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Notation. Schnittstelle zwischen Komposition, Interpretation und Analyse

von Philippe Kocher (Hg.), © 2024 Gesellschaft für Musiktheorie, Berlin

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Martin Link

Zwischen Freiheit und Intention – Zur Notation von Berios Sequenza per flauto solo

Die Geschichte der Sequenza per flauto solo beginnt zunächst mit zwei Persönlichkeiten: Luciano Berio und Severino Gazzelloni. Der berühmte Flötist schrieb an Berio in einem Brief vom 7. Juli 1958: »Vorrei che tu mi scrivessi un piccolo pezzo per ›flauto solo‹ della durata di 4 o 5 minuti da includere nel programma: Togni-Messiaen-Berio-Boulez. Questa volta te lo chiedo io! Scrivi tutto ciò che vuoi…!!!« 1 Folglich entsprach Berio der Bitte, komponierte die Sequenza per flauto solo und widmete sie Gazzelloni, der sie ebenfalls uraufführte. Dafür fertigte Berio zunächst eine Skizze mit komplexen Rhythmen an, was jedoch zu einer Komplikation führte: 2 »He originally wrote it in exceptionally fine detail (almost like Ferneyhough in the original form), but Gazzeloni could not handle it, so Berio decided to use proportional notation.« 3 Da dieses Problem nicht nur auf Gazzelloni, sondern auf eine Vielzahl an Interpretierenden zutreffen könnte, entschied sich Berio dazu, die Komposition nicht so bei Zerboni zu veröffentlichen, sondern den Rhythmus vorher zu ›vereinfachen‹. Dies bedeutete konkret eine Etablierung von sogenannten ›Raumteilungen‹ , die durch senkrechte Striche erkennbar sind und einen zeitlichen Abstand von ungefähr einem Schlag im Tempo 70 M.M. darstellen (Abb. 1). 4 Innerhalb dieser Abstände ist eine Notation von Einzelnoten mit Fähnchen erkennbar, die teilweise gebalkt sind, was zur Folge hat, dass die genaue rhythmische Justierung der Achtelnoten im Metrum offengelassen wird.

Dank der approximativen Notation war das Solowerk nun für viele Ausführende aufgrund einer psychologischen Flexibilität durch nicht festgelegte Rhythmik besser aufführbar. Unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung im Jahre 1958 avancierte die Sequenza per flauto solo schließlich zu einem der meistgespielten solistischen Flötenwerke der zeitgenössischen Musik und ein Jahr später kam es auch zu einer akademischen Reaktion: Der Philosoph Umberto Eco schrieb für Berios Zeitschrift Incontri Musicali den Artikel l’opera in movimento e la coscienza dell’epoca, in dem er Erscheinungen der offenen Form als ›Kunstwerke in Bewegung‹ (opera in movimento) in ihrer epistemologischen Qualität analysierte. 5 Der Artikel listet nebst Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI und Henri Pousseurs Scambi wurde auch Berios Sequenza per flauto solo auf und wurde anschließend Teil von Ecos berühmter, folgenreicher Publikation Opera aperta, die 1977 in Deutschland mit dem Titel Das offene Kunstwerk erschien. 6 Doch für die Sequenza per flauto solo sollte es nicht dabei bleiben.

Abbildung 1 Erste Takte der Sequenza per flauto solo von 1958 mit senkrechten Strichen als Kennzeichnung der Raumteilungen. Foto: http://musiki.org.ar/Luciano_Berio (12.2.20), © by Sugarmusic S.p.A. – Edizioni Suvini Zerboni, Milano.

