Jenseits von Funktion und Konstrukt Teil 1
Ergänzungen zu Albert Simons Theorie der Tonfelder
1. Eingangsüberlegungen
Die klassische Tonfeld-Theorie nach Albert Simon in der Darstellung von Bernhard Haas sieht bekanntlich genau drei Kategorien oder Gattungen vor: Quintenfelder, (neue) Funktion und Konstrukt. 1 Die Frage, ob es mehr als diese bislang etablierten Tonfeld-Kategorien geben könne, tat sich mir erstmals auf in der Beschäftigung mit Debussys und Liszts Verwendung des Ganztonmodus, als ich nämlich verwundert entdeckte, dass mein Ohr nicht jede Ganztönigkeit als dominantisch oder »Verzerrung regulärer Tonfelder« 2 (also einer der Tonfeld-Kategorien zu- oder untergeordnet) aufzufassen vermochte. Es ist merkwürdig, dass es ausgerechnet drei Tonfeld-Kategorien geben soll, so als ob die Zahl der göttlichen Dreieinigkeit auch hier wirksam sei. 3 In der US-amerikanischen Theorie gilt ja z.B. die whole-tone collection als eine der vier prominentesten, mit den Tonfeldern verwandten, aber nicht identischen collections, die bekanntlich ohne zahlenmäßige Obergrenze geführt werden. 4
Tonfelder jenseits der von Haas definierten drei Gattungen werden nach meiner Kenntnis erstmals in Elisabeth Pütz’ Arbeit über die Klaviermusik von Franz Liszt beschrieben: 5 symmetrische und analoge Tonfelder, die sich nach Pütz weder als Funktion noch als Konstrukt deuten lassen. Unter analogen Tonfeldern werden dort solche verstanden, in denen die Töne periodisch angeordnet sind, die Oktave füllend (wie bei den sieben Messiaen-Modi), 6 unter symmetrischen solche, die einen Ton als Symmetriepunkt in der Skala und/oder in der Darstellung als Ausschnitt aus dem Quintenband aufweisen.
Die Zusammengehörigkeit von Tönen (genauer: Tonhöhenklassen) innerhalb von Tonfeldern spiegelt sich oft in deren charakteristischen Klanglichkeiten und Akkordbildungen: z.B. Quinten- und Quartengruppen in Quintenfeldern, Kleinterztrauben, α-Akkorde und deren Abkömmlinge in der Funktion, scharfe mehrfache Halbtonreibungen in den Konstrukten. Allerdings ist das Empfinden für Zusammengehörigkeit in der Musikgeschichte offenbar gravierenden Veränderungen unterworfen gewesen. Die Adhäsionskraft der Töne etwa beim Konstrukt hat sich offenbar erst in der Zeit nach 1900 ergeben; die Romantiker bis einschließlich Puccini tendieren noch dazu, vordergründige Konstrukte als einander anziehende Gegensätze 7 (›Komplementärfarben‹) und hintergründige als größtmögliche Entfernung zu komponieren (vgl. Abb. 4 und 5). Gleichwohl wäre zu untersuchen, ob nicht ein gewisser typischer Akkordbestand zum Arsenal eines bestimmten Tonfeldes gehört und so zur Klärung der Frage beitragen kann, ob ein Tonvorrat auch als Tonfeld bezeichnet werden darf.
Die hier betrachteten Kompositionen decken (von Liszt bis Reich) die Spanne eines ganzen Jahrhunderts ab, haben aber gemeinsam, dass die analysierten Tonfelder sozusagen an der Oberfläche treiben. Diese Abhandlung beschäftigt sich vorwiegend mit Tonfeldern als (Vordergrund-) Phänomenen , die möglichen Wirkungen als Konstituenten musikalischen Mittel- und Hintergrundes sollen aber immerhin skizziert werden.
2. Ganztönigkeit
Debussys Voiles aus dem ersten Band der Préludes ist über weite Strecken auskomponierte Ganztönigkeit: eine schwebende, jugendstilhafte Ornamentik, durch den langen Ankerton b gewissermaßen ›geerdet‹, zu dem sich die Motive und Bruchstücke der Oberstimmen als Teile erweiterter D7/9-Strukturen positionieren. Den hier verwendeten Modus möchte ich als Ganzton-B bezeichnen (Abb. 1).

Abbildung 1 Ganzton-A (oben) und Ganzton-B (unten).

