hat, umfasst nur wenige Takte. In aller Knappheit kommen in diesem Stück die Gestaltungsprinzipien der klassischen Sonatenexposition exemplarisch zur Darstellung (Abb. 1). Auf formaler Ebene findet sich eine deutliche Mittelzäsur mit Halbschluss in Takt 7, gefolgt vom Seitensatz mit einer vollständigen authentischen Kadenz in Takt 15. Der Abschlussgedanke führt zunächst in den Trugschluss, bevor eine abschließende Kadenz das Ende der Exposition markiert (T. 15–17). Auf motivisch-thematischer Ebene kommt ein fantasievoller Umgang mit einer einzigen Grundidee zum Tragen: Alle drei Themen sind unterschiedliche Spielformen des Dreiklangs (T. 1ff., 8ff. und 15f.). Im Gegensatz dazu stehen jene beiden scheinbar untergeordneten Zonen (T. 4–7 bzw. T. 12–14), welche zwischen den genannten drei thematisch geprägten Abschnitten vermitteln und deren Oberstimmen durchwegs auf Skalenmelodik beruhen.

Abbildung 1 Joseph Haydn, Exposition des 1. Satzes, Allegro, aus der Sonate in C-Dur, Hob XVI:1.
Unberücksichtigt bei einer solchen Betrachtung bleibt allerdings ein zentrales Phänomen, das spätestens für die Interpretation von höchster Bedeutung ist. Mit Ausnahme von wenigen Stellen basiert die gesamte Exposition auf einer durchgehenden Sechzehntelbewegung. Das könnte glauben machen, das implizite Tempo der Musik bleibe gleich. Bei einer solchen Betrachtung geht allerdings die Innendynamik der Musik verloren. Denn während das Tempo in der Regel über einen Satz hinweg relativ stabil bleibt, erweisen sich die Phrasenlängen aufgrund ihrer Variabilität als ungleich flexibler. 4
Zu Beginn der Exposition ist die Musik geprägt von ganztaktig aufsteigenden Arpeggien in Viertelnoten. Taktmetrum und motivische Einheit entsprechen sich im Wert einer ganzen Note. Im Seitenthema stellt sich jedoch eine ambivalente Situation ein: Während die Harmonik nach wie vor ganztaktig organisiert ist, verläuft die Oberstimme nicht mehr in Vierteln, sondern doppelt so schnell in Achteln, der synkopierende Rhythmus wiederholt sich halbtaktig, zielt in der ersten Takthälfte auf den Hochton hin und in der zweiten von ihm weg. Das schnellere Tempo der Oberstimme, der Hochton, die Synkope und der Wechsel der Bewegungsrichtung tragen dazu bei, die motivische Einheit nun halbtaktig aufzufassen. Dieses Nebeneinander von Ganz- und Halbtaktigkeit scheint typisch für Seitenthemen, die oft differenzierter und ambivalenter gebaut sind als Hauptthemen. Die Phrasierung der in Takt 15 einsetzenden Schlussgruppe könnte wiederum als ganztaktig aufgefasst werden. Die Oberstimme bewegt sich jedoch in den schnellsten Notenwerten, den Sechzehnteln, und deren Dreiklangs-Figurationen wiederholen sich auf jedes Viertel, verstärkt durch die ebenfalls auf die Viertelebene verkürzten Harmoniewechsel. Zweifelsfrei liegt der Schlussgruppe in jeglicher Hinsicht ein impliziter Viertelpuls zugrunde.
Interessant sind diejenigen Zonen, welche zwischen diesen drei Stationen vermitteln: Nach den drei eröffnenden Takten stellt sich möglicherweise die Erwartung ein, dass nun eine Dominante folge. Damit würde eine Viertaktgruppe mit Halbschluss entstehen (I–IV–I–V resp. T–S–T–D), die von einem Nachsatz beantwortet werden könnte, womit die Musik zu einem Abschluss käme, noch bevor sie richtig begonnen hätte. Haydn umgeht diese Gefahr, indem er zwar zu Beginn von Takt 4 die erwartete Dominante erscheinen lässt, gleichzeitig aber durch halbtaktige Funktionswechsel den harmonischen Rhythmus beschleunigt. Diese schnellere Form der Bewegung wird unaufdringlich aber bewusst bestätigt durch eine unmittelbare Wiederholung dieses Taktes. In Takt 6 scheint diese Beschleunigung wieder aufgehoben zu sein, da in der Mitte des Taktes kein Funktionswechsel stattfindet. Schon glaubt man, den ganztaktigen Puls wieder zurückgewonnen zu haben, jedoch nutzt Haydn die Dehnung der Subdominante, um den Funktionswechsel auf das letzte Viertel des Taktes zu platzieren und damit, sozusagen im Schatten der punktierten Halben, eine weitere Verkürzung zur Viertelbewegung zu vollziehen. Nach dieser Zuspitzung auf den Halbschluss der Mittelzäsur hin, erscheint das nachfolgende Seitenthema in seiner ambivalenten Gestaltung als völlig folgerichtig. In der Konsequenz aus dieser ersten Überleitung wird ab Takt 12, im Zuge der Infragestellung der Seitensatztonart – ersichtlich an den wechselnden Akzidenziensetzungen (fis/f/fis) – das Verlaufstempo der Musik erneut beschleunigt: Ausgelöst durch die Repetition und die Überbindung des e 2 in die zweite Takthälfte hinein, beschleunigt sich ab Takt 13 die Abfolge der Ereignisse; denn Tonrepetition und Streckung bewirken eine leichte Akzentuierung der zweiten Zählzeit, womit bereits ab hier die Grundbewegung der Schlussgruppe in Vierteln (ab T. 15) vorausgenommen ist.