Die Revidierung

Sechs Jahre nach Ecos Aufsatz schrieb Luciano Berio einen Brief an Aurèle Nicolet, in dem deutlich wurde, wie sehr er von einigen Interpretationen der Sequenza per flauto solo aufgrund ›unpräziser‹ Rhythmik irritiert war. 7 Dabei bezog er sich auch auf Nicolets Aufnahme und bemängelte zwar nicht die Geschwindigkeit an sich, allerdings die Verhältnisse der Raumteilungen innerhalb des selbst gewählten Grundmetrums. 8 In einem Interview mit Rossana Dalmonte sprach Berio die Problematik nochmals an und ließ dabei auch das persönliche Ärgernis deutlich hervortreten:

The piece is very difficult, and I therefore adopted a notation that was very precise, but allowed a margin of flexibility in order that the player might have the freedom – psychological rather than musical – to adapt the piece here and there to his technical stature. But instead, this notation has allowed many players – none of them by any means shining examples of professional integrity – to perpetrate adaptions that were little short of piratical. In fact, I hope to rewrite Sequenza I in rhythmic notation: maybe it will be less “open” and more authoritarian, but at least it will be reliable. 9

Zwar sollte es noch mehr als zwanzig Jahre dauern, bis Berio seinen Worten Taten folgen ließ, doch schon der Brief an Nicolet enthielt eine beigefügte revidierte Notation, die aufgrund der präzisierten Rhythmen an die frühen Skizzen erinnert und eine genaue 2/8-Taktierung aufweist (Abb. 2).

Abbildung 2 Auszug aus der Skizze, die Berio im Brief an Aurèle Nicolet beilegte. 10 Foto: Gartmann 2000, 613; © 2000 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.

Nach dieser an Nicolet übermittelten Korrektur nahm Berio wieder die komplexe erste Skizze, die vor der Version von 1958 angefertigt wurde, zur Hand und simplifizierte erneut den Rhythmus, wie er selber äußerte: »I eliminated some excess of complexity«. 11 1992 war es schließlich soweit, und die zweite offizielle Fassung konnte als Sequenza I bei Universal Edition publiziert werden. Dies geschah notabene ohne durchgehende 2/8-Metrik, jedoch mit präzisierten Rhythmen, sodass womöglich Missverständnisse von nun an der Vergangenheit angehörten (Abb. 3).

Abbildung 3 Neue Fassung der Sequenza per flauto solo als Sequenza I ohne Raumteilungen und mit präzisierter Rhythmik. Foto: https://www.stretta-music.com/berio-sequenza-i-fuer-floete-1958-nr-124058.html (2.3.2020), © by Sugarmusic S.p.A. – Edizioni Suvini Zerboni, Milano.

Aber auch für Eco gab es einiges zu klären, da die in seinem Aufsatz angepriesene offene Notation in der neuen Fassung von 1992 nicht mehr vorhanden war. Bezüglich dieser Angelegenheit äußerte sich Berio mit folgenden Worten: »E spero che Umberto Eco mi pardonerà…« 12 Gemeint war die Tatsache, dass die Sequenza per flauto solo in die vielseitigen Diskussionen der offenen Form geraten war und die neue Sequenza I sich diesen nun anscheinend entzog. So stellt sich an diesem Punkt unmittelbar die Frage, ob es sich um ein bloßes Missverständnis und eine Überbewertung durch Eco handelte oder ob Eco für die Bezeichnung der Sequenza als ›bewegtes Kunstwerk‹ womöglich doch gute Gründe gehabt haben könnte. Um diese Problematik zu klären, bietet es sich zunächst an, die beiden Fassungen des Solowerks miteinander zu vergleichen. 13