Abbildung 2 Claude Debussy, Voiles (T. 10f. und 37ff.)
Der dominantische Charakter ergibt sich zwar aus der klanglichen Omnipräsenz der Tritoni, großen Terzen und kleinen Septimen; mitnichten jedoch handelt es sich hier um ein genuin dominantisches Tonfeld im Sinne Albert Simons, in welchem c und fis funktionsfremd wären. Der mit der erweiterten Dominante verbundenen Hörerwartung wird mit dem Umschlag in die ›Tonika‹ es-Moll in Takt 39 (notiert in es-Dorisch), man möchte fast sagen: überraschenderweise, entsprochen (Abb. 2), wenngleich das Ende qua Rückumschlag zu Ganzton-B wieder offen scheint: Es ergibt sich ein großes Pendel D–t–D. Die Ganzton-Dominante als ›dissonanter‹ Klang erstreckt sich materialiter über die volle Breite des Quintenbandes bzw. reicht einmal um den gesamten Quintenzirkel (Abb. 3); die ›konsonante‹ Tonika ist als Pentaton Ges/B komponiert: vier Quinten schmal.

Abbildung 3 Ganzton-A (oben) und Ganzton-B (unten) als Ausschnitte aus einem hypothetischen Quintenband, hier ohne enharmonische Identität dargestellt. (Auch Debussy notiert in Voiles immerhin sowohl as als auch gis .) Zudem die Pentatonik (links) als Teil desselben Quintenbandes. Mit Pfeil versehen: die Funktionsgrundtöne es und b .
Eine ähnlich grundtonbezogene Ganztönigkeit komponiert Puccini gegen Ende des zweiten Aktes der Tosca , im Anschluss an die Ermordung Scarpias durch die Titelfigur (Abb. 4). Die verebbende Haltlosigkeit dieser Musik scheint im musiktheatralischen Sinne auf das verrinnende Blut Scarpias anzuspielen. Der Ton as fungiert als in mehrere Register, v.a. aber in den Bass gesetzter Ankerton eines Ganztonfeldes.

Abbildung 4 Giacomo Puccini, Tosca , gegen Ende des 2. Aktes.
Allerdings wäre es irreführend, die hier verwendete Ganztönigkeit als verkappte Dominante zu ›labeln‹; denn die in Skalen abwärts fließenden Terzen deuten weder auf einen Klang jenseits ihrer selbst noch konstituieren sie an irgendeiner Stelle voiles- artige D7-Strukturen; dominantische Klänge ereignen sich während dieses ›auskomponierten Zusammensackens‹ höchstens noch en passant . In dieser Stelle kann zudem das Substrat einer größer strukturierten Ganztönigkeit aufgezeigt werden. 8 Das ›Scarpia-Motiv‹ erklingt hier in zwei Transpositionen: As-Dur–Ges-Dur–d-Moll und in B-Dur–As-Dur–e-Moll; zusammen ergeben die Grundtöne hier Ganzton-B minus c . Das quasi-tonikal schließende und durch die Vorzeichnung hervorgehobene fis-Moll weist ebenfalls eine Ausrichtung auf jene Ganztonachse auf. Kleinräumig betrachtet findet man, dem gerade getöteten Scarpia zugeordnet, ›finstere‹ Konstrukte (IIb und IIa – insgesamt zwölftönig: Ges/d; As/e); mittelräumig betrachtet, nämlich die Endszene des 2. Aktes konstituierend, Ganzton-B, darin wiederum kleinräumig eingebettet, die ziemlich klassisch-romantische Diatonik der Tosca in fis-Moll bei Ziffer 63, per Konstrukt IIb mit dem B-Dur des Scarpia-Motivs verklammert. Der fahle Schluss fügt dann e-Moll und cis-Moll als parallel in einer Funktion liegend vor dem Quintfall nach fis-Moll zusammen (Abb. 5).

Abbildung 5 Giacomo Puccini, Tosca , Ende des 2. Aktes, Zusammenhänge.
Weist das Tosca -Beispiel schon deutlich über die Verwendung der Ganztönigkeit in einem bloß funktionalen Sinne hinaus, so gibt es Kompositionen, denen die Ganztönigkeit geradezu ins Genom geschrieben zu sein scheint. Debussy eröffnet sein Cloches à travers les feuilles aus dem zweiten Band der Images mit einem längeren, nicht durch einen Ankerton im Bass stabilisierten Ganztonfeld im Modus Ganzton-A. Hauptton der eröffnenden Passage scheint a zu sein, das als oberer und unterer Eckton der Sechzehntel-Triolen-Bewegung gesetzt und in gewisser Hinsicht als Schwerezentrum zunächst im Bass, dann im Sopran inszeniert wird. Allerdings erweist sich g als konkurrierender Hauptton v.a. der ersten beiden Takte, in denen a noch ausgespart bleibt (Abb. 6). Der Ton g setzt sich ebenso in eine Art Septimbeziehung zu a wie das später dezent hervorgehobene h – man könnte in Takt 3ff. von einem erweiterten, auf und ab pulsierenden, schwach dominantisch behauchten Sekundakkord sprechen (g/a und a/h) . Auf allen Takteinsen ab Takt 3 finden sich große Sekunden oder Nonen relativ zum tiefst klingenden Ton: ›harmonische Ganztöne‹. Der ganze karge Reiz der Ganztönigkeit wird ausgespielt, weil Debussy eine mögliche a -Zentrierung zugunsten einer gewissen égalité der Töne verwirft (auch dis wird in Takt 5ff. gestärkt). Je nach Positionierung der Zusammenklänge treten verschiedene Töne tonal hervor (v.a. g , a , dis) . 9

