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Notation. Schnittstelle zwischen Komposition, Interpretation und Analyse

von Philippe Kocher (Hg.), © 2024 Gesellschaft für Musiktheorie, Berlin

PDF Zitiervorschlag

Claudio Bacciagaluppi, Michael Lehner, Nathalie Meidhof, Luis Ramos, Claire Roberts, Stephan Zirwes

Ein Babel der Gehörbildung?

Tonsilben um 1800

Inhalt und Ziel des Artikels

Claudio Bacciagaluppi, Michael Lehner

In der musikalischen Grundausbildung werden in aller Regel Tonsilben gebraucht, um die musikalische Notation zu entziffern und den Tonraum zu verinnerlichen. Das System, das für die westliche Kunstmusik im Mittelalter und in der Renaissance allgemein angewendet wurde, ist bekanntlich die Solmisation mit Hexachord-Mutationen über die Guidonische Hand – obwohl ihre Anwendung bei weitem nicht so universell war, wie meist vermutet. 1 Ihre Geschichte ist gut aufgearbeitet und seit langem auch Gegenstand historischer Abhandlungen. 2 Die Solmisation wird allerdings von einem historischen Standpunkt aus kaum über die Zeit von Johann Joseph Fux, Johann Mattheson und Jean Rousseau hinaus untersucht. 3 Durch diese Autoren wurde nämlich, infolge der Festigung der modernen Dur/Moll-Tonalität, die Zweckmäßigkeit der alten Hexachord-Mutation scheinbar endgültig in Frage gestellt. Für die heutige Musikgeschichtsschreibung waren spätere Spuren der veralteten Solmisationsregeln folglich kaum mehr Objekt der Forschung. Dabei repräsentieren die genannten Quellen nicht das Ende der guidonischen Solmisationspraxis im 18. Jahrhundert, sondern vielmehr die Vielfalt der Standpunkte, die zwischen Beibehaltung, Reform und Abschaffung wechseln. Besonders greifbar wird dies in der Kontroverse zwischen Mattheson und Johann Heinrich Buttstett zwischen 1713 und 1725, an der sich mehrere weitere Komponisten und Musikgelehrte beteiligten und die noch bei Heinrich Christoph Koch Nachhall findet. 4 Später entstandene, alternative Methoden – beispielsweise die Ziffernsysteme von Pierre Galin oder Bernhard Christoph Ludwig Natorp – werden meist in der musikpädagogischen Literatur besprochen bzw. auf ihre praktische Anwendung geprüft, nicht als historisch gewachsene Konstrukte betrachtet. 5 6

Im frühen 19. Jahrhundert entstanden bekanntlich, meist nach dem Modell des Pariser Conservatoire (gegründet 1795), in ganz Europa öffentlich zugängliche höhere Ausbildungsstätten für eine professionelle Musikausbildung. Dazu wurden auch, ebenfalls nach dem Pariser Modell, unzählige Lehrmittel geschrieben und gedruckt: Es bestand bis dahin die (unausgesprochene) Auffassung, dass die Dozierenden grundsätzlich ihre eigene Methode entwickeln sollten. Somit wurde oft traditionelles, bislang mündlich überliefertes Kulturgut verschriftlicht, beispielsweise in Italien, wo der Direktor des Mailänder Konservatoriums Bonifazio Asioli eine ganze Reihe von Methoden druckte, um seine Schule ausführlich mit Lehrbüchern zu versorgen – für Flöte, Oboe, Klarinette, Posaune, Ophikleide u.a.m. 7 Andererseits wurde in einem ›freien Markt‹, wo private Initiativen die staatlichen Institutionen überwogen, sehr frei mit verschiedenen neu entwickelten Methoden experimentiert. Dies gilt vornehmlich für den deutschsprachigen Raum, besonders für die Gebiete protestantischer Konfession, aber auch für ›Restfrankreich‹ – in diesem Fall neben der Provinz auch das Pariser Musikleben außerhalb des Conservatoire . Im vorliegenden Artikel wird, ohne Anspruch darauf, eine vollständige Übersicht über die Situation in ganz Europa darzustellen, die Vielfalt der unterschiedlichen Lösungsansätze durch eine Reihe von Fallbeispielen aus Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland veranschaulicht.

Allgemeine Überlegungen

Claudio Bacciagaluppi, Michael Lehner

Das Singen (oder beim solfeggio parlato auch das Sprechen) von Tonsilben als Grundbaustein der Gehörbildung ist eine Voraussetzung der elementaren musikalischen Ausbildung, daher ist es im Prinzip überall präsent. Was wir in den hier untersuchten Jahrzehnten zwischen dem ausgehenden 18. und dem frühen 19. Jahrhundert beobachten, ist ein Fall für die oft anzutreffende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Verschiedene Systeme existieren nebeneinander, die sich vornehmlich in ihrem Ursprung, ihrer Zielsetzung und ihrem Publikum unterscheiden, und zwar in allen untersuchten Ländern.

Die Traditionen in der Solmisation unterscheiden sich zunächst einmal geographisch nach ihrem Ursprungsland. Einige Methoden werden denn auch nationalitätsbezogen wahrgenommen: Die Solmisation mit sieben Silben gilt in Italien und Spanien als das ›französische‹ System, das guidonische Hexachordsystem wurde bisweilen als ›italienisch‹ betrachtet. 8 Dies primär aus historischen Gründen, aber auch, weil in Italien die relative Solmisation mit Hexachord-Mutationen erstaunlich langlebig war, wie wir später sehen werden. Als spanischer Beitrag zur Solmisationsfrage ist vor allem Juan Caramuel bekannt 9 – wobei der weit gereiste Bischof eigentlich den Typus des gelehrten Kosmopoliten repräsentiert. In Deutschland findet sich wohl die größte Fülle an Varianten, die jedoch kaum über die Sprachgrenzen Ausbreitung fanden.

