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Notation. Schnittstelle zwischen Komposition, Interpretation und Analyse

von Philippe Kocher (Hg.), © 2024 Gesellschaft für Musiktheorie, Berlin

PDF Zitiervorschlag

Philippe Kocher

Handlungsraum oder Hürde?

Gedanken zur Operativität der Notenschrift in tempopolyphoner Musik

Die abendländische Kunstmusik ist geprägt von ihrer Schriftkultur. Die musikalische Schrift ist jedoch nicht nur ein Zeichensystem, das der Archivierung und Kommunikation des musikalischen Klanges dient, 1 sondern sie prägt auch den Kompositionsprozess. Die Vorstellung, dass Komponist*innen ihre Musik im Kopf vollständig bis zur letzten Note ausformulieren und erst dann im Akt des Niederschreibens in einem Zug zu Papier bringen, ist naiv. Der Akt des Schreibens ist selbst ein Bestandteil des musikalischen Erfindens; viele nebulöse, amorphe und unzusammenhängende Klangvorstellungen werden erst im Verlauf des Notierens geschärft, viele musikalische Gedanken überhaupt erst verfertigt. 2 In diesem Sinne ist das Notationssystem ein Denk- und Handlungsraum. 3

Dass die Schrift neben ihrer Semantik auch eine Operativität besitzt, wurde in der Forschung zur Schriftbildlichkeit, die auch die kreative, explorative und kognitive Rolle der Schrift betrachtet, konzeptualisiert. 4 Als Beispiele werden gerne das Lösen von Kreuzworträtseln, das schriftliche Rechnen oder das Umformen von mathematischen Gleichungen angeführt, weil sich gerade dort eine Verwendung von Schrift zeigt, die über das bloße Festhalten von Information hinausgeht. Ein wichtiger Aspekt dieser Operativität liegt darin, dass eine Externalisierung stattfindet, dass Prozesse ›aus dem Kopf‹ ausgelagert und Zeichen nach syntaktischen Regeln manipuliert, variiert und rekombiniert werden können. 5 Dadurch können Konzepte ausgebildet und neue Zusammenhänge hergestellt werden. Zudem kommt auch der Selbstlektüre eine wichtige Funktion zu: Sie wirkt als produktive Kraft, indem das Lesen des selbst Geschriebenen hilft, die eigenen Gedanken zu überprüfen und weiter zu formen. 6

Die Konstruktion musikalischer Zusammenhänge ist ab einem gewissen Komplexitätsgrad ohne Notation nicht mehr denkbar. Nur mit Elementen, die sich schriftlich festhalten lassen, kann kompositorisch gearbeitet werden. 7 Die Notation beeinflusst auch, was sich Komponist*innen überhaupt vorstellen können, denn die Vorstellung, so spitzt es Karlheinz Stockhausen zu, ist immer darauf eingeschränkt, was ein optisches Zeichensystem überhaupt übermitteln kann. 8 In einer solchen Äußerung kommt natürlich auch zum Ausdruck, wie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine Phase des Experimentierens mit der Notation begann und die traditionelle Notenschrift um etliche neue Zeichen und Darstellungsformen bereichert wurde. 9 Wie die Schrift das kompositorische Denken prägt, zeigt sich in verschiedener Weise. Ebenso wie die Schrift das kreative Handeln befördert, kann sie es auch einschränken. Jedes Notationsformat, ob es sich um Mensuralnotation, moderne Notenschrift oder experimentelle Schriftformen des 20. Jahrhunderts handelt, hat seine strukturellen Grenzen und eignet sich damit nur für die Darstellung bestimmter kompositorische Konzepte. In welcher spezifischen Weise sich dies im Zusammenhang mit experimentellen Tempodispositionen auswirken kann, soll in der Folge diskutiert werden. Insbesondere stellt sich die Frage, wie Komponist*innen damit umgehen, dass bei der Notation tempopolyphoner Musik verschiedene Tempi und damit verschiedene Zeitmaßstäbe gleichzeitig dargestellt werden müssen.

