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Notation. Schnittstelle zwischen Komposition, Interpretation und Analyse

von Philippe Kocher (Hg.), © 2024 Gesellschaft für Musiktheorie, Berlin

PDF Zitiervorschlag

Philippe Kocher

Vorwort

Klang ist flüchtig. Das gilt für das Musizieren ebenso wie für das Sprechen. Somit ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich in unserem Kulturraum für die Musik ebenso wie für die Sprache Aufschreibesysteme entwickelt haben, mit denen das Akustische in räumlich organisierten Visualisierungen fixiert werden kann. Doch eine einseitig phonozentrische Sichtweise, die in der Schriftlichkeit bloß ein Mittel zum Festhalten oder Übermitteln von mündlicher Sprache oder erklingender Musik sieht, greift zu kurz. Die Bedeutung und Funktion der Schrift ist vielfältiger, denn sie interagiert mit dem, was sie darstellt und erfüllt damit auch eine explorative und kreative Rolle.

Das Thema des 19. Jahreskongresses der Gesellschaft für Musiktheorie, der vom 4. bis zum 6. Oktober 2019 an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK stattfand, lautete Notation als Schnittstelle zwischen Komposition, Interpretation und Analyse. Musikalische Notation ist abstrakt, durch das Weglassen der Klanglichkeit unvollständig und durch ihre Konventionalität oft stark vereinfachend, aber sie bietet eine Schnittstelle zwischen verschiedenen musikalischen Handlungen wie dem Schreiben, Lesen oder Spielen, sie ist operativ wirksam beim Komponieren und sie besitzt eine pädagogische Perspektive, wenn es um das Vermitteln von immateriellen Aspekten wie Klang oder Struktur geht. Schon der Aufruf zur Einreichung von Beiträgen war von einem Text begleitet, der bereits eine ganze Reihe Fragen in den Raum stellte: Welche Rolle spielt die Notation für das Komponieren heute und früher? Wie und was notieren wir, wenn wir unterrichten? Wie stellen wir Analyse dar? Welche Wege führen von der Partitur zur Musik? Kurz gesagt: Was kann Notation und wozu verleitet sie uns als Komponist*innen, Interpret*innen, Lernende und Lehrende?

Bei den Vorbereitungen zum Jahreskongress zeigte sich schon früh, dass dieses Thema, für das wir uns entschieden hatten, ein großes Potenzial und eine breite Anschlussfähigkeit besitzt. In der Fachgruppe Theorie und Komposition an der Zürcher Hochschule der Künste fühlten sich etliche Personen, egal wie unterschiedlich ihre Spezialisierungen oder fachlichen Hintergründe auch waren, unmittelbar angesprochen und zum weiteren Nachdenken inspiriert. Besonders interessant schien die Vorstellung, auch Musikpraktiken miteinzubeziehen, die keine Tradition der Schriftlichkeit besitzen, wie die improvisierte Musik oder die elektroakustische Musik, die andere Visualisierungsformate (z.B. Spektrogramme) verwendet, um die Zeitlichkeit des Erklingenden in die Räumlichkeit der Abbildungsfläche zu überführen.

Über 200 Personen fanden schließlich den Weg nach Zürich, um an diesem Jahreskongress teilzunehmen, wovon mehr als die Hälfte Student*innen waren. Insgesamt wurden 96 Einzelbeiträge und fünf Panels eingereicht, woraus 57 Einzelbeiträge und alle fünf Panels ausgewählt wurden. Der Großteil der Beiträge nahm inhaltlich Bezug auf eine Fragegestellung der Notation, was über den gesamten Kongress gesehen zu einem guten thematischen Zusammenhalt führte. Der Kongressleitung war es ein wichtiges Anliegen, auch der erklingenden Musik ein gebührendes Gewicht zu geben. Aus diesem Grunde und auch, um die künstlerischen Schwerpunkte der gastgebenden Hochschule prominent zu präsentieren, fanden neben dem Hauptkonzert am Samstagabend schon am Vorabend zur Konferenz ein Konzert statt. Zudem gab es täglich, immer am späten Vormittag, eine halbstündige Darbietung von instrumentaler und elektroakustischer Musik.

Erfreulicherweise erklärten sich die Vortragenden von insgesamt 23 Kongressbeiträgen dazu bereit, ihr Referat für die Publikation dieser Proceedings zu verschriftlichen . Zur Qualitätssicherung wurde ein Peer-Review-Verfahren durchgeführt, bei dem jeder Beitrag zwei Gutachter*innen vorgelegt wurde. Die in diesen Proceedings vorgenommene Einteilung der Beiträge in sechs Kapitel folgt nicht streng den Sektionen des Kongresses, sondern ist das Ergebnis einer redaktionellen Gliederung.