Ein erster Blick in die allgemeinen Musiklexika der Zeit zeigt bereits die Vielfalt, aber auch das Konfliktpotential im Streit um die geeignetste Methode. Jean-Jacques Rousseau stellt in seinem Dictionnaire de musique von 1768 drei gebräuchliche Arten des Solmisierens in Frankreich vor: mit Mutation (»par Muances«), »par transposition« und »au naturel«. Dabei gibt er der zweiten Methode den eindeutigen Vorzug. Die Hexachord-Mutation bezeichnet er als »la plus ancienne« und sieht darin gravierende Nachteile, da die Silben weder konkrete Tasten auf dem Instrument (»des touches fixes du Clavier«), noch Skalenstufen (»des Degrés du Ton«), ja nicht einmal festgelegte Intervalle zueinander bezeichnen würden (»ni même des Intervalles déterminés«). 10 Die beiden neueren Methoden erachtet Rousseau als genuin französisch. Die relative Solmisation unter Hinzufügung der Tonsilbe si ist seines Erachtens eindeutig die geeignetste, da sie alle Probleme der »aretinischen Methode« löse, ein Skalendenken etabliere und Hexachord-Mutationen unnötig werden lasse. Aus diesem Grund wehrt er sich vehement gegen die neueste und, wie er zugesteht, in Frankreich bereits dominierende Methode des absoluten Solmisierens, deren Entstehen er der Instrumentalpraxis, insbesondere der Tastenmusik zuschreibt. Die Musiker hätten die geeignete Methode der Transposition der sieben Silben der Skala »durch die bizarre Vorstellung« einer Fixierung von Notenbezeichnung und Klaviertaste verschlechtert 11 und damit des eigentlichen pädagogischen Sinns, des Erlernens der skalaren Bezüglichkeiten, beraubt. Rousseau plädiert dafür, die »touches fixes« mit den lateinischen Buchstaben zu benennen, um sie von den Solmisationssilben zu trennen, die je nach skalarer und harmonischer Bezüglichkeit wechseln, um modulatorische Entwicklungen abbilden zu können. Aufgrund dieses gewissermaßen unsängerischen Vorgehens spricht er auch der absoluten Solmisationspraxis die gängige Bezeichnung »solfier au naturel« ab, da sie seinem Naturbegriff in mehrerlei Weise diametral entgegensteht, 12 den er vielmehr in der Praxis des »solfier par transposition« umgesetzt sieht: »Im Gegenteil, ein jeder muss bemerken, dass nichts natürlicher ist als transponierend zu solmisieren, wenn der Modus transponiert wird.« 13 Rousseau prophezeit der absoluten Solmisation keine große Zukunft und führt als (falsche) Begründung an, dass sie bislang nur in Frankreich Verwendung gefunden habe.

Was Galeazzi 1791 als »Solfeggio alla francese« bezeichnet, ist tatsächlich Rousseaus »solfier par transposition«, also eine relative Solmisation mit sieben Silben. Beispielsweise braucht man, um eine Sopranpartie in A-Dur zu solfeggieren, sich nur einen Violinschlüssel statt eines Diskantschlüssels vorzustellen, um ganz automatisch die Tonika mit do zu bezeichnen. Diese unmittelbare Kopplung Tonart/Schlüssel, wie sie Galeazzi beschreibt, bedingt also, dass man sich für jede neue Tonart einen neuen Schlüssel vorstellen muss (»Setticlavio«), was Galeazzi als seine größte Schwierigkeit beschreibt, denn »jeder sieht, wie schwer und langwierig diese Methode ist, besonders bei Modulationen, denn für jedes neue Vorzeichen [muss man sich] einen neuen Schlüssel [vorstellen].« 14 Der guidonische »solfeggio all’italiana« sei veraltet, doch »gibt es noch Leute, die sich heutzutage trotz seiner massiven Mängel dieses höchst unvollkommenen Systems bedienen«. 15 Absolute Solmisationssysteme mit zwölf Tonsilben findet er undankbar für den Gesang und kompliziert; er selber schlägt als für ihn beste Lösung die absolute Solmisation mit sieben Silben vor. 16 Letztlich ist die Entwicklung hin zur international gebräuchlichsten Praxis unaufhaltsam, die den Silben zwar einerseits ihre ursprüngliche relationale Bezüglichkeit zueinander nimmt, sie andererseits zu festen Notennamen in allen romanischen Sprachen und darüber hinaus verabsolutiert.