Trotz fast durchgehender Sechzehntelbewegung erweist sich damit in aller Deutlichkeit, dass in dieser Exposition die motivisch-thematischen Prozesse einer schrittweisen Beschleunigung unterworfen sind, von einem Fortschreiten in ganz- über halbtaktige bis hin zu vierteltaktigen Einheiten. Die zunehmende zeitliche Verkürzung verursacht eine schrittweise rascher fortschreitende Ereignisfolge auf harmonischer und motivischer Ebene, die sich fast zwangsläufig als Intensivierung im Hinblick auf Ausdruck und Dynamik auswirkt. Dieses Steigerungsprinzip 5 erweist sich als grundlegend für die Gestaltung von Sonatenexpositionen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – und weit darüber hinaus –, wie noch zu zeigen sein wird.
Ein kurzer Ausblick auf den weiteren Verlauf der Musik im Kopfsatz dieser Sonate legt nahe, dass in der Durchführung die innere Beschleunigung sogar noch weiter gesteigert wird. Wiederum ausgehend von der Grundbewegung in Ganzen (T. 18) hat Haydn die Umfänge der motivischen Einheiten schrittweise zu Achteln verkürzt und somit den Steigerungsprozess innerhalb der Exposition um eine zusätzliche Stufe überboten. Bemerkenswert ist, dass exakt im Moment der Verlagerung auf die Achtelebene (T. 24) die diminuierte Fassung des Seitengedankens in der Oberstimme erscheint (Abb. 2).

Abbildung 2 Joseph Haydn, 1. Satz, Allegro, aus der Sonate in C-Dur, Hob XVI:1, T. 24: Andeutung des Seitengedankens.
In Takt 30 greift Haydn mittels der harmonischen Fortschreitungen wieder den ganztaktigen Grundpuls auf und gestaltet davon ausgehend die Rückleitung zur Reprise. In dieser nimmt die Musik die in der Exposition angelegte innere Beschleunigung erneut auf, bis sie am Satzende mit einer zweifachen Bewegung in Vierteln (T. 46–50) zu einem Ende findet. Diese Wiederaufnahme des Verkürzungsprozesses in der Reprise ist insofern bemerkenswert, als hier die Modulation zur Dominanttonart ja nicht mehr vollzogen, sondern nur noch angedeutet wird und der Seitensatz in der Grundtonart auftritt. Dennoch – und dies unterstreicht die zentrale Bedeutung des Phänomens – wird diese Intensivierung auf rhythmischer Ebene sogar in der Reprise, analog zur Exposition, vollzogen.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob derartig dreistufige Transformationen im Rahmen der Zeit- und Formgestaltung auch in weiteren Sonaten nachgewiesen werden können und ob sich daraus allgemein gültige Kriterien ableiten lassen.
Rhythmische Intensivierung
In musiktheoretischer Literatur aus dem englischen Sprachraum finden sich Begriffe wie rhythmische Intensivierung, Energiezunahme und Dramatisierung zur Beschreibung von Prozessen auf der Ebene der Bewegungsgestaltung, wie sie anhand der C-Dur-Sonate von Haydn aufgezeigt werden konnten. So bemerken James Hepokoski und Warren Darcy zur Überleitungszone innerhalb der Sonatenexposition: »Transition suggests a normative, rhetorical energy-gain, a passage of rhythmic verve and increased harmonic action, driving toward and finally accomplishing the medial Caesura«, 6 und »The most normative characteristic of transition within Allegro compositions is energy-gain driving toward a medial caesura.« 7 An beiden Textstellen wird der Aspekt der Energiezunahme im Verlauf der Überleitung hervorgehoben. Ihr gegenüber wird die harmonische Modulation bloß als Option erwähnt: »In the paradigm presented by Sonata Theory, however, modulation is an optional aspect of transition-activity, an option not selected in some transitional zones.« 8 Letzteres trifft im Besonderen auf die Orchesterexpositionen in klassischen Solokonzerten sowie auf Reprisen zu.