Vergleich der beiden Fassungen

Dass sich Berio bei einem Schaffensprozess überhaupt mit Notation auseinandersetzte, war keineswegs selbstverständlich, wie er in einem Interview mit Benedict Weisser anmerkte: »Usually, I’m not concerned with notation itself. When I’m concerned, that means that there’s a problem. The issue of notation comes out, at least in my own musical perspective, when there is a dilemma, when there is a problem to be solved. And that pushes me to find solutions that maybe I was never pushed to find before.« 14 Das von Berio angesprochene Problem bezieht sich auf die vorhin erwähnte Tatsache, dass Gazzelloni Schwierigkeiten mit der Rhythmik der ersten Skizze hatte. Doch wie die Flötistin Claudia Anderson berichtet, blieben auch in der Sequenza per flauto solo von 1958 Erschwernisse bestehen: »Tension arises, when performers strain to maintain the metronome pulse of 70, while simultaneously coping with notes, dynamics and articulations.« 15 In dieser Aussage spricht sie gerade einen psychologischen Effekt an, der genau dann eintritt, wenn Berios Vorschlag von 70 M.M. befolgt wird. Dort liegt aber auch ein positiver Aspekt, wie Anderson anführt: »It’s just this tension that helps create successfull performances.« 16 In einer Untersuchung konnten währenddessen Cynthia Folio und Alexander R. Brinkman feststellen, dass eine Befolgung dieses Tempos auch zwangsläufig Kompromisse mit sich bringt: In einem Vergleich mehrerer Interpretationen stellten sie fest, dass die Verhältnisse innerhalb der Raumteilungen in der ersten Phrase bei einem sehr langsamen Tempo von durchschnittlich 46,6 M.M. am genauesten umgesetzt wurden. 17 Diejenigen Aufführungen, die dagegen das Tempo von 70 M.M. am besten befolgten, machten bezüglich der Proportionen die meisten Ausnahmen. 18 Jedoch wurde ebenfalls nachgewiesen, dass bereits Gazzellonis Aufnahme mit einem Durchschnittstempo von 46,3 M.M., welche ganz am Anfang der Interpretationsgeschichte steht, von gewissen ›Freiheiten‹ Gebrauch macht. 19 Jene Interpretationen, die das Tempo von 70 M.M. am besten befolgten, traten in der Untersuchung von Folio und Brinkman außerdem durch besondere spieltechnische Akrobatik und Spannung hervor. 20 Das Element der Virtuosität spielt indes im gesamten Sequenza- Zyklus eine hervorgehobene Rolle und so ist es auch kaum verwunderlich, dass sich in Berios Nachlass eine undatierte Skizze Gazzellonis befindet, in der er die Spielmöglichkeiten der Flöte bei den Multiphonics in schwer und leicht durch Änderung der ersten Tonfolge Gisis–Gis zu Gis–A unterteilt (Abb. 4). 21

Abbildung 4 Abbildung 4: Multiphonics mit einfacher Umsetzung in der oberen Zeile und schwieriger in der unteren aus der »Tabelle mit Spielmöglichkeiten der Flöte«, Originalhandschrift von Severino Gazzelloni. Mappe Sequenza I, Sammlung Luciano Berio, Musikmanuskripte, Paul Sacher Stiftung Basel. Multiphonics mit einfacher Umsetzung in der oberen Zeile und schwieriger in der unteren aus der »Tabelle mit Spielmöglichkeiten der Flöte«, Originalhandschrift von Severino Gazzelloni. Mappe Sequenza I, Sammlung Luciano Berio, Musikmanuskripte, Paul Sacher Stiftung Basel.

Die revidierte Fassung von 1992 wurde in der Studie von Folio und Brinkman ebenfalls untersucht, wobei Übereinstimmungen bezüglich der Fermaten-Zeiten zwischen einer Aufnahme der 1958-Version von Harvey Sollberger aus dem Jahre 1975 und der revidierten Sequenza -Fassung gefunden wurden. 22 Daraus wird konkludiert, dass die Fermaten der 1992-Version nach Sollbergers Interpretation gestaltet sein könnten, wobei Sollberger vor dieser Aufnahme von Berio persönliche Anweisungen erhielt, die Fermaten länger auszuhalten. 23 Darüber hinaus ist laut Thomas Gartmann bei der revidierten Sequenza I durchaus von einer optischen Erleichterung die Rede, weil beispielsweise durch Balkung Töne zusammengefasst werden, die durch Überblasen erzeugt werden können, oder auch von Crescendi, die durch neue Strukturierung besser in den Kontext von Quintolen passen. 24 Ebenso kann im Rhythmus eine neue formbildende Struktur erkannt werden, wie dies durch die Figuren mit einer Sechzehntelnote und zwei Zweiundreißigstelnoten und Zweiergruppen von Sechzehntelnoten zu sehen ist (Abb. 5). 25