Abbildung 6 Claude Debussy, Cloches à travers les feuilles , T. 2f. und T. 8f.
Debussy komponiert auch hier einen Umschlag in einen anderen ›Modus‹: nämlich (T. 9) in eine echte und relativ klassische Dominante (Es7/9), der ein noch stabileres, entdominantisiertes erweitertes grundstelliges C-Dur folgt (Abb. 6).
Eine Bezeichnung dieser Stelle als Verbindung verschiedenartiger Dominanten würde dem Farbwechsel in Takt 8f. klanglich nicht gerecht; und dies, obwohl das eröffnende Ganzton-A und Es7/9 vier gemeinsame Töne haben! Das Hinzufügen der Quinte b im Bass und der erstmalige Verzicht auf große Sekunde oder None zum Bass auf Schlag 1 macht die Fortschreitung von einem ›Akkord‹ zum nächsten (Ganzton-A zu Es7/9) glaubhaft; ebenfalls aber den Wechsel von einem Feld zum nächsten. Dies natürlich auch deswegen, weil sich weder a noch dis/es als Haupttöne von den anderen jeweils fünf Tönen emanzipieren konnten; beide spielen höchstens vorübergehend die Rolle eines jeweiligen primus inter pares . Allerdings ist die ›Strittigkeit‹ des Grundtons (hier eher: Haupt- oder Zentraltons) für Ganztönigkeiten offenbar typisch, sofern nicht einer der sechs Töne gewissermaßen durch Exposition als Orgelpunkt o.ä. herausgehoben wird. 10 Durch den erwähnten Umschlag wird der nichtdominantische Charakter des Ganztonfeldes m.E. akzentuiert. Zudem wird er unterstrichen durch die dezente Änderung der musikalischen Faktur: den Wechsel vom polyphonen, in längeren Wellen bewegten Netz zum greifbareren Akkordsatz mit Achtel-Ornamentik.

Abbildung 7 Claude Debussy, Cloches à travers les feuilles, T. 20f.
Diese Stelle erfährt bei Takt 20 eine verdichtete Wiederaufnahme (Abb. 7), insofern als der hypothetische Sekundakkord aus dem früheren Ganztonfeld auf dem ersten Schlag hör- und erfahrbar gemacht wird. Im ›Tenor‹ verwendet Debussy sein ganztöniges Anfangsmotiv, aber zwei entscheidende Halbtöne fallen deutlich auf: as/g zwischen Bass und Mittelstimme simultan 11 sowie b/ces in der Oberstimme sukzessiv. 12 Dies hat damit zu tun, dass das Anfangsmotiv natürlich Ganzton-A angehört, also nicht demjenigen Feld (Ganzton-B), mit dem hier eigentlich mit Blick auf as und b als ›Gerüsttönen‹ zu rechnen wäre. Man könnte meinen, die beiden zu Beginn distinkten Felder aus Takt 3ff. und Takt 9 seien hier ineinandergeschoben und ergeben ein ›Mischfeld‹ mit deutlichen ganztönigen Anteilen. Debussy durchwirkt den gesamten weiteren Verlauf der Komposition (eine detaillierte Analyse würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen) mit dem Tonfeld Ganzton-A, das in diesem Stück eine konstituierende, über das bloße Anfangsphänomen hinausgehende Rolle spielt.
Im Lichte dieser Untersuchungen ließe sich allerdings auch Voiles (s.o.) als reine Tonfeld-Komposition lesen: Tonfeld 1 (selbstständige Ganztönigkeit auf b ) und Tonfeld 2 (Pentatonik auf es ) treten miteinander in eine (hintergründige) Dominant-Tonika-Beziehung.
Ein weiteres prägnantes und sehr frühes Beispiel für konsequente Verwendung der Ganztönigkeit als eigenständiges Tonfeld ist Liszts späte Klavierkomposition Unstern! (Abb. 8). Dieses Ganztonfeld erscheint zunächst ›statistisch‹ als Umkehrung eines übermäßigen Terzquartakkordes (f–a–h–dis) , also eines funktional interpretierbaren Akkordes, aus dem dann allerdings die gesamte Ganztönigkeit (Modus Ganzton-A) herausfließt.