Kochs Ausführungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigen eine noch weitere Ausdifferenzierung für den deutschen Sprachraum auf. Zugleich scheinen dort die guidonischen Silben, die ohnehin nie eine vergleichbare Verbreitung fanden wie in Frankreich oder Italien, bereits weitgehend außer Gebrauch zu sein. Koch nennt fünf verschiedene Solmisationsarten, darunter auch die absolute Solmisation, jedoch auf den lateinischen Buchstaben (»Abcdiren«). 17 Er diskutiert im Folgenden Vor- und Nachteile, hält sich jedoch mit einem eigenen Urteil zurück, wohl auch, weil sein Anspruch ein anderer ist: Es geht Koch weniger um eine Vermittlung basaler theoretischer Sachverhalte (wie Skalenordnung, Tonartwechsel etc.), als vielmehr um sängerische Sicherheit, um, »es geschehe auf welche Art es wolle [...], dem Anfänger die Töne rein intoniren, und die Intervallen nebst der Eintheilung der Noten nach ihrem Zeitmaaße, sicher treffen zu lehren.« 18

Die Systeme unterschieden sich somit auch nach ihrem Zielpublikum. Eine relative Solmisation war bestimmt für Sänger*innen sehr geeignet, auf Tasteninstrumenten ist die feste und unveränderliche Zuordnung von Bezeichnungen auf der Klaviatur naheliegend. Innerhalb einer Chorknabenschule einer katholischen Kathedrale wurde selbstverständlich zur Einübung der einstimmigen liturgischen Gesänge das Hexachord-System eingeführt, in der nichtprofessionellen Ausbildung an einer privaten Schule für die gehobenen Schichten der Gesellschaft war dies weniger sinnvoll. Die Frage nach dem Zielpublikum ist somit selbstverständlich auch mit der Frage nach dem institutionellen Kontext verknüpft: Ob eine bestimmte Methode an einem Konservatorium, für den freien Privatunterricht oder an einer Klosterschule Anwendung findet, liegt auch an den besonderen Traditionen des jeweiligen Institutionstypus.

Warum wurde aber das eine oder andere neue System von Grund auf entwickelt? Bestimmt kann man als Begründung anführen, dass das alte Hexachord-System nicht länger zweckmäßig war und im 18. Jahrhundert der Musik der Zeit nicht mehr entsprach. Daneben, vor allem auf dem ›freien Markt‹, gab es bestimmt auch den Wunsch, sich mit Innovationen gegenüber den Konkurrenten in den Verlagskatalogen und der Schullandschaft zu profilieren.

Ein letzter Unterschied, der die Solmisationsarten im deutschsprachigen Raum womöglich deutlich geprägt hat, ist die konfessionelle Ausrichtung. In evangelischen Gebieten wurde die traditionelle Hexachordlehre viel früher obsolet. In den katholischen Gebieten Deutschlands und der Schweiz sowie im Habsburgerreich wurde den Chorknaben die Gregorianik durch Hexachorde nahegebracht, wie es in Italien selbstverständlich war. 19

Die Situation in Frankreich: Absolute Tonnamen als Konsens

Nathalie Meidhof

Schon mehrfach wurde hervorgehoben, dass in Frankreich um 1800 eine relativ einheitliche Situation zu beobachten ist, was die Verwendung von Tonsilben, Skalenstufen und Bezeichnungen für die Position in der Skala angeht. Es hat sich konsolidiert, dass Tonnamen mit den Tonsilben utremifasollasi benannt sind. Ein prominentes Beispiel hierfür findet sich im offiziellen Lehrbuch zur allgemeinen Musiklehre am Pariser Conservatoire , dem ersten Band der von acht Conservatoire -Lehrern herausgegebenen Principes élémentaires de musique . 20 In Abbildung 1 sind alle Bezeichnungen zusammengefasst: Die absoluten Tonnamen (utremi etc.) werden hier der Position in der Skala der Tonart entgegengestellt, die mit Ordnungszahlen (note principale , seconde note , troisième note etc.) oder Eigennamen (tonique , su-tonique , médiante , sous-dominante , dominante , su-dominante , note sensible , tonique répliquée) bezeichnet wird.

Abbildung 1 Tonnamen und Bezeichnungen für die Position in der Skala im offiziellen Lehrbuch des Conservatoire (Agus et al. 1799, Buch 1, 23). Bild: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France.

Auch wenn die Tonnamen im Französischen kontinuierlich (bis heute) mit ut / doremifasollasi bezeichnet werden, bedeutet das nicht, dass diese Allgegenwart einer absoluten Solmisation jegliche Ansätze der relativen Solmisation unterdrückt hätte. Aufsehen erregte z.B. die ›méthode Galin-Paris-Chevé‹, die vom Privatmusiklehrer Pierre Galin, später gemeinsam mit Aimé Paris sowie Émile und Nanine Chevé, entwickelt wurde. Grundlage ihres Systems sind Melodiestufenziffern, die sie auf Jean-Jacques Rousseau zurückführen. Die Gruppe erarbeitet daraus ein Notations- und Lehrsystem, in dem durch zusätzliche Zeichen Rhythmus, Pausen, Oktavlagen und Tonart angegeben werden können, und postuliert nicht weniger als die – so jedenfalls schreiben es Émile und Nanine Chevé im Jahr 1844 – teilweise Ablösung der etablierten Musiknotation. 21 In Abbildung 2 ist die Melodie der (heutigen) britischen Nationalhymne in diesem System aufgezeichnet, sie wird hier fälschlicherweise Jean-Baptiste Lully zugeschrieben.

Abbildung 2 Notation der Melodie von God Save the King/Queen im System von Galin-Paris-Chevé (Rousseau et al. 1907, 27). Bild: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France.