Abbildung 5 Formbildende Rhythmen in der ersten Zeile der Sequenza I von 1992. Foto: https://www.stretta-music.com/berio-sequenza-i-fuer-floete-1958-nr-124058.html (2.3.2020), © by Sugarmusic S.p.A. – Edizioni Suvini Zerboni, Milano.

Schon in der Fassung von 1958 gab es optische Andeutungen, jedoch waren diese durchaus ambivalent: In der ersten Zeile sind verschiedene Abstände zwischen den Noten zu erkennen, sodass beispielsweise die ersten drei und die folgenden vier Noten als Gruppe erscheinen (Abb. 6). 26 Dabei ist mitten in der zweiten Gruppe eine Raumteilung erhalten, die leicht übersehen werden kann, weil die Interpretierenden die Gruppe der vier Noten psychologisch zusammenhängend auffassen könnten. Weiterhin sind die Abstände zwischen den einzelnen Noten minimal verschieden, sodass ein genauer Blick erforderlich ist, um die dabei entstehenden Zwischenräume auch umzusetzen. 27 Eine Forschungsarbeit aus dem Frühjahr 2020 schlägt deshalb vor, diese Spalten mit Lineal vorher auszumessen, bemerkt aber dabei, dass dies zu Einschränkung führen würde und nicht im Sinne Berios sei. 28

Abbildung 6 Abstände zwischen verschiedenen Notengruppen in der ersten Zeile der Sequenza per flauto solo von 1958. Foto: https://www.stretta-music.com/berio-sequenza-i-fuer-floete-1958-nr-124058.html (2.3.2020), © by Sugarmusic S.p.A. – Edizioni Suvini Zerboni, Milano.

Bezüglich der Fassung von 1992 konnten Folio und Brinkman unterdessen in ihrer Studie nachweisen, dass das rhythmisch präziseste Resultat der neuen Version mit der Notation von 1958 erzielt wurde. 29 Die Aufnahmen mit der revidierten Notation wirkten in der Untersuchung deshalb auch nicht ›periodischer‹ und so scheint die formbildende Kraft der neuen Notation in den Interpretationen kaum hörbar zu sein. 30 Doch auch für die Interpretierenden selber ergibt sich kein optisch wahrnehmbarer Puls, sodass dadurch auch in der Fassung von 1992 ambivalente Situationen für die Aufführung bestehen bleiben, wie Thomas Gartmann durch Analyse von Asymmetrien bereits herausstellte. 31 Berios Revidierung der Notation kann somit nicht in grosso modo als eindeutige Klärung des Rhythmus verstanden werden, weder aus Sicht des Publikums noch für die Interpretation. Einzig die an Nicolet übermittelten Takte in strenger 2/8-Metrik entschlüsseln durch ein eindeutiges Korsett den Rhythmus für die Umsetzung. 32