Zeitdarstellung in musikalischen Notaten

Eine der bildlichen Eigenschaften der Schrift ist ihre räumliche Gerichtetheit. So zeichnen sich beispielsweise die Schriftkulturen Europas dadurch aus, dass sie vorrangig horizontal, von links nach rechts, orientiert sind. Diese Orientierung bestimmt die primäre Leserichtung und gibt damit auch die Zeitachse vor. Die einzelnen auf dieser Zeitachse dargestellten Symbole bezeichnen diskrete Punkte im Zeitfluss und ihr Nebeneinander im Raum stellt ein Nacheinander in der Zeit dar. Eine weitere, für die hier vorgenommenen Betrachtungen ebenfalls wichtige Eigenschaft der Schrift ist, dass diese lineare Ordnung der Symbole entlang der Zeitachse bearbeitet werden kann. Nach Friedrich Kittler ist es konstitutiv für alle Medien, dass sie Zeitachsenmanipulation erlauben, 10 indem sie die Zeit von ihrer Irreversibilität entheben und sie durch Verräumlichung wiederholbar und umstellbar machen. In Bezug auf Musik lassen sich ohne Weiteres Beispiele finden, bei denen der zeitliche Ablauf manipuliert wird: Krebsgänge, Augmentationen oder Diminutionen, 11 lauter kompositorische Operationen, die ganz wesentlich auf Schriftlichkeit beruhen.

Eine weitere Besonderheit des musikalischen Notats liegt darin, dass der Zeitverlauf nicht nur durch eine bedeutungstragende räumliche Anordnung der Symbole dargestellt wird, sondern auch durch die Symbole selbst. Die Rede ist von den grafischen Differenzierungen, mit denen Notenwerte ausgedrückt werden. 12 Der Notenwert ist eine semantische Eigenschaft der Schriftzeichen. Damit ist es in der musikalischen Notation auch nicht zwingend notwendig, dass die Strecken auf der Abbildungsfläche den Zeiteinheiten proportional entsprechen. Dies vereinfacht das Aufschreiben von Musik: Es ist nicht nötig, sich um mehr als die Reihenfolge, das korrekte ›Vorher-Nachher‹, der Symbole zu kümmern, die präzise zeitliche Ordnung ergibt sich aus den Notenwerten.

Als Partitur wird die synoptischen Darstellung von mehrstimmiger Musik bezeichnet, bei der alle Stimmen im gleichen Lesebereich abgebildet sind und dieselbe Zeitachse sowie denselben Zeitmaßstab verwenden. Die Partitur ermöglicht, sich beim Lesen einen Überblick zu verschaffen, und hilft den Komponist*innen, mehrstimmige Musik auszuarbeiten. Aufgrund der gemeinsamen Zeitachse müssen gleichzeitig in verschiedenen Stimmen stattfindende Ereignisse in der Partitur senkrecht übereinander angeordnet sein. Beim Schreiben muss berücksichtigt werden, dass der Platzbedarf von der Stimme mit den kürzesten Notenwerten bestimmt ist und die längeren Notenwerte proportional dazu ausgerichtet werden.

Um die Zeitdarstellung in tempopolyphonen Partituren diskutieren zu können, ist es nötig, verschiedene kompositorische Konzepte und die damit zusammenhängenden Notationsformen zu unterscheiden. Es kann eine Unterteilung in freie, kontrollierte und rhythmisch gebundene Tempopolyphonie vorgenommen werden. Die Hauptkriterien sind dabei die kontrapunktische Präzision, die dadurch bestimmt ist, ob das Zusammentreffen aller klingenden Ereignisse genau festgelegt ist, und das Vorhandensein eines gemeinsamen Referenztempos, auf das sich alle Ausführenden beziehen (Abb. 1).

Abbildung 1 Verschiedene Formen von Tempopolyphonie.