Eine gleichfalls einheitliche Lage zeigt sich bezüglich der Methodik des Unterrichts. So wird das Fach Solfège, das eben diese Grundlagen der allgemeinen Musiklehre umfasst, an vielen Lehrinstituten unter diesem Namen angeboten. Dabei werden die propädeutischen Inhalte zur musikalischen Notation mithilfe von solfèges in aufsteigendem Schwierigkeitsgrad vermittelt, also mit auf Tonnamen zu singenden Melodien mit einer zumeist als Generalbassstimme notierten Begleitung. Anschaulich wird dies in den bereits genannten Principes élémentaires de musique vorgeführt, 22 in denen auf den ersten Band zum Grundlagenwissen vier Bände mit genau solchen Singübungen unterschiedlichster Provenienz folgen. 23 Solche solfèges und vocalises , also Melodien, die auf Tonnamen (solfèges) bzw. auf andere Silben (vocalises oder vocalisations) zu singen sind, haben zum Ziel, elementare Musiklehre, Blattsingen und Gesangstechnik allgemein zu erlernen und zu üben. Wie verbreitet diese Lehrmethode ist, zeigt ein Beispiel für die Solfège-Tradition außerhalb einer Institution, ein Lehrbuch für das zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu aufkommende Modeinstrument der sechssaitigen Gitarre, Solfèges avec accompagnement de guitare très facile von Ferdinando Carulli (Abb. 3).

Abbildung 3 Notennamen (utremi etc.) und Tonleiterposition (Ordnungszahlen) in Carulli (1822, 6). Bild: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France

Genauso wie in den Principes élémentaires folgen hier auf die Grundlagen der elementaren Musiklehre, mit einem Kapitel zur Erläuterung der Tonnamen und auch der Ordnungszahlen für die Position innerhalb der Tonleiter, solfèges und vocalises , die nun allerdings mit einer ausnotierten Begleitstimme für die Gitarre versehen sind. Diese Art der Einführung ist im 19. Jahrhundert zur Lehre an verschiedenen Musikschulen genauso wie für den privaten Musikunterricht von Laien weit verbreitet und bleibt es bekanntlich bis heute.

»Ich kenne ihre Schwierigkeiten und kann mich für keine der beiden Methoden entscheiden«. Das Fallbeispiel Pedro Carrera

Luis Ramos

Fray Pedro Carrera Lanchares war langjähriger Organist am Real Convento del Carmen in Madrid. Darüber hinaus war er Autor von Traktaten zu musikalischen Grundlagen, die von der Koexistenz mannigfaltiger Lehrtraditionen zeugen. Obwohl Carrera kein reguläres Mitglied der Königlichen Kapelle war, pflegte er einen engen Kontakt zu zwei wichtigen Persönlichkeiten dieser Institution. Carrera war Schüler des berühmten Organisten José Lidón, der eine Musterkarriere seiner Zeit absolviert hatte: Lidón hatte als Sängerknabe den Real Colegio de Niños Cantores besucht, dort im Anschluss das Fach Estilo Italiano unterrichtet, war Organist der Königlichen Kapelle geworden und schaffte es sogar bis zum einflussreichen Posten des Kapellmeisters der Kapelle und Rektors des Real Colegio von 1805 bis zu seinem Tod im Jahr 1827. Daneben hatte Carrera engen Kontakt zu Manuel Cavaza, Solo-Oboist der Königlichen Kapelle von 1744 bis 1790. Cavaza genoss nicht nur als Oboist, sondern auch als Komponist, Pädagoge und Theoretiker großes Ansehen: Er schrieb Pflichtstücke für die Probespiele der Kapelle und nahm an mehreren Prüfungsausschüssen teil, u.a. für die Lehrstelle für Solfeo am Real Colegio . José Lidón und Manuel Cavaza gehören zwar unterschiedlichen Musikergenerationen der Königlichen Kapelle und Schule an, doch beide beschäftigten sich mit den basalen Inhalten der Ausbildung dort und waren in ihrer Umsetzung maßgebend.

Im Rahmen seines Hauptamtes bei den Karmeliten schrieb Pedro Carrera 1789 das prominente Ritual Carmelitano . 24 Eine der wichtigsten Quellen zur Gregorianik auf der iberischen Halbinsel, spielt die dortige Solmisationspraxis mit Mutationen erwartungsgemäß eine zentrale Rolle. Die sehr ausführliche Instruktion beginnt mit der Einführung der signos (G.solreut, A.lamire, B.fami usw.), die bekanntermaßen aus einem Buchstaben (letra inicial) und drei oder zwei Silben (sílabas , voces) bestehen. Die signos haben einen festen Sitz und legen somit einen Zyklus von absoluten lateinischen Notennamen fest, der sich nach sieben Positionen wiederholt, analog zu der heutigen angelsächsischen und deutschen Tradition. Die voces leiten sich aus der klassischen Hexachordlehre ab, die sich zweier Begrifflichkeiten bedient: Die deducción beschreibt zunächst den Ton, der am Beginn eines Hexachordes steht (z.B. G.ut, C.faut und F.faut in der tiefen Lage), worüber die entsprechenden voces fixiert werden; die propiedad beschreibt die drei bekannten Hexachordtypen. So ist z.B. mit dem etwas umständlichen Satz »Deducción tercera de F.faut. Propiedad de B.mol« das weiche Hexachord, das hexachordum molle , über dem kleinen f gemeint.

Die Mutationspraxis (mutanzas) funktioniert nach den bekannten Regeln und wird der Ausführung nach in dreierlei Arten ausdifferenziert: Die mutanza expresa ist die bekannte Form beim schrittweise Hinauf- und Hinuntergehen; die mutanza tácita wird in den Terzsprung von einem Hexachord zum nächsten angewendet, also wenn die Wechselsilbe re oder la übersprungen wird; die mutanza disyunctiva für den Quart- und Quintsprung (Abb. 4). Im Zusammenhang mit den Mutationen stellt Carrera den Sonderfall vor, wenn der Gesang nur »einen Punkt über die Silbe la geht« und gar keine Mutation vonnöten ist – die alte ›una nota supra la‹-Regel.