Abgesehen von der offenen Notationsform war dabei von Anfang an desgleichen eine andere Form von Offenheit in der Sequenza per flauto solo enthalten, wie Berio selber im Interview mit Theo Muller erklärt: »But the overall speed, the high amount of register shifts, the fact that all parameters are constantly under pressure, will automatically bring a feeling of instability, an openness which is part of the expressive quality of the work – a kind of ‘work-in-progress’ character if you want.« 33 Diese Aussage Berios erinnert an die Bemerkung von Anderson und demonstriert nochmals, wie wichtig der psychologische Aspekt in dem Werk ist. Wenn jedoch der Faktor einer hohen Geschwindigkeit aus der eben zitierten Aussage von Berio berücksichtigt wird, so sind alle Aufnahmen aus der Studie von Folio und Brinkman, die ein langsameres Tempo als 70 M.M. aufweisen, zu differenzieren. Denn in diesen Fällen wäre die von Berio erwünschte Instabilität durch unter Druck gesetzte Parameter nicht vollständig gegeben. Berio selber lies dabei in seinen Anmerkungen zur Fassung von 1958 Spielraum zu anderen Tempi, da er 70 M.M. nicht festlegte, sondern lediglich ›vorschlug‹. Im Gegensatz dazu gibt die revidierte Version ein festes Tempo durch genaue Anweisung über den ersten Takt vor und garantiert somit einen konstanten ›Tempodruck‹, der zumindest die eben erläuterte Form von instabiler Offenheit noch genauer vorgibt. Berücksichtigt man die Notwendigkeit von Berechnungen der Tonplatzierungen innerhalb der Raumteilungen in der ersten Fassung, so wird dort ein zunehmender psychischer Druck erkennbar, der in der revidierten Fassung durch ausnotierte Rhythmen zumindest etwas gemildert wird. Doch in den Bemerkungen der Interpretierenden von Folio und Brinkmans Studie gibt es diesbezüglich sich wiedersprechende Äußerungen. Roberto Fabbriciani führte diesbezüglich an: »The first edition is better because it corresponds to the original compositional thought but surely presents greater difficulty interpretatively, while the second explicit edition obviates these difficulties and supplies a path to execution that is more detailed.« 34 Harvey Sollberger, dessen Interpretation für Berio nicht unbedeutend war, erwähnt hingegen Folgendes: »The great thing about the original version was just the very fact that the player was called upon to play very precise rhythms WITHOUT all the tuplets and hair-splitting that minute subdivisions in conventional notation engender. […] I had to warn my students that this new [proportional] notation didn’t really make the piece easier to play; it just made it different.« 35

Während sich die Frage der psychologischen Schwierigkeit nicht abschließend klären lässt, wird in allen Anmerkungen der Studie klar, dass die Fassung von 1958 fast immer bevorzugt wird. 36 Der Grund, der dabei am häufigsten angeführt wird, ist die Tatsache, dass die Aufführenden eine gewisse Freiheit in der approximativen Notation empfinden und die Revision folglich als Begrenzung wirkt. Besonders deutlich formulierte dies eine anonyme Quelle: »I don’t want to be manipulated by another person’s interpretation of the work (which is, I suspect, not even Berio’s vision, but more likely that of one his student assistants).« 37 Diese empfundene Einschränkung war auch einer der Gründe, Ecos Bewertung der Sequenza per flauto solo als bewegtes Kunstwerk anzuzweifeln und deshalb rückblickend von einer Fehleinschätzung zu sprechen, was nun genauer untersucht werden soll. 38

Ein Missverständnis?

Umberto Eco leistete in seinen Ausführungen sicherlich eine deutliche Prononcierung der psychologischen Freiheit der Interpretierenden, jedoch zeigt sich in seiner Wortwahl auch eine klare Kenntnis des dialektischen Verhältnisses zwischen der Freiheit der Interpretation und den Intentionen: »Berios Sequenza , ausgeführt von zwei verschiedenen Flötisten, Stockhausen Klavierstück XI oder Pousseurs Mobiles […], werden niemals gleich aussehen, dennoch aber nicht etwas völlig Zufälliges sein. Man wird sie begreifen müssen als Realisierungen einer stark individualisierten Formativität , deren Voraussetzungen in den vom Künstler angebotenen ursprünglichen Daten liegen.« 39