Das erste Kapitel (Notationssysteme) vereint Beiträge, die sich dem Thema der Schriftlichkeit in der Musik von einer theoretisch überblickenden Seite her nähern. Den Beginn macht Sandeep Bhagwati, der in seiner Keynote grundlegende Konzepte des aktuellen Notationsdiskurses erörtert. Er weist auf die Tatsache hin, dass jede Notation aus der Gesamtheit der klangkonstituierenden Parametern immer nur einige wenige auswählt, und darauf, dass sich in dieser sogenannten Notationsperspektive auch große kulturelle Unterschiede zeigen können. Er erläutert, wie verschiedene Formen der Notation sich auch immer auf das auswirken, was die Menschen unter dem Begriff Musik verstehen, und führt diesen Gedanken fort, indem er sich vorstellt, welche alternativen Notationsformen durch den Einbezug neuer Technologien entstehen und welche Verschiebungen in der Ontologie des Musizierens sie hervorrufen könnten. Auch Stefan Münnich setzt sich fundiert mit dem Thema Notation auseinander und bietet dazu etliche interessante Einsichten in die Begriffsgeschichte. Er stellt die Notationsmodelle von Nelson Goodman und Roy Harris einander gegenüber und erörtert ihre Tauglichkeit als Beschreibungsmodell im Zusammenhang mit Musiknotationen. Die Autoren Markus Lepper, Michael Oehler, Hartmuth Kinzler, Baltasar Trancón y Widemann zeigen auf, wie Methoden aus der wissenschaftlichen Informatik, dort verwendet für die Spezifikation von Computersprachen, auf das Zeichensystem der musikalischen Notation übertragen werden können, um deren syntaktische und semantische Struktur zu beschreiben. Das Resultat davon ist ein Angebot für eine Nomenklatur, von deren Präzision auch ästhetische Diskussionen profitieren könnten. Lukas Näf und Dominik Sackmann gehen von der kritischen Feststellung aus, dass dem Notierten im klassischen Musikbetrieb eine viel zu große Bedeutung zugemessen werde und das Bestreben, das Notierte genau befolgen zu wollen, eine Quelle für etliche Missverständnisse sei. Daraus entwickeln sie die Fragestellung, wann und mit welcher Absicht Komponisten des 17.–20. Jahrhunderts Angaben zu Dynamik, Artikulation und Tempomodifikation machten und wann eben gerade nicht. Manuel Durão schließlich schlägt eine Brücke zur Sprachwissenschaft und zeigt einen methodischen Ansatz, wie musikalische Notation dafür gebraucht werden könnte, den Tonhöhenverlauf von gesprochener Sprache als Tonfolge zu erfassen. Ein solches Vorgehen bietet die Möglichkeit, Sprachmelodien auch aus musiktheoretischer Sicht betrachten und analysieren zu können.

Im zweiten Kapitel (Notation im Kompositionsprozess) steht die Frage im Zentrum, welche Rolle der Notation beim Komponieren zukommt. Elena Minetti untersucht exemplarisch anhand von Mauricio Kagels Werk Transición II , wie verschiedene Formen der schriftlichen Aufzeichnung innerhalb des kompositorischen Prozesses ihre Wirksamkeit entfalteten. Dazu betrachtet sie vier visuelle Strategien (Tabellen, Scheiben, Diagramme und Linien) und untersucht deren Funktion bei der Entstehung des Werks. Martin Link beleuchtet das Verhältnis von Autorintention und Notation, indem er zwei Fassungen Versionen von Luciano Berios Sequenza per flauto solo einander gegenüberstellt. Die erste Fassung ist rhythmisch frei notiert, weshalb Umberto Eco dieses Werk auch in seinem Buch Das offene Kunstwerk beispielhaft erwähnt. Unglücklich mit etlichen zu freien Interpretationen notierte Berio für die zweite Fassung die Rhythmen präzise aus. Philippe Kocher fragt in seinem Beitrag, in welcher Weise die Notenschrift beim Komponieren von tempopolyphoner Musik ihre Funktion als Denk- und Handlungsraum entfaltet. Dazu werden Conlon Nancarrows millimetergenau gestanzten Notenrollen für das Selbstspielklavier als historisches Beispiel beizogen und den Arbeitsmethoden, die sich in einigen jüngeren tempopolyphonen Werken finden lassen, gegenübergestellt. Benjamin Jermann wendet sich dem Komponisten Karl Amadeus Hartmann zu, der in seiner Musik oft Zitate verwendet, um auf politische, soziale und kulturelle Begebenheiten kritisch hinzuweisen. In der Betrachtung von zwei Manuskripten der Sonate 27. April 1945, thematisiert Jermann einige Aspekte von Hartmanns Umgang mit Zitaten und legt den Entstehungsprozess dieser Sonate dar.