Abbildung 4 Zwei Arten der mutanza (Carrera 1789, 22f.). Bild: Biblioteca Nacional de España.

Von einem Traktat der Gregorianik ist kein anderer Solmisationsansatz zu erwarten. Genau diese Praxis sah Manuel Cavaza für die Sängerknaben der Königlichen Schule vor und hielt in seinem Manuskript Rudimentos y elementos de la Música práctica schriftlich fest. In dieser Hinsicht ist es besonders interessant, dass das Exemplar im Bestand der Spanischen Nationalbibliothek aus dem Jahr 1786 ausgerechnet Pedro Carrera gehörte. Auf einem zweiseitigen Beiblatt berichtet er von seiner ursprünglichen Begegnung mit Cavaza sowie über dessen Haltung zur geeigneten Solfeo -Methode an der Königlichen Schule: »[Cavaza] vertrat immer die Meinung, dass den Sängerknaben das Guidonische System beigebracht werden müsse, oder wie es in Spanien genannt wird con mutanzas (mit Mutationen), und nicht jenes mit der hinzugefügten Silbe Si oder Bi25 Aus diesem Satz lässt sich zweierlei ableiten: Zweifelsohne werden zu dieser Zeit mehrere Solmisationssysteme praktiziert; welches System sich als sachgerechter erweist, war ein umstrittener Punkt.

Pedro Carrera seinerseits veröffentlichte 1805 sein Buch Rudimentos músicos zur Nutzung im Real Seminario de Nobles . 26 Die Rudimentos verfolgten womöglich keinen berufsbildenden Zweck; sämtliche Instruktionen in der klassischen Dialogform werden deutlich einfacher gehalten als im Ritual Carmelitano . Für die nobles (Adligen, also Laien) verfolgt Carrera einen völlig anderen methodischen Ansatz, nämlich die absolute Solmisation mit der Silbe si: »[Die Musik] bedient sich sieben voces oder Silben zum Sprechen oder Singen; diese sind: do , re , mi , fa , sol , la , si . Sie sind die einzige Sprache der Musik und dienen als Alphabet.« 27 Besonders irritierend wirkt hier die Formulierung »einzige Sprache der Musik«, wenn derselbe Autor in anderen Werken eine weitere Solmisationspraxis verwendet.

Ferner bespricht Carrera in den Rudimentos eine allgemein unbekanntere Solmisationsmethode, nämlich die fingimiento de clave (Schlüsselsimulation) , auch bekannt als solfeo en llave natural (mit natürlichem Schlüssel). 28 Nach ungefähr einem Drittel des dazugehörigen Übungsheftes hat der Schüler das Training von kleineren zu größeren Intervallen, sowie von großen zu kleineren Notenwerten ausschließlich im Diskantschlüssel sehr systematisch absolviert. Es erscheint erneut die propädeutische Skalenübung diesmal mit zwei Schlüsseln (Abb. 5). Nach dem Diskantschlüssel, ganz zu Beginn des Notensystems notiert, wird eine F-Dur-Skala intoniert. Für die Tonsilben ist allerdings der Bassschlüssel maßgeblich: Demnach trägt der Ton f , erste Skalenstufe, die Silbe do – relative Solmisation, Tonika-Do in reinster Form.

Abbildung 5 »Escala de la llave de fa modo mayor« (Carrera 1815, 75). Bild: Biblioteca Nacional de España.

Es geht nicht nur um die Vorzüge der relativen Solmisation, wobei Tonsilben und Intervalle in den diversen Tonarten ihre Qualität beibehalten. Es scheint ebenso wichtig zu sein, dass die Lehrlinge sich eine einwandfreie Lektüre in sämtlichen Schlüsseln aneignen. Die Schlüsselsimulation hat auch einen praktischen Vorteil: Zum Erlernen neuer Schlüssel müssen keine neuen Übungen komponiert werden. Wäre die vorige Übung wie üblich im Diskantschlüssel notiert, hätte der Schüler unter Berücksichtigung mancher Faustformeln den in diesem Fall ›natürlichen‹ Bassschlüssel herausgefunden und aus dem Stegreif simulieren können.

Diese Methode wird in vielen anderen Traktaten erwähnt. 29 Die Praxis scheint so umstritten zu sein, dass Carrera sich sehr zurückhaltend dazu positioniert: »Für die Instrumentalisten ist die erste Methode [= die absolute Solmisation] einfach und zweckmäßig, für die Sänger halte ich die zweite [= mit Schlüsselsimulation, relative Solmisation] für sicherer. Ich kenne ihre Schwierigkeiten und kann mich für keine der beiden entscheiden«. 30

Niccolò Zingarellis Gebrauch von alt und neu

Claire Roberts

Bevor wir auf die Frage des spezifischen Silbengebrauches bei Niccolò Zingarelli (1752–1837) eingehen, ist es nötig, einen kurzen Blick auf die Funktion der solfeggi in Italien zu werfen. Das Wort solfeggio (von sol-fa – im Deutschen und Englischen ›Solmisation‹ von sol-mi) beschreibt nicht nur das Lesenlernen von Noten, sondern im weiteren Sinne den Prozess des musikalisch belesen Werdens. Solfeggi wurden benutzt, um musiktheoretisches Wissen auf verschiedenen Ebenen zu vermitteln, vom einfachsten Elementarunterricht in Form des solfeggio parlato (Buchstabieren- und Lesenlernen) bis hin zum fortgeschrittenen Kontrapunktunterricht. 31 Als kleine, meist zwei- bis drei- und selten auch einstimmige, gesungene Stücke wurden sie in jeder Phase der Ausbildung eingesetzt. Somit haben Schüler*innen mit den solfeggi die musikalische Sprache der Zeit nicht nur buchstabieren und lesen, sondern auch ›sprechen‹ und sich damit eloquent ausdrücken gelernt. So stellen die über 1000 Solfeggi des Maestros und Konservatoriumsdirektors Zingarelli den gewichtigsten (erhaltenen) Teil seines musiktheoretischen und kompositorischen Unterrichtes dar.