Ecos Verständnis der Sequenza per flauto solo ist stets im Zusammenhang mit dem Begriff der ›Formativität‹ zu sehen, den er von seinem Doktorvater Luigi Pareyson übernommen hat. 40 Damit ist eine ontologische Dimension des Kunstwerkes gemeint, welche sich erst in actu durch eine Handlung des Ausführenden als modo di formare manifestieren kann . 41 In diesem Sinne wird das Kunstwerk nicht mehr ausschließlich als feststehende Entität gewertet und gelangt erst in seiner Interpretation als schöpferischer Akt zur vollen Geltung. Die hierdurch angestrebte hermeneutische Überwindung einer fixierten ästhetischen Epistemologie, wie sie noch von Benedetto Croce in Italien vertreten wurde, zielt auf die direkte Wahrnehmung des Kunstwerks ab, also im Falle der Musik auch auf den zeitlichen Ablauf. 42 Gerade in dem Akt der Erfahrung liegen auch diejenigen Parameter, die für Berio in der Konzeption der Sequenza entscheidend waren, wie die Instabilität durch forcierte Parameter. Dass jene Formativität andererseits sehr wohl auch ihre Begrenzungen hat, wurde von Eco vor allem dadurch berücksichtigt, dass er den Spielraum in Anlehnung an Henri Pousseur als ›Möglichkeitsfeld‹ bezeichnet hat – also ein Raum mit klaren Abgrenzungen. 43

Rückblickend erscheint die Tatsache, dass Berio auch die revidierte Fassung als eine ›Möglichkeit‹ deklariert hat und deshalb nach wie vor auch andere Realisierungen theoretisch legitim gewesen wären, der vielleicht beste Beweis dafür zu sein, dass es sich bei Ecos Postulaten nicht um ein Missverständnis oder sogar um eine Überwertung handelte. Viele Forscher stellten fest, dass es von Anfang an ein Spektrum an möglichen Versionen gegeben hat, wovon etliche sehr positiv bewertet wurden. 44 Bisher unerwähnt ist indes der Umstand, dass Luciano Berio den gesamten Entstehungsprozess von Ecos Aufsatz, der schließlich auch in seiner eigenen Zeitung Incontri musicali erschienen ist, mitverfolgte und schlussendlich abgesegnete. 45 Die Tatsache, dass in dieser Ausgabe auch der von Pierre Boulez verfasste Artikel Alea vorlag, könnte die Überinterpretation von Berios approximativer Notation durch einige Lesende kontextuell begünstigt haben. 46 Ein Alleingang Ecos ist damit dennoch ausgeschlossen und auch eine grundsätzliche Sympathie Berios für jene Gedanken nur schwer zu leugnen, zumal sich ein unveröffentlichtes Manuskript des Aufsatzes mit Eintragungen der Lektoren in Berios Nachlass in Basel befindet. 47 Angesichts der Tatsache, dass ein Schachzug des psychologischen Entgegenkommens beachtliche epistemologische Qualitäten mit sich brachte, erscheint Berios revidierte Fassung aus dieser Sicht tatsächlich als Einschränkung, wie Benedict Weisser feststellte:

Berio may have finally achieved the original precision he sought from the very beginning, but I believe certain things were ‘lost in translation’. […] For all the control, precision and intent Berio sacrificed in the 1958 version, I am persuaded he got back something far more interesting. The subtext of the 1992 revision is that Berio feels it is now more important to have a ‘proper result’ than to have the possibility of a richer amount and variety of relationships. 48