Bei der freien Tempopolyphonie sind die gleichzeitig erklingenden Temposchichten nicht oder nur lose koordiniert. Die dadurch entstehende zeitliche Unschärfe ist kein Mangel, sondern Teil der kompositorischen Konzeption. Die Individualität der Schichten steht so sehr im Zentrum, dass das punktuelle Zusammentreffen der Töne sekundär ist. Möglicherweise handelt es sich um eine Collage und die einzelnen Temposchichten sind mit einer referenziellen Bedeutungen behaftet, oder die freie Tempopolyphonie bringt abstrakte Qualitäten zum Ausdruck wie z.B. Verschiedenheit, Selbstständigkeit oder Unabhängigkeit der Temposchichten. Die frühesten Beispiele dafür finden sich im Œuvre von Charles Ives.

Als rhythmisch gebunden werden alle Formen von Tempopolyphonie bezeichnet, bei denen die Tempoproportionen durch Notenwerte ausgedrückt werden. Abb. 2 zeigt beispielhaft zwei Möglichkeiten, die Tempoproportion 4:5 darzustellen. Eine frühe Erscheinungsform dieses Prinzips sind Prolationskanons, deren älteste Beispiele in das 14. Jahrhundert zurückreichen. Unzählige Beispiele in der Musik des 20. Jahrhunderts lassen sich bei Elliott Carter finden, für dessen Personalstil ab den 1950er Jahren die rhythmisch gebundene Tempopolyphonie konstitutiv ist. 13

Abbildung 2 Darstellung eines Tempos, das im Verhältnis 5:4 zum Referenztempo steht; a) additives Prinzip, b) divisionales Prinzip.

Die Stärke der rhythmisch gebundenen Tempopolyphonie liegt darin, dass die Temposchichten untereinander Ton für Ton präzise synchronisiert sind und die Ausführenden eingeübte und verinnerlichte Mechanismen des Zusammenspiels nicht aufgeben müssen, da sich alle an einem gemeinsamen Referenztempo orientieren können. 14 Die Schwäche der rhythmisch gebundenen Tempopolyphonie liegt erstens in der Beschränkung der Tempoverhältnisse auf (einfache) rationale Proportionen und zweitens in den begrenzten Möglichkeiten der rhythmischen Differenzierung innerhalb der einzelnen Temposchichten, da die Notenwerte ja schon zur Darstellung des Tempos verwendet werden. Zudem resultiert oft ein Notentext, der rhythmisch viel komplizierter aussieht als das eigentlich darzustellende Phänomen.

Nur die kontrollierte Tempopolyphonie ermöglicht die kompositorisch völlig freie Handhabung paralleler Tempi, die zueinander in beliebigen Verhältnissen stehen und sich sogar unabhängig voneinander beschleunigen oder verlangsamen können. Trotz dieser Freiheit bleibt zu jedem Zeitpunkt präzise unter Kontrolle, wie sich die Temposchichten zueinander verhalten und welche musikalischen Ereignisse gleichzeitig erklingen. Da es kein gemeinsames Referenztempo gibt, ist diese Form der Tempopolyphonie meist auf ein technisches Hilfsmittel zur Tempokoordination angewiesen.

Soll eine kontrollierte Tempopolyphonie in einer Partitur notiert werden, gilt auch hier, dass alle Stimmen eine gemeinsame Zeitachse besitzen und gleichzeitige Ereignisse senkrecht übereinander angeordnet sind. Der große Unterschied zu tempomonophonen Partituren liegt jedoch darin, dass beim Schreiben die richtige horizontale Platzierung der Symbole nicht nur anhand der Notenwerte hergeleitet werden kann, sondern zusätzlich auch das Tempo berücksichtigt werden muss. Zur Darstellung der zeitlichen Ordnung wird es also nötig, zu einer präzisen, zeitproportionalen (d.h. maßstäblichen, analogen) Abbildung überzugehen.