Die Frage nach den jeweils dafür gebrauchten Silben ist nicht nur eine Frage nach der historischen Verortung, sondern auch eine Frage nach dem jeweiligen Unterrichtsinhalt. In Italien scheinen das alte System der Hexachord-Solmisation (sistema antico) und das neue siebentönige System (sistema moderno , ohne Mutation und mit si) lange gleichzeitig bestanden zu haben. Obwohl das neue System bereits in den 1730er Jahren aus Frankreich nach Italien gelangt war, 32 blieb das sistema antico noch circa 100 Jahre gebräuchlich. 33 Beweise für den späten Gebrauch des sistema antico können verschiedenen Lehrwerken entnommen werden. 34 Während vor allem im Elementarunterricht und für liturgische Gesänge das alte System der Hexachord-Solmisation nach Guido von Arezzo noch lange in Gebrauch war, wurde mit der Zeit häufig die scala composta vorgezogen, 35 eine oktavbasierte Variante des sistema antico als Transposition der zusammengesetzten Skala auf C aus den Hexachorden über C und G (naturale mit durum , mit den Silben doremifasol –/ remifa[solla]; [lasol]fami –/ lasolfamiredo) . 36 Parallel dazu gewinnt das französische System mit der siebten Silbe si an Bedeutung.

Aus den Sammlungen von Zingarellis autographen Solfeggi gibt es ein paar wenige Beispiele, bei denen die Skalentöne nach Silben beziffert sind. Interessanterweise kommt sowohl die Solmisation nach dem französischen System als auch die scala composta vor. Eine Sammlung für Tenor (I-Nc Solfeggio 430), wahrscheinlich aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, zeigt den Gebrauch von beiden Systemen. Die Sammlung beginnt, wie viele neapolitanische Quellen, mit der steigenden und fallenden Tonleiter von c bis g 1. Auf der ersten Seite dieser Sammlung sehen wir zunächst nur das moderne System mit den sieben Silben (Abb. 6).

Abbildung 6 I-Nc Solfeggio 430, fol. 1r.

Später, auf Folio 6r, sehen wir sowohl die scala composta als auch das sistema moderno , in einer Tonleiter, die über die Duodezime hinausgeht und das la des dritten Hexachords umfasst (Abb. 7).

Abbildung 7 I-Nc Solfeggio 430, fol. 6r.

In diesem kleinen Skalenbeispiel gibt es ein paar bemerkenswerte Details. Die erstnotierten Silben sind jene der zusammengesetzten Hexachorde, wobei sofort auffällt, dass in der steigenden Tonleiter erst zum fa und nicht wie üblich zum re in das letzte Hexachord gewechselt wird, quasi erst über das fa supra la des zweiten Hexachords. 37 Weiter interessant ist die Hinzufügung der siebten Silbe si und der alternativen ersten Silbe ut aus dem Hexachord des Guido von Arezzo. Und unter den Tönen stehen, als ob Zingarelli seinem Schüler an einem Beispiel alle Varianten der lettura delle note zeigen wollte, noch die Tonbuchstaben. Was will dieses Beispiel mit den mehrfachen Silbenbezifferungen verdeutlichen und warum wird in dieser Sammlung zuerst das moderne System markiert und danach erst – falls die beiden Beispiele für denselben Schüler bestimmt waren – die scala composta ? Sollte das zweite Beispiel ein kleiner (historischer) Abriss der verschiedenen gebräuchlichen Systeme sein?

Zingarelli gehörte zu den wichtigen Kirchenmusikern seiner Zeit und ist für seine Pflege der alten Lehrtraditionen bekannt, sodass die Nähe zum sistema antico nicht erstaunlich ist. Gleichzeitig muss ein später Gebrauch der scala composta kein Beweis für Rückwärtsgewandtheit sein; darüber lassen sich schlicht manche Grundlagen der Satzlehre direkter fassen. Hier ist vor allem der Halbtonschritt mifa mit den charakteristischen Strebetendenzen der Töne hervorzuheben, wobei jeweils unterschieden wird zwischen den mis der 3. und 7. und den fas der 1. und 4. Skalentöne. Darüber hinaus vereinfacht das Verständnis der direkten Quintbeziehung der Hexachorde auf der Tonika und der Dominante (und der daraus resultierenden zwei gleichen Tetrachorde der Durtonleiter) den satztechnischen Umgang mit den Leitertönen. 38

Die Situation im deutschsprachigen Raum: Von den Silben zu den Ziffern

Stephan Zirwes

Im deutschsprachigen Raum spielt bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Solmisation nach Hexachorden einschließlich der notwendigen Mutationen eine sehr untergeordnete Rolle in der pädagogischen Praxis. Johann Friedrich Agricola kritisiert in seiner Anleitung zur Singkunst aus dem Jahr 1757, bei der es sich um eine mit »Erläuterungen und Zusätzen« versehene Übersetzung von Pier Francesco Tosis Opinioni de’ cantori antichi, e moderni von 1723 handelt, das System der Hexachordmutationen, vor allem aufgrund des unvermeidbar langen und mühevollen Lernprozesses. Er diskutiert anschließend ohne eindeutige Präferenz verschiedene alternative Bezeichnungssysteme, wobei für ihn eine bequeme Aussprache oberste Priorität hat. 39 Friedrich Wilhelm Marpurg erläutert die Bezeichnung mit deutschen Tonnamen und macht auf die unterschiedliche Art der Benennung für die gleiche Vorgehensweise aufmerksam (»clavisiren«, »syllabisiren«, »abecediren« oder »buchstabiren«). 40 Die alternative Verwendung der »italienischen« Silben ut , re , mi , fa , so , la , si bezeichnet er als »solmisiren« bzw. »solfeggiren«. 41