Gegenüber dem gängigen Verständnis, dass die Funktion der Überleitung die Modulation in die Seitensatztonart sei, nehmen wir zur Kenntnis, dass es neben der harmonischen Modulation das rhythmische Übersetzen auf ein höheres Energielevel ist, was die Überleitung charakterisiert. In gewissen Fällen verbleibt gar nur das rhythmische Übersetzen! Auch nach Charles Rosen besteht die zentrale Anforderung an eine Sonatenexposition neben der Modulation in der rhythmischen Intensivierung: »Der erste Abschnitt, die Exposition, enthält zwei Ereignisse, nämlich die Bewegung oder Modulation zur Dominante und eine Schlusskadenz auf der Dominante. Beide Ereignisse sind durch stärkere rhythmische Belebung gekennzeichnet.« 9 In seinem Buch Nachdenken über Musik 10 weist der Pianist Alfred Brendel darauf hin, dass Verkürzung und Verdichtung treibende Kräfte in Beethovens Sonatenformen seien und somit zu den Grundprinzipen von dessen musikalischem Denken gehören. Diese Beschreibung bringt es auf den Punkt, allerdings beschränkt Brendel die Aussage auf Beethovens Klaviersonaten und bezieht sie nicht allgemein auf den Sonatensatz, obwohl er als Interpret das verkürzende und verdichtende Prinzip weit über Beethoven hinaus mit Erfolg anwendet.
In den genannten Texten wird die rhythmische Intensivierung im Verlauf der thematisch locker gefügten und tonartlich modulierenden Zone als Charakteristikum der Überleitung einer Sonatenexposition hervorgehoben, allerdings ohne das Phänomen zu systematisieren. Rosen spricht darüber hinaus sogar von einer erneuten rhythmischen Intensivierung auf die Schlusskadenz der Exposition hin, 11 während Alfred Brendel die Sonatenexposition insgesamt als eine Kombination unterschiedlicher Verkürzungsvorgänge auffasst. 12
In Expositionen von Sonatensätzen aus der Zeit der Wiener Klassik wechselt das musikalische Geschehen im zeitlichen und formalen Ablauf zwischen verschiedenen Bewegungsgestalten. Rosen weist darauf hin, dass das Zusammenstoßen von extremen Gegensätzen und verschiedenen Themen auf engem Raum einen Stil erfordere, der dazwischen vermitteln könne. Diesen Übergangs- oder Vermittlungsstil habe das späte 18. Jahrhundert geschaffen. Eines der häufigsten Verfahren der Klassik habe darin bestanden, den schnelleren Rhythmus zunächst in der Begleitung und erst einige Takte später in der Hauptstimme einzuführen, wodurch sich die Nahtstellen derart glätteten, dass kein Bruch mehr spürbar wäre. Als Beispiel führt Rosen zwei Eckpunkte aus der Exposition von Beethovens 4. Klavierkonzert an und erläutert, dass man in der Eröffnung zwei lange Schläge pro Takt wahrnehme (Abb. 3), aber am Ende der Exposition (T. 152f.) acht kurze Schläge pro Takt höre (Abb. 4), weil die Sforzati auf den unbetonten Achtelnoten den Puls von vier auf acht verdoppeln.
Im Laufe des Satzes erfolgt der Übergang von zwei zu acht Schlägen völlig unmerklich. […] Man empfindet die Bewegung von einem Rhythmus zum anderen als Übergang und nicht als Kontrast. Das Gefühl ungebrochener Kontinuität wird nicht allein dadurch geschaffen, dass der schnellere Rhythmus in einer Neben- oder Begleitstimme eingeführt wird, um seinen Eintritt auf diese Weise weniger bemerkbar zu machen, oder durch subtile Phrasierungsnuancen [...], sondern auch durch Akzentsetzung und harmonische Mittel. 13
Auf diese Weise scheint jedes Thema aus dem vorhergehenden zu erwachsen, seine eigene Identität zu entwickeln und dennoch in Beziehung zum Ganzen zu bleiben.

Abbildung 3 Ludwig van Beethoven, 1. Satz, Allegro moderato, aus dem Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur, op. 58, T. 1f.

Abbildung 4 Ludwig van Beethoven, 1. Satz, Allegro moderato, aus dem Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur, op. 58, T. 152f.