In einer tempopolyphonen Partitur muss die räumliche Position jeder Note errechnet werden, indem der Notenwert mit einem, aus dem Verhältnis der verschiedenen Tempi hergeleiteten Proportionalitätsfaktor multipliziert wird. Solche Berechnungen sind nur bei einfachen, ganzzahligen Tempoverhältnissen mühelos im Kopf zu bewältigen. Bei komplexeren Tempoverhältnissen und besonders bei dynamischen Tempopolyphonien kann das ziemlich anspruchsvoll werden (Abb. 3). Eine Partitur, die in adäquater Weise die Gleichzeitigkeit von mehreren verschiedenen Tempoströmen darstellen soll, ist eine grafische Herausforderung. 15 Auch gängige Notensatzprogramme, die bei tempomonophonen Partituren das horizontale Ausrichten der Noten automatisch vornehmen, sind bei tempopolyphonen Partituren keine große Hilfe und die Darstellung gewisser Tempokonstellationen kann oft nur mit abenteuerlichen technischen Tricks erreicht werden. Auch Programmierumgebungen für algorithmische Komposition, bieten bei der Notendarstellung von (insbesondere dynamischen) Tempopolyphonien meist nur Teillösungen an. 16

Abbildung 3 Notation einer statischen Tempopolyphonie (oben) und einer dynamischen Tempopolyphonie (unten).

Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten stellt sich die Frage, in welcher Weise die Schriftlichkeit in tempopolyphoner Musik eine Operativität entfalten kann. Es ist interessant zu beobachten, auf welche Arbeitsmethoden die Komponist*innen sich festlegen und welche Rolle die Schrift dabei spielt. Denn jede Methode beeinflusst in einer gewissen Weise das Denken und prägt sich damit der Musik auf.

Conlon Nancarrow, ein Pionier der tempopolyphonen Musik

Frustriert von unbefriedigenden Aufführungen seiner rhythmisch diffizilen Musik, entschied sich Conlon Nancarrow nur noch Stücke für das Selbstspielklavier zu komponieren. 17 Seine seit den späten 1940er Jahren komponierten Studies for Player Piano sind Pionierleistungen im Feld der tempopolyphonen Musik; für fast jede erdenkliche Art von Tempodisposition findet sich dort ein Beispiel. Mit dem Selbstspielklavier konnte Nancarrow die Grenzen menschlicher Genauigkeit und Geschwindigkeit umgehen und man möchte annehmen, dass dies zu größter kompositorischer Freiheit führte. Doch es zeigt sich ein anderes Bild: An die Stelle der Einschränkungen durch menschliche Interpret*innen traten Einschränkungen durch die verwendeten Apparate und Verfahren. 18

Das Notat für das Selbstspielklavier ist eine Notenrolle mit millimetergenau gestanzten Löchern. Um sie herzustellen, benutzte Nancarrow zunächst eine Stanzmaschine mit festem Vorschub, was dazu führte, dass der Abstand der Löcher und damit der zeitliche Abstand der Töne immer einem festen Raster unterworfen war. Durch die daraus resultierende Ordnung der Einsatzabstände ergeben sich zwangsläufig auf ganzzahligen Verhältnissen beruhende Temporelationen. Solche Tempostrukturen besitzen nur einen bescheidener Komplexitätsgrad und lassen sich problemlos in traditioneller Notenschrift darstellen. Tatsächlich notierte Nancarrow seine ersten zwanzig Studies immer zuerst in Standardnotation, 19 bevor er sie in die Notenrolle stanzte. Hier zeigt sich, wie das Aufschreibesystem, dessen charakteristischstes Element im vorliegenden Fall die Stanzmaschine ist, die kompositorischen Möglichkeiten eingrenzt.