Die einflussreichste Persönlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist unumstritten Johann Adam Hiller, einerseits durch seine Singschule und die damit verbundenen pädagogischen und künstlerischen Aktivitäten in und um Leipzig, andererseits durch die Vielzahl seiner publizierten theoretischen und praktischen Abhandlungen über das Singen. In seiner ausführlichsten Schrift zu den Grundlagen des Singens und zur Musik allgemein, der Anweisung zum musikalisch richtigen Gesange (1774), verwendet er zunächst ebenfalls die deutschen Tonnamen (»abcdiren«) und verknüpft so das Erlernen der Notenschrift mit dem »Treffen der Töne«. 42 Sobald dann die sprungweisen Tonfortschreitungen systematisch nach Intervallen geordnet geübt werden, verwendet Hiller eine Adaption des Carl Heinrich Graun zugeschriebenen Systems der Tonbenennung (die ›graunschen Silben‹, auch ›Damenisation‹ genannt). 43 Während es sich hierbei eigentlich um ein absolutes Solmisationssystem handelt, bei dem die Tonhöhen vom Ton c ausgehend mit da , me , ni , po , tu , la und be bezeichnet und Erhöhungen bzw. Erniedrigungen jeweils durch eine veränderte Endsilbe angezeigt werden, verwendet Hiller diese Bezeichnungen, die alle Vokale und die Konsonantenpaare d/t und b/p umfassen, ausschließlich als Ausspracheübung. Ohne Bezug zur Tonhöhe wird die Silbenkombination da–me–ni–po–tu–la–be immer wieder aneinandergereiht, um eine gute Artikulation zu üben, und nicht, um das Bewusstsein für die Unterscheidung von Halb- und Ganzton zu schärfen. 44

Anstelle einer Silbenbezeichnung, die durch die Benennung der einzelnen Töne die tonalen Kräfte innerhalb der Tonart veranschaulicht, konzentriert sich Hiller ganz auf das sukzessive Erfahren der einzelnen Intervalle. So wird jedes Intervall separat mit schematischen Übungen und einem dafür verfassten Singbeispiel praktisch erarbeitet, wie exemplarisch an den Notenbeispielen zur Quinte nachvollzogen werden kann (Abb. 8). 45

Abbildung 8 Singübungen zur Quinte (Hiller 1774, 106–108 und 115). Bilder: Bayerische Staatsbibliothek, 4 Mus.th. 678, urn:nbn:de:bvb:12-bsb10527276-7

Die Bemühungen Hillers, die Fähigkeiten im Singen und in der musikalischen Allgemeinbildung sowohl in der Laienmusikausbildung als auch in den allgemeinbildenden Schulen durch einen methodisch durchdachten Unterricht zu verbessern, können als Ausgangspunkt einer großen Bewegung im deutschsprachigen Raum verstanden werden, die in den folgenden Jahrzehnten stetig weitergeführt wurde. Dies lässt sich anhand der enormen Anzahl von schriftlichen Abhandlungen und Sammlungen mit Übungsbeispielen und Liedern nachvollziehen. Sehr häufig sind ähnliche inhaltliche Vorgehensweisen zu erkennen und oft wird Hiller explizit als prägende Figur genannt. 46 Das ›Syllabisieren‹ bzw. ›Abcdieren‹ ist dabei die mit Abstand häufigste Methode. In einigen Quellen wird alternativ oder zumindest für einen Zeitraum am Beginn der Ausbildung, die ausschließliche Verwendung des Vokals ›a‹ empfohlen, das sogenannte ›Vokalisieren‹. 47 Auch die ›graunschen Silben‹ werden in einigen Lehrbüchern weiter benutzt, jedoch ausschließlich in der Adaption Hillers. 48 Das Ausdrücken der tonalen Beziehungen durch die Silbenbezeichnung verliert somit im deutschsprachigen Raum stark an Bedeutung.

Ein alternatives System, welches besonders ab dem frühen 19. Jahrhundert auch im deutschsprachigen Raum Verwendung findet und gerade im Anfängerunterricht dann bevorzugt benutzt wird, ist die Zuordnung und bewusste Verknüpfung der Ziffern 1 bis 7 innerhalb der Tonart. Schrittweise werden dazu nach und nach die einzelnen Stufen der Durtonleiter mit ihrer jeweils charakteristischen Bedeutung im Bezug zum Grundton verinnerlicht. Erstmals wurde die Methode im deutschsprachigen Raum durch Johann Abraham Peter Schulz beschrieben. 49 Eine größere Rezeption erlangte sie durch die Gesangsbildungslehre nach pestalozzischen Grundsätzen (1810) von Michael Traugott Pfeiffer und Hans Georg Nägeli (Abb. 9). Einige Autoren in der Folge ersetzten die Notenschrift zur Vereinfachung am Beginn der Ausbildung vollständig durch die Ziffern. Da die deutschen Ziffernnamen als gesungener Text nicht als ideal angesehen wurden, verwendete man anstatt der Ziffernnamen auch andere Silben, wie z.B. ›la‹. 50

Abbildung 9 Übungen im Quartraum der Durtonleiter (Pfeiffer/Nägeli 1810, 50). Bild: Bayerische Staatsbibliothek, 4 Mus.pr. 67357, urn:nbn:de:bvb:12-bsb10527536-1.