Abbildung 8 Franz Liszt, Unstern! , T. 46ff.

Abbildung 9 Modus Ganzton-A. Die im Simon’schen System funktionseigenen Töne sind mit * versehen.
Es sind wie immer in der Ganztönigkeit zwei funktionsfremde Töne vorhanden – einer von ihnen (cis!) kann aber mit Blick auf den Akkord in der rechten Hand sogar als Grundton gehört werden, was der (eher traditionellen) Auffassung von einer f - oder h -bezogenen Tonalität einen schweren Schlag versetzt. Der unerbittlich abwärts marschierende Bass trägt dazu bei, dass keiner dieser potenziellen Grundtöne genug Schwerkraft besitzt, sich als Grundton des ganzen Feldes zu etablieren.
Die harte, griffige Klanglichkeit dieser Stelle hat einen hohen ›Wiedererkennungswert‹ (und ist von Debussys sublim-eleganten Stil denkbar weit entfernt), die Ganztönigkeit liegt gewissermaßen nackt vor dem Zuhörer. Ähnliche Verwendung erfährt die Ganztönigkeit als ›erster Modus‹ bei Messiaen; hier sei bloß auf den hämmernden, unregelmäßig umherspringenden Beginn des sechsten Satzes des Quatuor pour la fin du temps verwiesen (Abb. 10). 13

Abbildung 10 Olivier Messiaen, Quatuor pour la fin du temps , 6. Satz: Danse de la fureur, pour les sept trompettes. Der Beginn steht in Ganzton-B, obgleich unvollständig ( d fehlt).
Es gibt gewisse logisch-technische Parallelen der Ganztönigkeit zum Konstrukt (Abb. 11): So kann der Tonvorrat eines Konstruktes aus zwei halbtönig versetzten übermäßigen Dreiklängen dargestellt werden, der Tonvorrat einer Ganztönigkeit (entweder Ganzton-A oder Ganzton-B) hingegen aus zwei ganztönig versetzten übermäßigen Dreiklängen, was auf eine ›tektonische‹ Ähnlichkeit dieser beiden sechstönigen Tonfelder hinweist. Die beiden Ganztonreihen sind ebenso komplementär wie die beiden Konstrukte innerhalb I oder II.

Abbildung 11 Konstrukt und Ganztönigkeit, dargestellt als Gruppen übermäßiger Dreiklänge und als Skalen.
So wird auch der Umschlag von der einen in die andere Ganztönigkeit als eine ›Vervollständigung der zwölf Töne‹ erlebt. Im ersten der Sieben frühen Lieder (Nacht) komponiert Alban Berg einen solchen Umschlag gleich dreimal in dichter Folge (Abb. 12); eine ›eindeutige‹ Richtung etwa im Sinne von authentischer oder plagaler Fortschreitung wie bei der Funktion existiert nicht, der Schritt wird in beide Richtungen (von Ganzton-A nach Ganzton-B und umgekehrt) qualitativ gleichartig gehört. Freilich: Nachgeordnet erklingen beim jeweiligen Wechsel der Ganztonmodi, die hier in übermäßigen Dreiklängen einherschreiten, sukzessive Konstrukte (IIa und IIb), eins in jeder Hand.

Abbildung 12 Alban Berg, Nacht , T. 3–5.
Auch fällt die Homogenität der Ganztönigkeit ins Auge; man ist mit Blick auf Skala und typische Akkordbildungen versucht, sie symmetrisch zu nennen. Bei den typischen Akkordbildungen fallen übermäßige Dreiklänge und D7/9-Strukturen (ohne Quinte) besonders ins Gewicht. Der Unterschied zu den möglichen typischen Akkordstrukturen der Funktion, aber auch des Konstruktes liegt auf der Hand, weil der Ganztönigkeit in Ermangelung von Quinten, kleinen Terzen und kleinen Sekunden (inklusive deren ›Umkehrungen‹) einige der wesentlichen Intervalle fehlen , aus denen Funktions- und Konstrukt-Akkorde gebaut werden. Gerade die relative Armut an verwendbaren Intervallen und Klängen macht aber den Reiz und den unverwechselbaren Charakter dieses Tonfelds aus. Schließlich scheint die schiere Häufigkeit der Ganztönigkeit in Kompositionen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ihre Qualifikation als eigenständiges Tonfeld zu rechtfertigen.
3. Die akustische Tonalität
Von der Verwandtschaft einiger Ganztonfelder mit der Funktion war schon die Rede. Das Material der Ganztönigkeit lässt eine relative Nähe zu Funktion oder Konstrukt zu; es ist Sache der Komponist*innen, diese Nähe auszukomponieren oder zu meiden. Um sowohl material- als auch kompositionsbedingte Verwandtschaften zwischen Tonfeldern geht es auch bei den ›Ausfransungen‹ des Enneatons. Das Enneaton ist das Quintenfeld mit der Breite von acht Quinten, also neun Tönen, und wird bei Haas als größtes mögliches Tonfeld beschrieben. Im Folgenden möchte ich eruieren, ob gewisse Erscheinungsformen des Enneatons nicht als eigenständige Tonfelder gelten könnten.
Die akustische Tonalität (nach Lendvai) 14 oder das diatonische Enneaton (nach Polth) 15 entspricht einer verbeulten Diatonik, in welcher die den ›Rahmen-Tritonus‹ bildenden Töne (relativ solmisiert fa und ti , hier: f und h) ausgelassen und statt dessen die entfernteren (fi und ta , hier: fis und b) angewandt werden (Abb. 13).