Haydn, Mozart und Beethoven ist es nicht nur gelungen, musikalische Themen zu erfinden und zwischen ihnen zu vermitteln, sondern auch, diese in eine folgerichtige Anordnung zu bringen. Sie haben verstanden, dass sich Form als zeitlich vorwärts gerichtete Perspektive in der Musik realisieren lässt, als Spannungszuwachs aus der Aufeinanderfolge von rhythmisch präzis gesetzten thematischen Gestalten. Inwiefern diese Komponisten damit sensibel auf das Zeitgeschehen reagierten, kann hier nicht weiter vertieft werden. Fest steht, dass die Beschleunigung der musikalischen Bewegung in ihrer Wirkung auch jenseits des Entstehungszeitraums der jeweiligen Werke einem Spannungszuwachs, einem Erwachen, einer Vergegenwärtigung oder gar einer körperlich spürbaren Aktivierung gleichkommt.
Haydns frühe Klaviersonaten Hob XVI:1–14
Zur Überprüfung des bisher Festgehaltenen soll ein Blick in die Expositionen von Haydns ersten vierzehn Klaviersonaten aus den Jahren 1760–1767 geworfen werden. Die Beschränkung auf diese Werkgruppe erklärt sich daraus, dass mit den Sonaten Nr. 15–17 eine Trias folgt, die nicht sicher Haydn zuzuordnen ist und somit für die vorliegende Fragestellung entfällt. Die Durchsicht der frühen Sonaten zeigt beispielhaft, wie sich Haydn mit den Wirkungsweisen der aufeinandertreffenden Kräfte innerhalb der Exposition auseinandergesetzt, sie spielerisch erprobt und gebändigt hat.
Die Exposition der Klaviersonate C-Dur, Hob XVI:7, ist mit einem Umfang von zehn Takten die kürzeste (Abb. 5). Sie scheint ohne eigentliche Themen auszukommen und gleicht auf den ersten Blick einem höchst rudimentären Entwurf. Diese Exposition beschreibt den für einen Sonatensatz unabdingbaren Weg von der Grundtonart zur authentischen Kadenz in der Dominanttonart (T. 10). Nicht weniger bemerkenswert, vollzieht sich darüber hinaus im engen Raum dieser wenigen Takte die typische rhythmische Belebung in Form einer Vervierfachung des inneren Pulses.

Abbildung 5 Joseph Haydn, 1. Satz, Allegro moderato, aus der Sonate Nr. 7 in C-Dur, Hob XVI:7.
Die Dominante auf dem unbetonten zweiten Viertel in Takt 1 steht im Schatten des betonten ersten Viertels und wird deswegen leichter gespielt, wodurch der implizite Puls den gesamten Zweivierteltakt umgreift. Die Beschleunigung auf einen Puls in Viertelnoten vollzieht sich über mehrere Stufen: in Takt 3 durch die Einführung der Achtelbewegung, in Takt 4 aufgrund des Harmoniewechsels in der Taktmitte, unterstützt durch die Richtungsänderung im Bass, in Takt 5 aufgrund des Texturwechsels und in Takt 6 aufgrund der Dissonanzen und deren Auflösungen in der Oberstimme. Die Beschleunigung hin zum Achtelpuls zeichnet sich bereits in Takt 6 ab, erfolgt aber erst vollständig in den Takten 7 und 9 durch die Harmonisierung in Achteln und in Takt 8 auf der Basis eines verborgenen Achtelgangs der Oberstimme (d 2 –g 2 –fis 2 –c 3) mit den intensivierenden Mitteln von Antizipation und Repetition. In diesen wenigen Takten ereignet sich, ebenso wie in der ersten Sonate, in aller Raffinesse eine innere Beschleunigung vom Halbe- über den Viertel- zum Achtelpuls, also eine Vervierfachung des inneren Tempos.
Lässt sich daraus vermuten, dass das Wesen der Sonatenexpositionen aus der Feder der Wiener Klassiker in dem ereignishaften Zusammenfallen von Modulation und rhythmischer Transformation besteht? Während im barocken Suitensatz dieselbe harmonische Bewegung stattfinden kann wie im klassischen Sonatensatz, bleibt im Suitensatz das innere Tempo im Ausgangsaffekt und -tempo durchweg erhalten. Durch die Verbindung zweier Umwandlungsprozesse auf harmonischer wie auf rhythmischer Ebene ist dagegen die frühklassische Sonatenexposition als mehrschichtiges Ereignis, einem Drama vergleichbar, geformt. Diese Differenz hat schon Rosen beschrieben: »Der Unterschied zwischen der barocken Bewegung zur Dominante und der klassischen Modulation ist nicht allein ein gradueller, denn der klassische Stil dramatisiert diese Bewegung dergestalt, dass sie nicht nur ein Bewegungsantrieb, sondern ein Ereignis darstellt.« 14 Knapper, subtiler und geistreicher als in Haydns Sonate Nr. 7 ist diese Verwandlung innerhalb von nur zehn Takten kaum zu leisten!