Weitere Verbreitung erlangte das Ziffernsystem in der Folge vor allem durch den einflussreichen Pädagogen und Schulreformer Bernhard Christoph Ludwig Natorp. 51 Letztlich konnte sich das Ziffernsystem jedoch nie ganz durchsetzen, da schon die Verwendung einer Molltonart oder die Modulation in eine nahverwandte Tonart die Methode vor grundlegende Schwierigkeiten stellt. Es eignet sich daher vor allem in der absoluten Grundlagenausbildung der allgemeinbildenden Schulen.

Die Gründung von Konservatorien und Musikhochschulen im deutschsprachigen Raum – und hiermit verbunden die professionelle, institutionalisierte musikalische Ausbildung – entwickelte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts und somit später als den hier untersuchten Zeitraum; nicht selten entstanden sie jedoch aus einer Singschule als Vorgängerinstitution. 52 Es verwundert daher nicht, dass auch hier die Verwendung von Tonsilben eine im Vergleich zu den benachbarten Ländern sehr untergeordnete Rolle spielte.

Schlussbemerkungen

Claudio Bacciagaluppi, Michael Lehner

Der Befund zeigt, dass die Solmisation mit Hexachord-Mutationen zwar in Frankreich bereits im späten 17. Jahrhundert veraltet war und im evangelischen Deutschland im Verlauf des 18. Jahrhunderts verschwand, in Italien und Spanien aber erst nach 1800 allmählich und nicht widerstandslos aufgegeben wurde. Mit dem progressiven Verfall des mehrere Jahrhunderte lang fast universell angewendeten Hexachordsystems entstand überall eine Lücke in der Ausbildung der jungen Musiker*innen. Es war und bleibt eine sinnvolle pädagogische Methode, Kindern die Tonsprache und das Notenlesen über den Gesang zu vermitteln. Die im besprochenen Zeitraum festgestellte Pluralität entspricht diesem Bedürfnis, das drohende oder bereits entstandene Vakuum zu füllen. Bis heute existieren große nationale Unterschiede im Unterricht des Faches solfège , solfeggio , solfeo . Ebenso koexistieren verschiedene Methoden, vor allem finden sich heute neben der (immer noch überwiegenden) absoluten Solmisation auch verschiedene Varianten der relativen Solmisation. 53

Was passierte aber im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts? Eine Vereinheitlichung geschah in erster Linie durch die Konservatorien, welche sich allmählich als wichtigste Ausbildungsstätten für professionelle Musiker*innen behaupteten. Damit einhergehend verliefen die Grenzen der Anwendung unterschiedlicher Methoden immer stärker entlang der Landes- bzw. der Sprachgrenzen. Gleichzeitig wurden allmählich die funktionalen und institutionellen Unterschiede weniger wichtig: Ende des Jahrhunderts dürfte auch in Klosterschulen die gleiche Musiktheorie wie am Konservatorium vermittelt worden sein.

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Inhaltsverzeichnis
  1. cover
  2. imprint
  3. Vorwort
  4. Writing Sound Into the Wind
  5. Zwischen Federkiel und digitaler Codierung: Musikalische Schrift als mediales Spannungsfeld
  6. Mathematische Remodellierung zur Erforschung der exakten Semantik einfacher konventioneller Notationssysteme
  7. Von Übernotation und Unternotation
  8. Notation und Analyse von Tonhöhenverläufen in Sprechmelodien
  9. Transición II by Mauricio Kagel
  10. Zwischen Freiheit und Intention – Zur Notation von Berios
  11. Handlungsraum oder Hürde?
  12. Von zu
  13. Notation, Interpretation, Improvisation
  14. Notation of an Archetype
  15. Unspielbare Musik
  16. Revolution, Edition, Produktion, Revision
  17. Ein Babel der Gehörbildung?
    1. Inhalt und Ziel des Artikels
    2. Allgemeine Überlegungen
    3. Die Situation in Frankreich: Absolute Tonnamen als Konsens
    4. »Ich kenne ihre Schwierigkeiten und kann mich für keine der beiden Methoden entscheiden«. Das Fallbeispiel Pedro Carrera
    5. Niccolò Zingarellis Gebrauch von alt und neu
    6. Die Situation im deutschsprachigen Raum: Von den Silben zu den Ziffern
    7. Schlussbemerkungen
    8. Literatur
  18. Musik verstehen ohne Noten? Notationskonzepte für Schule und Musikschule
  19. Blended Learning im Musiktheorieunterricht
  20. Kontinua aus Diskontinuitäten
  21. »Ein Kaleidoskop im klassischen Rahmen«
  22. »[…] aus mehr oder weniger zerklüfteten Bruchstücken große, weitläufige musikalische Formgebilde […] bauen.« Klanglich-aufführungspraktische Gestaltung makroformaler Zusammenhänge in Tonaufnahmen von György Kurtágs für Sopran und Violine op. 24
  23. Towards a ‘Treatise’ of 7-Limit Harmony
  24. Jenseits von Funktion und Konstrukt Teil 1
  25. Beobachtungen zur Verlaufsgestaltung klassischer Sonatenexpositionen
  26. »Muti una volta quel antico stile«. Aspekte einer Quintfall-Passage bei Luca Marenzio