Abbildung 13 Akustische Tonreihe / diatonisches Enneaton.

Abbildung 14 Béla Bartók, Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug, 3. Satz, Beginn.
Der Tonvorrat zu Beginn des Finales von Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug ist der eines Enneatons B/Fis (Abb. 14). Eine solche siebentönige akustische Tonalität auf c , im Jazz als Mixo-#11 bekannt, benutzt denselben Tonvorrat wie g-Moll melodisch und ist symmetrisch um d geschart, was sowohl bei Quinten- als auch bei Skalen- Darstellung offensichtlich wird (Abb. 13). Die akustische Tonalität ist aber niemals ein vollständiges, sondern immer ein präzise beschnittenes Enneaton. Grundtönigkeit und Stabilität sind enorm, v.a. weil die Skala den natürlichen Obertönen 8–14+16 (temperiert) entspricht; dies verleiht der akustischen Tonalität oft einen tonikalen Touch. Damit unterscheidet sich dieses Tonfeld von anderen Enneatonen recht deutlich.
In seiner Analyse des ersten Satzes von La Mer beschreibt Michael Polth die Existenz zweier diatonischer Enneatone, nämlich Ces/G v.a. am Anfang und D/Ais vorwiegend am Ende des ersten Abschnitts des Hauptteils, und zeigt, dass ein Gutteil der Komposition von an verschiedenen Stellen der Komposition klanglich unterschiedlich eingesetzten diatonischen Enneatonen geprägt wird. Die klanglichen Unterschiede ergeben sich aus ihrer Stellung in Bezug auf den Basston und, teilweise, aus der Setzung in ihr Umfeld (Abb. 15): bei Ziffer 3 tonikale Erweiterung der ohnehin schon tonikalen ›Natur-Pentatonik‹ (Grundton do = des), bei Ziffer 5 ›pure‹ Herausstellung des halbverminderten Septakkordes mit subdominantischem Timbre (Grundton mi oder sol = f oder as), bei Ziffer 8 quintiger erster Höreindruck und subtile Andeutung dominantischen Charakters durch d und h im Bass (Grundton do = e). Alle drei Stellen haben einen funktionalen Anstrich. 16

Abbildung 15 Claude Debussy, La Mer , De l’aube à midi sur la Mer, Ziffern 3, 5: Enneaton Ces/G; Ziffer 8: Enneaton D/Ais. Ton g hier als Vorhalt inszeniert.
Nach Polth handelt es sich beim diatonischen Enneaton natürlich um ein Tonfeld, aber ist es auch ein eigenständiges Tonfeld? Mit der Subsummierung unter den Simon'schen Oberbegriff Enneaton entscheidet sich Polth dagegen, obwohl, wie mir scheint, gerade seine Argumentation eher das Gegenteil aufzeigt: Er weist nicht nur die strukturelle Bedeutung genau dieser sehr speziell zugeschnittenen Enneatone für die Komposition von De l’aube à midi sur la mer nach, 17 sondern beschreibt auch völlig treffend deren Nähe zu funktionellen und nicht-quintigen Tonfeldern. Die akustische Tonalität kann nämlich a) durch Ersatz eines Tons (ré) durch die zwei halbtönig benachbarten Töne in die Funktion und b) durch Ersatz zweier Töne durch einen anderen (Abb. 16, sol / la hier: g / a werden ersetzt durch as) in die Ganztönigkeit verwandelt werden. 18 Mit anderen Worten: Dieses bisher als bloße Erscheinungsform eines bestimmten Quinten feldes interpretierte Tonfeld kann als einem Tonfeld ohne jegliche Quinten benachbart gelten.