Die ebenso knapp gefasste Durchführung dieses Sonatensatzes changiert mehrfach zwischen den Ebenen von Halbe- und Achtelpuls, bevor die Reprise (ab T. 17) jene aus der Exposition vertraute Energiesteigerung von neuem durchmisst.
Mit der Betrachtung der Durchführungen sowohl der ersten als auch der siebten Sonate sind bereits die beiden grundlegenden Gestaltungsweisen, wie sie in der Gruppe der frühesten Haydnsonaten auftreten, beschrieben: Entweder – und dies ist mehrheitlich zu beobachten – ist die Durchführung entlang eines gerichteten Prozesses, analog der Exposition, als Verkürzung gestaltet – und überbietet diese gelegentlich sogar noch (wie in Sonate Nr. 1) –, oder sie ist als ein Hin- und Herpendeln zwischen den Extremen (wie in den Sonaten Nr. 7 und 8) angelegt. 15
Während der Exposition des Kopfsatzes von Haydns Sonate Nr. 1 formal ein Ablauf mit insgesamt fünf verschiedenen Zonen zugrunde liegt (bestehend aus drei thematischen Gedanken und zwei vermittelnden Zonen, um den Prozess der mehrfachen Beschleunigung zu verdeutlichen), konzentriert sich Haydn in der Sonate Nr. 7 auf die zweifache Halbierung der inneren Bewegungseinheiten. Man könnte das Allegro moderato der Sonate Nr. 7 in diesem Licht als einen radikalen Versuch auffassen, dem Wesen der Exposition aus der Perspektive des Rhythmischen auf den Grund zu gehen. Mit diesen beiden Sonaten sind freilich zwei Extreme benannt, zwischen denen Haydn im Zuge eines vielschichtigen Aneignungsprozesses stets neue Lösungen ausprobiert.
Experimentierfeld Exposition
Die Sonaten Nr. 4 und 9 stellen, neben dem parallelen Ereignis von Modulation und rhythmischer Belebung, zwei tragende Gedanken einander gegenüber: einen Ausgangsgedanken in der Tonika und einen kontrastierenden Schlussgedanken (oder eine Schlusskadenz) auf der Dominante. In diesen zwei Sonaten beschleunigt Haydn das innere Tempo in der Überleitung jeweils um eine Stufe, in der vierten Sonate von der Halben auf die Viertel, in der neunten Sonate von der Viertel auf die Achtel (hier ausgelöst durch die ausnotierten Verzierungen ab Takt 8). Da weitere formale Zonen fehlen, verzichtet Haydn auf eine noch stärkere innere Beschleunigung.
Bei den Sonaten Nr. 3, 8, 12 und 13 ist die Abfolge von Hauptgedanken, übersetzender Modulation und Nebengendanken zusätzlich um einen Schlussgedanken bereichert. In diesen Sonaten wird die rhythmische Ebene nur einmal verlassen, also nur auf die Verdoppelung der Anfangsbewegung hin.
Die mit Abstand größte Gruppe der frühen Sonaten (Nr. 1, 2, 5, 6, 10, 11 und 14) fügt zusätzlich zu diesem Modell von Haupt-, Neben- und Schlussgedanken mit Überleitung auf die Oberquinttonart eine weitere Zone ein, die der nachträglichen Infragestellung der Seitentonart dient. Wie schon im Kopfsatz der Sonate Nr. 1 (ab T. 12) gesehen, wird die Dominanttonart G-Dur an dieser Stelle zuerst durch die Setzung des Leittons fis 2 bekräftigt, bevor sie zwei Viertel später mit dem f 2 temporär geschwächt wird, ehe im folgenden Takt ein erneutes fis 2 die Situation definitiv klärt und die vollständige authentische Kadenz in G-Dur ankündigt. Für diese Zone der punktuellen Unsicherheit und des Suchens nach der Zieltonalität hat Haydn wiederholt einen eigenen Formteil, eine Zone der Erörterung der Seitensatztonart eingerichtet.
Besonders eindrücklich lässt sich diese Infragestellung in der Sonate Nr. 5 in A-Dur 16 nachvollziehen. Unmittelbar nach dem Ende des Seitenthemas in E-Dur in Takt 37 werden die Vorzeichen gewechselt (Abb. 6). Das Hinüberwechseln in die Varianttonart erlaubt eine großangelegte Quintfallsequenz, in der der harmonische Rhythmus erneut auf die Halbtaktigkeit verkürzt wird (bei fast gleichbleibender ganztaktiger Motivik), ehe in Takt 49 die ursprüngliche A-Dur-Vorzeichnung wiederkehrt und die Musik sich auf die ursprünglich erwartete Schlusskadenz in E-Dur (T. 60) zubewegt. Basiert das Seitenthema (T. 30ff.) noch ganz auf dem Viertelpuls (Halbtaktigkeit), so dominiert mit der Rückkehr zur Dur-Tonalität, endgültig aber mit der Schlusskadenz in den letzten drei Takten, der Achtelpuls.