Obwohl nachvollziehbar ist, dass bis heute viele Interpretierende dieser verschwundenen interpretativen Vielfältigkeit nachtrauern, kann die neue Fassung von 1992 auch als Bereicherung verstanden werden, da sie einige Aspekte der rhythmischen Platzierung und vor allem der Dynamik und Fermaten aufklärt. Die Studie von Folio und Brinkman hat gezeigt, dass eine kombinierte Einstudierung von beiden Fassungen für viele Aufführende in Frage kommt, da Berio schließlich durch die revidierte Fassung nicht nur eingrenzt, sondern auch neue und präzisere Informationen liefert, die für offene Fragen in der ersten Fassung verwendet werden können. 49 Der amerikanische Flötist und Musikhistoriker Douglas Worthen machte unterdessen auf die Tatsache aufmerksam, dass eine weit verbreitete reservierte Haltung gegenüber der Fassung von 1992 einerseits auf Berios eigene Reaktion zurückgeführt werden kann, aber andererseits auch für eine Renitenz der Interpretierenden der Fassung von 1958 steht, die ihre eigene Interpretation nicht anfechten wollten:

However in a caustic 1981 Intervista sulla musica interview, Berio described these performances as “excessive” and “unethical”, questioning the performing artists’ musical integrity. Perhaps for this reason, the subsequent 1992 Universal Edition revision of Sequenza I was not well received. […] What is revealed in the Brinkman-Folio interviews is that today’s performers are protective of their interpretations of the first version. Though the implication of their essay is that we might document a comparison of the performances of the two versions, the new version doesn’t stand a chance, having been used by Sophie Cherrier alone. Most have been praised for their creativity and dexterity in these interpretations, and are unwilling to detach themselves from these performances, even in the face of new information from the composer himself. […] The new edition may not be popular with today’s performers, but Berio thought it was improvement. That should be reason enough to establish its value for flutists who have not yet rigidified their interpretations. 50

Das dieser ganzen Sequenza- Problematik zugrunde liegende Problem des Kontrollverlustes innerhalb der offenen Form sprach der Musiktheoretiker Konrad Boehmer in seiner Dissertation Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik fast zehn Jahre nach Erscheinen der Sequenza per flauto solo aus und bezog sich dabei explizit auf das Œuvre Luciano Berios, nämlich auf die aleatorischen Felder der Komposition Circles . 51 Auch wenn die Erfahrungen mit der offenen Form nicht immer zufriedenstellend waren, sollte Luciano Berio dessen ungeachtet noch oft von approximativen Notationsformen Gebrauch machen, wie z.B. in der Partitur von Epiphanies trotz einer Änderung der offenen Großform erhalten geblieben sind. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit für die Interpretation auf der einen Seite und Intention des Autors auf der anderen zeigt dabei, wie vorsichtig und gut überlegt die Grenzen auf dem Möglichkeitsfeld gezogen werden müssen, um ähnliche Missverständnisse wie bei Berio zu vermeiden. Ungeachtet dieser Problematik bleibt die approximative Notation der Sequenza per flauto sowohl als Warnhinweis für ihre Grenzen als auch als kleine Exemplifizierung der europäischen Praxis der offenen Form bestehen, ganz gemäß des Vergil-Zitats: »Si parva licet componere magnis.« 52

Literatur

  • Berio, Luciano (1958), Sequenza per flauto solo, Mailand: Zerboni, S. 5531 Z.
  • Berio, Luciano (2007), Intervista sulla musica [1981] , hg. von Rossana Dalmonte, Rom: Laterza.
  • Berio, Luciano (2009), Two Interviews with Rossana Dalmonte and Bálint András Varga [1985] , hg. von David Osmond-Smith, London: Boyars.
  • Boehmer, Konrad (1967), Zur Theorie der offenen Form in der neuen Musik, Darmstadt: Tonos.
  • Boulez, Pierre (1959), »Alea« in: Incontri Musicali Nr. 3 , Mailand: Zerboni, 3–15.
  • De Benedictis, Angela Ida (2014), »Indeterminancy and Open Form in the United States and in Europe: Freedom from Control vs. Control of Freedom« in: Crosscurrents – American and European Music in Interaction, 1900–2000, hg. von Felix Meyer, Carol J. Oja, Wolfgang Rathert und Anne C. Shreffler, Woodbridge : Boydell & Brewer, 411–424.
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