Abbildung 16 Akustische Tonreihe auf c (oben), entsprechende Funktionsskala (links unten) und Ganzton-B (rechts unten) (Tonvorräte).
Ein raffiniertes Beispiel für die Verschränkung verwandter, aber nicht identischer Tonfelder findet sich im Tanz des Feuervogels bei Ziffer 14 der gleichnamigen Komposition (Abb. 17). Sicherlich liegt eine Abschreitung eines offensichtlich dominantischen mittelgründigen Funktionsfeldes mit den Grundtönen cis , g , e , b vor, doch Strawinsky insistiert in bester Debussy-Tradition mit großen Nonen auf ›akustischen‹ D7/9-Akkorden, 19 so dass jeder Klang für sich einen Ausschnitt aus auf den Funktionsgrundtönen aufbauenden akustischen Tonalitäten darstellt. Die vorhandenen, aber entkräfteten Quinttöne der Funktion geben zudem den Blick auf die mitschwingende verschleierte Ganztönigkeit frei. Auch Skrjabins an sich recht dominantisch anmutender mystischer Akkord ist akustische Tonalität – minus Quintton (Abb. 18).

Abbildung 17 Igor Strawinsky, Der Feuervogel , 1. Bild, Ziffer 14 (Solotanz des Feuervogels), vereinfacht. Die Sequenz ab E7/9 ist fast wörtlich (nicht abgebildet).

Abbildung 18 Abbildung 18: Mystischer Akkord nach Alexander Skrjabin auf c (links). Verwandt: Akustische Tonalität (mitte) und Ganzton-B (rechts). X-Notenkopf: die im mystischen Akkord ausgelassenen Töne (g ; as ). Mystischer Akkord nach Alexander Skrjabin auf c (links). Verwandt: Akustische Tonalität (mitte) und Ganzton-B (rechts). X-Notenkopf: die im mystischen Akkord ausgelassenen Töne (g ; as ).
Der Name diatonisches Enneaton wiederum ist wohl (auch) gewählt, um die siebentönige skalare Verbundenheit mit echt-diatonischen Tonvorräten – oder mit alten diatonischen Modi wie Lydisch oder Mixolydisch – zu zeigen. 20 Ein Tonfeld jedoch, das wir als so unterschiedlichen Tonfeldern und/oder Modi benachbart hören können und das je nach Setzung diverse, tendenziell funktionale Struktur- und Klangcharakteristika aufweist und trotzdem einen hohen Wiedererkennungswert besitzt, könnte als eigenständig (auf)gewertet werden. Um diese Eigenständigkeit zu unterstreichen, ist, meine ich, der Name ›akustische Tonalität‹ vielleicht der geeignetere.
Dass die akustische Tonalität bislang nicht als eigenständiges Tonfeld diskutiert wurde, hängt wohl damit zusammen, dass es sich gerade als Tonvorrat um den Sonderfall eines Enneatons handelt. Man könnte es vielleicht als eine Art ›Schnittfeld‹ zwischen Quintigkeit und Funktion qualifizieren.
Was das Enneaton und seine Beziehung zur Funktion angeht, so sei hier zudem auf Messiaens accord sur la dominante verwiesen (Abb. 19), als dominantisch klingende Konstruktion eigentlich ein Heptaton auf dem Funktionsgrundton sol , jedoch gerne mit typischem Vorhalt (di und fi) zum Enneaton erweitert: 21 ein klar funktioneller Klang als Quintenfeld -Akkord in Tonfeld-konstituierter Musik.

Abbildung 19 Olivier Messiaen, Quatuor pour la fin du temps , 1. Satz: Liturgie de cristal , Anfangsakkorde im Klavier.
Der erste Satz des Sextetts von Steve Reich ist ein ›cycle‹ über sechs sämtlich sechstönige Akkorde, deren Folge insgesamt viermal hintereinander erklingt. Die Klänge ähneln einander, sind aber unterschiedlich strukturiert (Abb. 20). Es handelt sich bei den Klängen I–IV um Ausschnitte aus unterschiedlichen Enneatonen. Im Bass liegt aufeinander folgend der jeweils quintig höchste (I), der zentrale (II), und zweimal wieder der je quintig höchste Ton (III und IV). Der Außenstimmensatz suggeriert eine Zunahme des Konsonanzgrades (scharfe Dissonanz – milde Dissonanz – imperfekte Konsonanz – perfekte Konsonanz) und den ineinandergreifenden Zusammenhalt durch Ganzton-A, in Abbildung 20 durch * angedeutet. Man bemerke die intrinsische Ähnlichkeit von jeweils I und III sowie II und IV. Ebenfalls auffällig ist eine Konstruktionsähnlichkeit dieser Enneatone mit dem oben genannten diatonischen Enneaton, weil der jeweils quintig zweittiefste und zweithöchste Ton nicht an Akkord und Tonfeld beteiligt sind. Die letzten zwei Akkorde weichen von den vorigen insofern ab, als V ein reines Heptaton ist und VI einen (Simon’schen) Funktionsakkord darstellt. Diese beiden können recht mühelos als Dominanten gehört werden 22 (s. auch Abb. 19), aber auch I–IV lassen mit ihren ein bis zwei Tritoni pro Klang eine solche Deutung zu, wie Reich selbst anmerkt: «The harmonies used are largely dominant chords with added tones...» 23