Abbildung 6 Joseph Haydn, 1. Satz, Allegro, aus der Sonate Nr. 5 A-Dur, Hob XVI:5
In der darauffolgenden, zweifelsfrei Haydn zugeschriebenen Sonate Nr. 6 in G-Dur findet sich nach dem Seitenthema mit Vermollung in die Varianttonart (ab T. 14) eine analoge Zone der Infragestellung (Abb. 7). 17 Dazu werden in diesem Allegro die Vorzeichen aber nicht mehr geändert, kein großangelegter Quintfall wird bemüht, lediglich die lokalen Versetzungszeichen belegen die innere Unruhe, ehe die Musik ab Takt 17 umso kräftiger zu einem strahlenden Abschluss in D-Dur findet.

Abbildung 7 Joseph Haydn, 1. Satz, Allegro, aus der Sonate Nr. 6 G-Dur, Hob XVI:6
Angesichts der Klaviersonaten Nr. 1 bis 14 wird nachvollziehbar, wie Haydn in den frühen Sonatensätzen die Kräfte in der Exposition erforschte. Er komponierte Expositionen ohne Seitengedanken, solche mit direkter Schlussgruppe nach den Seitengedanken oder mit Schlüssen, die unmittelbar auf die Überleitung folgten. Immer wieder suchte er nach frischen Maßnahmen, um den Schritt zur Dominante mit einer rhythmischen Veränderung als formales Ereignis erscheinen zu lassen.
Damit fand Haydn zu einem qualitativ neuen Verständnis der Sonate als Form und Prozess gegenüber der barocken Sonate. Er erprobte in der Exposition des Sonatensatzes den Ausgleich zwischen den Kräften von thematischen Einheiten gegenüber freieren Zonen, von harmonisch stabilen im Gegensatz zu überleitenden und insbesondere solchen mit befragendem Charakter – alles stets im Kontext einer gerichteten Zeitgestaltung. Haydns variables Konzept der Exposition eines Sonatensatzes führte in den ersten 14 Klaviersonaten zu unterschiedlichen Bauplänen mit einer freien Anzahl von Formteilen. Rosen schreibt, dass »zur Artikulierung dieser Ereignisse der Komponist beliebig viele Melodien verwendet.« 18 Daraus lässt sich eine Freiheit im Verfügen über das musikalische Material erkennen. Haydn legt einen erfrischend unverkrampften Umgang im Aufbau von Expositionen an den Tag. Letztlich interessierte er sich wohl für den kommunikativen Prozess, den ein einmal gesetztes Motiv, Motto oder Thema auszulösen vermag, und für die Perspektiven, die sich daraus ergeben oder aufdrängen. Von seinem Biografen Georg August Griesinger wird er zitiert: »[I]ch konnte [...] Versuche machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt, und was ihn schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen. Niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen und so mußte ich original werden.« 19
Tabelle 1 veranschaulicht, wie sich Haydn in seinen 14 frühen Klaviersonaten die Exposition der Sonatensatzform zu eigen machte und dabei den Gestaltungsspielraum für die Funktionen der unterschiedlichen Zonen erkundete. Die Zahlen in der Tabelle entsprechen den Taktzahlen, die grau unterlegten Felder bezeichnen Teile, die Haydn ausließ und damit einem rudimentäreren Aufbau Raum verschaffte.
Sonate Nr.
|
1. Gedanke
|
Überleitung Modulation, rhythm. Beschleunigung |
2. Gedanke
|
Infragestellung der
|
3. Gedanke
|
1 in C
|
1–3
|
4–7
|
8–11
|
12–15,1
|
15,2–17
|
2 in B
|
1–10
|
11–30
|
31-43
|
44–48,1
|
48,2–61
|
3 in C
|
1–12
|
13–26
|
27–34,1
|
|
34,2–36
|
4 in D
|
1–7
|
8–14,1
|
|
|
14,2–19
|
5 in A
|
1–15
|
16–29
|
30–37
|
38–60,1
|
60,2–62
|
6 in G
|
1–4
|
5–10, 3
|
10,4–14,3
|
14,4–16,3
|
16,4–18
|
7 in C
|
1–5,1
|
5,2–10
|
|
|
(9–10)
|
8 in G
|
1–4
|
5–8,1
|
8,2–14,1
|
|
14,2–16
|
9 in F
|
1–4
|
5–11
|
|
|
12–15
|
10 in C
|
1–4
|
5–8
|
9–12
|
13–16,1
|
16,2–21
|
11 in G
|
1–7
|
8–16
|
17–20
|
20–24,1
|
24,2–28
|
12 in A
|
1–4
|
5–11,1
|
11,2–18.25
|
|
18.25–20
|
13 in E
|
1–4
|
5–12
|
|
13–22
|
23–30
|
14 in D
|
1–8
|
9–24, 1
|
24,2–28,1
|
28,2–32,1
|
32,2–36
|
Tabelle 1 Überblick über die Formteile in den Expositionen der ersten 14 Klaviersonaten Haydns.