Das dritte Kapitel (Notation und Aufführungspraxis) widmet sich verschiedenen Aspekten der Realisation von Notaten in der performativen Praxis. Christian Groß fragt, wie gerecht eine historisch gewachsene Notationsform einer stiltreuen Ausführung werden kann, insbesondere wenn es sich dabei um den stylus phantansticus handelt, der gerade durch seine großen Freiheiten definiert ist. Die Gegenüberstellung von zwei Aufnahmen eines Orgelwerks von Dieterich Buxtehude zeigt dann auch, wie unterschiedlich die Interpretationen ausfallen können. Jonas Labhart befasst sich ebenfalls mit musikalischen Freiheiten in Bezug auf ein Notat: Anhand einer Schallplatteneinspielung der King Oliver’s Creole Jazz Band, bei der die Musik nur andeutungsweise mit der Handschrift übereinstimmt, die zur Wahrung der Urheberrechte hinterlegt wurde, entwickelt er die These, hier als Erklärungsmodell für die Relation von erklingender Musik und Notat C.G. Jungs Konzept der Archetypen beizuziehen. Die Abweichungen vom Notentext, die Jaronas Scheurer in seinem Beitrag bespricht, beruhen auf der Tatsache, dass es sich um ›unspielbare‹ Musik handelt; um Passagen, bei denen der Komponist offensichtlich mehr die konstruktiven Prinzipien und weniger die instrumentale Ausführbarkeit im Fokus hatte. Anhand von zwei Cembalowerken von Iannis Xenakis erläutert Scheurer, welche kompositorischen Überlegungen zu diesen Schwierigkeiten führten, und untersucht verschiedene interpretatorische Lösungen, die dafür gefunden wurden. Martin Skamletz wendet seinen Blick auf die Zeit um 1800 und gibt einen Einblick in die lebendige Praxis der Oper, in der es nicht unüblich war, dass sich ein Werk von Produktion zu Produktion veränderte. Dies wird am Beispiel der Tragédie lyrique Sémirami von Charles-Simon Catel gezeigt, deren Überarbeitungen für die Zweitaufführung nur teilweise in die gedruckte Ausgabe von Partitur und Stimmen übernommen wurden. Die Unterschiede in den Aufführungsmaterialien, auch in solchen, die erst später entstanden sind, werfen die grundsätzliche Frage auf, was in diesem Falle als endgültige Werkgestalt zu gelten habe.

Das vierte Kapitel (Notation und Pädagogik) umfasst drei Beiträge zur Verwendung von Notation in einem didaktischen Zusammenhang. Die Autoren Claudio Bacciagaluppi, Michael Lehner, Nathalie Meidhof, Luis Ramos, Claire Roberts und Stephan Zirwes wenden sich der Solmisation zu, jener Methode der musikalischen Grundausbildung, die dem Zweck dient, das Notenlesen zu vermitteln und den Tonraum zu verinnerlichen. Bis auf den heutigen Tag ist der Gebrauch von Tonsilben durch länderspezifische Lehrtraditionen geprägt, was anhand von Fallbeispielen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert aus Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland dargestellt wird. Elke Reichel sucht nach Ansätzen für eine Notationsweise, die in der heutigen Zeit im Musikunterricht an der Regelschule nützlich sein könnte. Während in der Instrumentalpädagogik die Beherrschung der Notenschrift als unabdingbar gilt, wird in der schulischen Musikpädagogik der Zugang zur Musik barrierearm und ohne vertiefte Inhalte der Musiklehre gestaltet. Diese Kluft zwischen zwei pädagogischen Methoden soll durch eine Kombination traditioneller und innovativer Notationsweisen überbrückt werden. Ulrich Kaisers Beitrag erläutert das Konzept des Blended Learning im Musiktheorieunterricht, diskutiert dessen Möglichkeiten und Grenzen sowie die dafür erforderlichen Kompetenzen und Kosten. Zudem stellt er die Open Music Academy vor, die seit März 2022 online verfügbar ist.