Abbildung 20 Steve Reich, Sextett, Akkordprogression im ersten Satz und Erläuterungen. X-Notenkopf: im Tonfeld vorhandene, aber nicht erklingende Töne; Raute: Funktionsfremde Töne (in VI).
Dieser aufschlussreiche Hinweis des Komponisten deutet auf die relativ enge Verwandtschaft dieser Enneatone mit Funktionsklängen hin. Sehr auffällig ist auch, dass die ersten vier Klänge je einen übermäßigen Dreiklang und alle sechs einen sogenannten halbverminderten Septakkord umfassen. Es drängt sich zudem der Eindruck einer stabilen Akkordprogression auf – die für Reich typische mehrfache Wiederholung generiert somit eine gewissermaßen ›ringförmige‹ Harmonik.
Wie sieht diese Progression aus? Ausgehend vom Theorem, (potenzielle) Grundtöne seien quintig mittige oder tiefe Töne und sollten über einen mitklingenden Quintton verfügen, 24 schlage ich nach mehrmaligem Hören, Mitsingen und Probieren näherungsweise folgende (primäre) Grundtöne vor: d–a–b–es–des–h/ces . Interessanterweise scheint die Grundtönigkeit im Verlauf der sechs Akkorde zuzunehmen. 25 Diese Art Progression ist nicht ohne weiteres in ein gleichförmiges Schema zu pressen, es sind Quint- und Ganzton- Verwandtschaften darunter sowie eine authentische und ›viereinhalb‹ plagale Fortschreitungen. 26 Vermutlich ist das einer der Gründe dafür, dass die ›ringförmige‹ Harmonik so gut funktioniert und jeder Akkord bei abermaligem Erscheinen frisch klingt. Ein anderer Grund dürfte in der Enharmonik liegen: denn insgesamt hört man eine im Quintenzirkel gegen den Uhrzeigersinn gerichtete, also ›fallende‹ Bewegung, bei welcher der Anschluss VI–I (ces – d) nur als h – d verständlich ist. Und tatsächlich ist Klang VI von Reich bereits mit Kreuzen notiert: hier enharmonisch teilverwechselt dargestellt, um den Anschluss an Klang V (auf des) optisch verständlicher zu machen.
Eine weitere Interpretation wäre, den Komponisten übergenau beim Wort zu nehmen und die Basstöne als Grundtöne (cis–h–a–g–b–f) erweiterter D7-Strukturen aufzufassen (Abb. 20). Fraglos wären I–IV in einem enharmonischen System als erweiterter D7 lesbar, was Umdeutungen einzelner Töne inkludiert (f zu eis in I, des zu cis in III, ces zu h in IV). Bei II und V müssen keine Umdeutungen vorgenommen werden: In II liegt ein D7 auf h im unteren Akkordteil; in V würde man vielleicht es als eingefrorenen Vorhalt zu b bezeichnen können; 27 und VI ist als Funktionsakkord mit zwei möglichen Grundtönen im Tritonusabstand (f und h) ohnehin bereits gut diagnostiziert. Allerdings sind Enneatone (I–IV) nicht-enharmonische Tonfelder und die Töne somit nicht beliebig umdeutbar, es sei denn, man wäre bereit, die Interpretation von I, III und IV als Enneatone fallenzulassen und Haupt- und in die Klänge ›eingepresste‹ Nebennoten zu unterscheiden: Reichs ›added tones‹. Da Reich möglicherweise von der liberaleren Jazz-Notation beeinflusst ist (also eis und f zumindest notationstechnisch in eins fallen), darf man seinen eigenen Hinweis durchaus so verstehen. Ich meine aber, Reichs Notation sei tatsächlich korrekt, zumal es wohl nur bedingt legitim ist, bei einer auf wenige prägnante, lange verweilende und wiederholte Akkorde gemünzten Musik von Haupt-, Nebennoten und Vorhalten zu sprechen. Und ist es nicht auffällig, dass die Auffassung von bassfixierter ›wörtlicher‹ D7-Fortschreitung sich so wenig mit dem hör- und notenanalytisch erarbeitetem Vorschlag deckt?