Nun hatte Nancarrow sich jedoch gerade deshalb dazu entschieden, für das Selbstspielklavier zu komponieren, weil er nach einer adäquaten Möglichkeit zur Ausführung von komplexen Rhythmen suchte. Also ließ er seine Stanzmaschine so umbauen, dass der Stanzschlitten kontinuierlich bewegt werden konnte, 20 und befreite dadurch die Gestaltung des Tempos von jeglichen mechanischen Vorgaben. Jedoch brachte diese Flexibilität auch mit sich, dass der verlässliche räumliche Halt der mechanischen Rasterung wegfiel. Damit wurde ein anderes Verfahren nötig, um die Abstände auf der Notenrolle einzuteilen. Nancarrow musste eine Arbeits- und Schreibmethode finden, die sich nicht mehr mittelbar, d.h. über die Symbolik der Notenschrift oder das Raster der Stanzmaschine, sondern unmittelbar mit der Räumlichkeit der Notation auseinandersetzt. Die einzelnen Schritte dieser Methode werden im Folgenden erläutert.

In einem ersten Schritt legte Nancarrow die Tempostruktur des Stücks fest und zeichnete die Zeitskalen (eine pro Temposchicht) auf eine leere Notenrolle (Abb. 4). Als Hilfsmittel verwendete er schmale Pappstreifen, auf denen je ein bestimmtes Tempo markiert war, als Schablonen. Über die Jahre sammelten sich etliche solche Schablonen für verschiedene Tempoverhältnisse an, die Nancarrow in einem Schubladenschrank aufbewahrte. Obwohl dieses Hilfsmittel die Arbeit beschleunigte, war das Übertragen der Zeitskalen auf die Notenrolle eine zeitaufwendige Angelegenheit und konnte bei komplexen Kompositionen einige Monate in Anspruch nehmen. 21 Dieselben Schablonen verwendete Nancarrow in einem nächsten Schritt, um auch auf konventionellem Notenpapier Zeitskalen aufzuzeichnen. Danach begann das ›eigentliche Komponieren‹. Auf dem Notenpapier entwarf er das Stück und organisierte die Tonhöhen. Diese Manuskripte bezeichnete er als Stanzpartituren (punching scores) . Sie enthalten alle für die Stanzung relevanten Angaben: die Temposkala, die Dynamikangaben und oft auch noch weitere Hinweise. Von diesen Stanzpartituren übertrug er die Noten auf die Notenrolle wobei er den frei bewegbaren Stanzschlitten mithilfe eines feinen, quer über das Papier gespannten Drahtes genau an den auf der Notenrolle eingezeichneten Zeitskalen ausrichten konnte.

Abbildung 4 Ausschnitt aus der Notenrolle von Conlon Nancarrows Study for Player Piano No. 47. Am oberen Rand befinden sich fünf Zeitskalen für die verschiedenen Tempi der fünf Stimmen.

Bei einer kritischen Betrachtung von Nancarrows Arbeitsmethode zeigt sich, wie sehr die technischen Bedingungen des Aufschreibesystems auch die Denkweise prägen. Der erste Arbeitsschritt ist mit ›Festlegen der Tempostruktur‹ beschrieben. Nancarrow behauptet, dass er immer von Anfang an wisse, wie die Tempoproportionen auszusehen haben. 22 Damit stellt er also das Erfinden einer Tempostruktur als kreative Initialzündung dar. Darin zeigt sich nicht nur sein besonderes Interesse für die zeitliche Organisation der Musik, sondern auch eine Voraussetzung, die durch die Verfahrensweise gegeben ist. Die Arbeit auf der Notenrolle bedingt, dass die Position eines jeden Lochs, bevor es gestanzt werden kann, millimetergenau festgelegt ist. Dazu ist das Aufzeichnen der Temposkalen auf der Notenrolle nötig. Eine zeitaufwendige Arbeit, die nach ihrer Vollendung zu einem festgelegten Raster führt, das sich nachträglich nicht mehr einfach verändern lässt. So wie Nancarrow arbeitet, muss das Erfinden der Tempostruktur zu Beginn stehen.