Zusammenfassend ist zu vermuten, dass sich für Haydn die Gestaltung der Expositionen aus den Möglichkeiten eines einmal gewählten Ausgangsmaterials ergeben haben. Was für das Streichquartett op. 33 Nr. 1, 1. Satz formuliert worden ist, gilt nicht weniger auch für die früheren Klaviersonaten:
Die individuelle Gestaltung der Sonatensatzform ist Träger einer spezifisch kompositorischen Idee, die anknüpft an das Spiel mit dem Hörer/Spieler. Der formale Aufbau reagiert auf die komponierte und unerwartet abgelenkte Erwartungshaltung auf der melodischen wie harmonischen Ebene. [...] Der davon ausgehende Prozess in seiner formalen Erscheinung ist ein ständiges Reflektieren dieses kompositorischen Ausgangspunktes und ›überbietet‹ in mehrfacher Hinsicht die anfängliche Pointe des Satzanfangs. Die Sonatenform realisiert sich als syntaktisches Gebilde, das aus der Ausgangsidee immer wieder neue Konsequenzen zieht und systematisch den Horizont des Hörers in seinem konzentrierten Verfolgen des musikalischen Geschehens einbezieht. 20
Das mehrfache Überbieten eines Ausgangszustandes wird zur Basis eines kommunikativen Aktes zwischen Spielerin und Hörer. So wird die Exposition als Ort der Erprobung und des Spiels der Kräfteverhältnisse in immer neuen Ausprägungen reflektiert.
Exposition und rhythmische Entwicklung
Nachdem sich aus der Betrachtung von Haydns frühen Klaviersonaten ein Bild ergeben hat, das geprägt ist von einer gewissen Offenheit im formalen Aufbau, stellt sich die Frage, was dies für die Ausprägung der rhythmisch-energetischen Komponente bedeutet.
Die Eröffnungssätze von Haydns frühen Klaviersonaten stehen alle in Dur und in einer geraden Taktart. Der zweite Gedanke erscheint durchwegs auf einem rhythmisch höheren Bewegungsniveau gegenüber dem Hauptgedanken, die Übersetzung auf die rhythmisch höhere Ebene erfolgt in der Überleitung. Wenn der Schlussgruppe ein Seitengedanke vorausgegangen ist, steht auch die Schlussgruppe in einer wiederum entsprechend verkürzten Bewegung, weil analog zur Überleitung auch der zweite Gedanke einer Infragestellung unterzogen werden kann, bevor die Schlussgruppe mit dem höchstem Bewegungsgrad folgt. Damit wird nachvollziehbar, dass Haydn bereits in frühen Jahren ein Konzept der Sonate entwickelt, das sowohl die Bewegung zur Oberquinttonart als auch das Erreichen der Schlussgruppe/-kadenz jeweils als ein rhythmisches Ereignis ausgestaltet und dergestalt dem Formverlauf eine insgesamt dramatisierende Wirkung abgewinnt.
Nicht jede Sonatenexposition muss diesem Modell folgen. So unterliegen insbesondere die auskomponierten Expositionen Haydns, wie beispielweise diejenige der D-Dur Sonate Hob XVI:51, und viele der Sinfonien Mozarts weniger dem Druck, schon in der Exposition eine Entwicklung zum Abschluss zu bringen, weil die fehlenden Wiederholungszeichen auch keine Wiederholung der Exposition einfordern. Allerdings bietet sich das hier entwickelte Modell für die Analyse, die Interpretation, das bessere Verständnis und die Beschreibung der Sonatenexposition an. Erst einmal darauf sensibilisiert, erkennt man, wie hervorragend sich die entwickelten Kriterien für eine begriffliche Klärung in der Analyse und damit für die Interpretation eignen. In aller Prägnanz wird einsichtig, wo eine Überleitung beginnt und wieweit sie sich spannt, wo ein Seitenthema einsetzt, welche Entwicklung eine Infragestellung durchmisst oder wann genau die Schlussgruppe einsetzt. Damit bereichert dieses Modell die bekannten und bisherigen Analysemethoden. Inwiefern ein Komponist in einem konkreten Werk alle diese Zonen einbezieht, zeigt sich im Einzelfall. Dieses Modell dient als Verständnishilfe, um die inneren Kräfte der Musik nachvollziehbar zu machen, niemals darf es als Norm für jedes einzelne Stück missverstanden werden.