Das fünfte Kapitel (Panel: Die Makroform von György Kurtágs Kafka-Fragmenten) beinhaltet drei Texte zur Interpretationsforschung, die alle demselben Forschungsprojekt entstammen. Die Daten aus 14 systematisch ausgewerteten Tonaufnahmen der Kafka-Fragmente für Sopran und Violine von György Kurtág bilden hier den Ausgangspunkt für eine Studie, die qualitative und quantitative Methoden verschränkt, um damit die Frage der Formgestaltung durch die Interpret*innen umfassend zu beleuchten. Der Beitrag von Christian Utz umschreibt das Forschungsprojekt, gibt einen lesenswerten Überblick über die Sekundärliteratur und umreißt die wesentlichen Thesen und Ergebnisse der Studie. Majid Motavasseli widmet sich in seinem Beitrag der Frage, inwiefern die Kafka-Fragmente als Zyklus oder als Sammlung unverketteter Fragmente verstanden werden sollen. Dazu schlüsselt er analytisch die formale Kohärenz der unterschiedlichen Fragmente auf und diskutiert, welche Wirkung dies auf die Einschätzung der Form hat. Thomas Glaser nimmt schließlich eine gründliche quantitative und qualitative Analyse von acht Einspielungen vor, um die Strategien der ausführender Musiker*innen in Hinblick auf die Formgestaltung zu untersuchen.

Die Autoren, deren Beiträge im abschließenden sechsten Kapitel (Freie Beiträge) zusammengefasst sind, beschäftigen sich alle, wenn auch bezüglich der Anschauungsobjekte und der angewandten Methoden in anregender Vielfalt, mit dem Thema Harmonik. Stefan Pohlit hat sich zum Ziel gesetzt, in der erweiterten reinen Stimmung harmonische Funktionen zu finden, die sich mit denjenigen herkömmlicher tonaler Musik vergleichen lassen. Als Schritt in Richtung einer umfassenden Harmonielehre zeigt er exemplarisch auf, wie Kadenzformeln in einem dreistimmigen mikrotonalen Satz systematisch, aber auch musikalisch hörend bewertet werden können. Andreas Winkler wendet sich der Theorie der Tonfelder nach Albert Simon zu und postuliert, dass sie noch zwei um zwei weitere Tonfelder, die ganztönige und die akustische Tonalität, erweitert werden könnte. Anhand von ausgewählten Werkeausschnitten diskutiert er diese These und erörtert, ob sich diese zusätzlichen Tonfelder wirklich als eigenständig qualifizieren. Felix Baumann schlägt eine Brücke von den harmonischen zu den zeitlichen Aspekten der Musik, indem er anhand der frühen Klaviersonaten Haydns aufzeigt, wie sich in einer klassischen Sonatenexposition zusammen mit der harmonischen Modulation in die Oberquinttonart stets auch eine rhythmische Intensivierung ereignet. Markus Roth geht auf eine harmonisch rätselhafte Stelle mit acht aufeinander folgenden Quintfällen im Madrigal O voi che sospirate a miglior’ note von Luca Marenzio ein. Neben einer theorie- und kompositionsgeschichtlichen Kontextualisierung zeigt dieser Beitrag auch verschiedene Ansätze auf, wie diese Stelle intonatorisch umgesetzt werden könnte.

Zuletzt möchte ich allen, die an der Entstehung dieser Proceedings beteiligt waren, meinen Dank aussprechen: den Autor*innen, nicht nur für ihre lesenswerten Beiträge, sondern auch für ihre Geduld, die durch die lange Dauer, über die sich die Herausgabe dieser Publikation hingezogen hat, arg strapaziert wurde, den Gutachter*innen für ihre gewissenhaften Expertisen, Benjamin Jermann für die redaktionelle Mitarbeit, Lucas Bennett für das englischsprachige Lektorat, den Reihenherausgebern für ihre fachliche Unterstützung und Dieter Kleinrath für das sorgfältige Layout. Ebenfalls möchte ich hier nochmals meinen Kollegen Christian Strinning, Felix Baumann und Pierre Funck für die umsichtige und reibungslose Organisation des gesamten Kongresses danken, ebenso der Zürcher Hochschule der Künste und Michael Eidenbenz, dem Leiter des Departement Musik, sowie der Gesellschaft für Musiktheorie.

Philippe Kocher