Es handelt sich bei den Klängen I–IV um Enneatone, die eher auf funktionale – und nicht quintige – Wirkung konzipiert sind. Die Ähnlichkeit mit Polths diatonischem Enneaton (der akustischen Tonalität) liegt, auch von dieser Seite betrachtet, auf der Hand; allerdings bleibt die oben besprochene potenziell tonikale Wirkung dieses Tonfelds durchweg aus. In I und III hat dies sicherlich mit der Eliminierung von (jeweils) do zu tun (g in I, es in III), dem der sozusagen ›natürliche‹ Rang eines Grundtons mit stabilisierender Macht zukäme. In II wird do (a) durchaus als Grundton gehört, wie oben gezeigt, aber ausgerechnet II ist merkwürdigerweise der einzige Klang, in welchem, aufgrund der Position des unteren Akkordteils, die Erklärung als erweiterte grundstellige Dominante ohne erzwungene enharmonische Umdeutung plausibel war. In IV wiederum scheint die Oktave zwischen Sopran- und Basston diesen zum Terzton eines erweiterten (Quint)sextakkordes zu machen: Also ist, obzwar vorhanden, nicht do (des), sondern ré (es) der Grundton. In allen Akkorden spielt aber v.a. die Positionierung auf quintig hohen Tönen einer ›Antitonikalität‹ in die Hände. I–IV sind Erscheinungsformen ein und desselben Tonfeldes, es handelt sich um besondere (sechstönige) Varianten der akustischen Tonalität .
Die Tendenz des Enneatons zur Ausfransung ist schon von Bernhard Haas hervorgehoben worden. 28 In Ergänzung zu Haas’ Feststellung zeigt sich eine Tendenz, ›Sprösslinge‹ zu generieren, die mit dem Namen Enneaton teilweise nicht mehr zufriedenstellend zu benennen sind.
4. Fazit und Ausblick
Es gibt neben den drei bislang beschriebenen Tonfeld-Gattungen noch weitere, und zwar mindestens die Ganztönigkeit und die akustische Tonalität. Während die Qualifikation der Ganztönigkeit als eigenständiges Tonfeld vermutlich wenig Zweifel aufkommen lassen dürfte, ist es um die Eigenständigkeit der akustischen Tonalität wohl unsicherer bestellt. Mein Vorschlag zu ihrer Aufwertung zielt auf die Anerkennung, wenn nicht als eigenständiges Tonfeld, so doch als ›Schnittfeld‹ (nämlich im Bereich zwischen Quintigkeit, Funktion und Ganztönigkeit angesiedelt).
Herauszufinden wäre künftig, ob noch mehr bislang unentdeckte oder nicht beschriebene Tonfelder existieren: etwa ein mit Messiaens III. Modus übereinstimmendes selbstständiges Tonfeld oder z.B. punkt- und achsensymmetrische Tonfelder; und ob es entgegen bisheriger Übereinkunft nicht doch ein Dekaton geben könnte. Außerdem wird zu zeigen sein, inwiefern die hier postulierten Tonfelder, namentlich die Ganztönigkeit, auch hintergründig konstitutiv wirken und miteinander interagieren.
Literatur
- Haas, Bernhard (2004), Die neue Tonalität von Schubert bis Webern , Wilhelmshaven: Noetzel.
- Jakobik, Albert (1977), Claude Debussy oder Die lautlose Revolution in der Musik , Würzburg: Triltsch.
- Lendvai, Ernö (1995), Symmetrien in der Musik. Einführung in die musikalische Semantik , Kecskemét: Kodály Institut.
- Polth, Michael (2006), »Tonalität der Tonfelder. Anmerkungen zu Bernhard Haas (2004), Die neue Tonalität von Schubert bis Webern. Hören und Analysieren nach Albert Simon, Wilhelmshaven: Noetzel«, ZGMTH 3/1, 167–178. https://doi.org/10.31751/210
- Polth, Michael (2020), »Zur Tonalität in ›La Mer‹ von Claude Debussy«, in: Am Rand der Tonalität , hg. von Volker Helbing, Ariane Jeßulat und Michael Polth, Würzburg: Königshausen & Neumann, 15–58.
- Pütz, Elisabeth (2016), Die Harmonik in Franz Liszts Klavierwerk ab 1847 , Phil. Diss., Universität Wien. https://doi.org/10.25365/thesis.44771
- Straus, Joseph N. (1990), Introduction to Post-Tonal Theory , Upper Saddle River, NJ: Prentice Hall.