Hepokoski und Darcy sprechen im Zusammenhang der Überleitungszone von einer »series of energy-gaining modules«, also einer Folge von energiegewinnenden Bausteinen, die zur energetisch höheren Ebene der zweiten Motivgruppe hinführt (Abb. 8). 21 Obwohl das höhere Niveau des Seitensatzes in der Grafik lediglich das Quintverhältnis, also die Differenz im Tonartlichen, veranschaulicht, lässt sich damit doch auch ein Unterschied hinsichtlich des Rhythmisch-Metrischen verbinden, indem der Seitensatz als Ganzes auf einer höheren Ebene steht als der Hauptsatz.

Abbildung 8 Grafik zu »the Essential Expositional Trajectory« aus: Hepokoski/Darcy, S. 17.
Mit dem Begriff »Relaunch« für den zweiten Gedanken bezeichnen Hepokoski und Darcy ein Phänomen, das sie in der Folge leider nicht weiter beleuchtet haben. 22 Oft reagieren an dieser Stelle Interpretierende mit einem leichten Nachgeben im Tempo. Denn nach dem Aufstieg vom Ausgangstempo auf die Ebene des doppelt so schnellen inneren Tempos des Seitenthemas kann sich Erschöpfung breitmachen, was mit einer Verlangsamung des oft liedhaft empfundenen Seitenthemas einhergehen kann. Eine solche Beruhigung widerspricht dabei nicht dem Anstieg insgesamt, sondern markiert vielmehr eine Zäsur, um nicht allzu atemlos und eindimensional in eine einzige Richtung zu eilen. Allerdings wird im Zuge der vorliegenden Untersuchung deutlich, dass dieser Neigung zur Temporeduktion mit Bedacht zu begegnen ist, um nicht die komponierte Dynamik der Exposition aufs Spiel zu setzen. Die einmal begonnene Beschleunigung ist mit dem Erreichen des Seitensatzes in den wenigsten Fällen schon an ihr Ziel gelangt; denn analog zur »energy-gaining zone« der Überleitung erfolgt im Seitensatz oft ein analoger, sich verdichtender und intensivierender zweiter Prozess.
Der Abschluss des Seitensatzes erfolgt nach Hepokoski und Darcy durch die erste vollständige authentische Kadenz in der Seitensatztonart (»perfect authentic cadence«). 23 Danach folgt – in ihrer Terminologie – der postkadenzielle Appendix. 24 Diese reichlich summarische Beschreibung erreicht nicht den Differenzierungsgrad von Rosens Formulierung, der zufolge auch der Kadenzkreis der Seitensatztonart ebenfalls einer »stärkeren rhythmischen Belebung« unterliegt. 25 Aufgrund der bei Haydn gewonnenen Befunde darf festgehalten werden, dass auch die Zone der Erörterung der Seitensatztonart (analog zur Überleitung) mit einer »stärkeren rhythmischen Belebung« einhergeht. Die insgesamt doppelte rhythmische Übersetzung zeigt sich, einmal dafür sensibilisiert, als eine Charakteristik der Exposition, und wie noch zu zeigen sein wird, generell generell in den bedeutenden Sonaten der Wiener Klassik. Darin unterscheiden sich diese einerseits von den weniger bekannten Komponierenden ihrer eigenen Generation, und andererseits kann diese Charakteristik auch in Werken weit über die Wiener Klassik hinaus aufgespürt werden. Themengestaltungen in drei unterschiedlichen Dichtegraden sind offenkundig auch noch in spätromantischer Sonatenmusik zu finden. 26
Die Beobachtungen in Haydns Frühwerk bilden den Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen, die Werke von der Frühklassik bis in die Spätromantik im Hinblick auf deren rhythmische Verlaufsform zum Gegenstand hat. Es wird zu zeigen sein, inwiefern sich die hier gewonnenen Einsichten in komplexeren Zusammenhängen bestätigen lassen und was dies in der Konsequenz für die Interpretation bedeutet. Dies wird unter anderem auch zur Frage führen, ob und inwiefern die Wiederholung der Exposition aus rhythmischen Gründen die Musik qualitativ bereichert und welche Konsequenzen die Intensivierung innerhalb der Exposition für den Sonatensatz als Ganzes hat. Schließlich wird es auch nötig sein, auf den geistesgeschichtlichen Kontext einzugehen und die Frage zu stellen, inwiefern sich die Interpretation von Musik mit dem Anbruch der Wiener Klassik verändert haben muss.
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