Kompositionen für das Projekt Polytempo

Die Gemeinsamkeit und damit auch die Vergleichbarkeit der im Folgenden betrachteten Werke 23 liegt darin, dass sie im Rahmen des künstlerischen Forschungsprojekt Polytempo 24 komponiert wurden. Im Gegensatz zu Nancarrows Studies handelt es sich nicht um Musik für ein mechanisches Instrument, sondern um von Menschen gespielte Instrumentalmusik. Die zentrale Frage lautet: Welche Art der Notation wählen die Komponist*innen und wie nutzen sie die Operativität dieser Notation? Es zeigt sich, dass die Herausforderungen, die die Notation von tempopolyphoner Musik bietet, in verschiedener Weise angegangen werden, dass sie Anlass für neue, teils aufwendige Arbeitsmethoden sind und dass sie bisweilen auch Vermeidungsstrategien provozieren, mit denen die Komponist*innen gewissen Problemen von vornherein ausweichen.

Alle Notate, die in der Folge betrachtet und diskutiert werden, 25 gehören je zu verschiedenen Stadien der Ausarbeitung einer Komposition und lassen sich, bezüglich ihrer Funktion, wie folgt klassifizieren:

a) Materialskizzen, die dazu dienen, gewisse Details isoliert auszuarbeiten oder zu einem einem bestimmten Materialaspekt eine Auslegeordnung anzufertigen (z.B. eine Liste von Multiphonics). Es besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zur Zeitlichkeit der Musik, außer es werden hier – rein mathematisch, einzig auf der Basis von Zahlen – Temporelationen entworfen. Es handelt es sich, um einen Begriff Xenakis’ zu verwenden, um die Aufzeichnung von musikalische Strukturen hors-temps.

b) Verlaufsskizzen, die ebenfalls nur einen einzigen (oder nur einige wenige) Parameter isoliert darstellen, mit denen gleichzeitig aber auch – zumindest in einer pauschalen Form – der zeitliche Verlauf dieser Parameter entworfen wird (z.B. die Entwicklung der Harmonik als eine Abfolge von Klängen). Es kann es sich hierbei auch um Notate handeln, mit denen die Abfolge von Tempowechseln oder die zeitliche Entwicklung der Temporelationen konstruiert werden.

c) Arbeitspartituren, in der alle tonhöhen- und zeitbezogenen Parameter zu einem mehr oder weniger ›vollständigen‹ musikalisches Notat zusammengefügt werden. Die Operativität der Partiturdarstellung wird genutzt und das Zusammenklingen der Stimmen und die kontrapunktischen Beziehungen entworfen. Für diese Partiturdarstellungen richten sich die Komponist*innen oft das Notenpapier ein und versehen es im Voraus mit einem Temporaster.

d) Reinschriften, die für die Aufführung der Musik verwendet werden. Oft reicht eine sauber geschriebene Arbeitspartitur und es werden nur die Einzelstimmen ins Reine geschrieben, oder die Instrumentalist*innen spielen aus einer Spielpartitur.

Zunächst eine lapidare Feststellung: Tempopolyphonie ist für viele Komponist*innen ungewohnt. Das miteinander Musizieren ohne die Absicherung durch einen gemeinsam etablierten Puls ist unserer Musikkultur fremd. Selbst dann, wenn die Komponist*innen sich für experimentelle Tempostrukturen interessieren, bleibt das Vorhaben, solche Tempostrukturen selber zu entwerfen, den tempopolyphonen Kontrapunkt zu kontrollieren und die Musik in einer Partitur zu notieren, aufgrund der vielen Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, einschüchternd. Dies kann dazu führen, dass — oft auch unwillkürlich — Verfahren gesucht werden, um diesen Herausforderungen ausweichen. Solche Vermeidungs- und Vereinfachungsstrategien können darin bestehen, dass nur gewisse (kurze) Teile des Stücks tatsächlich tempopolyphon sind, oder darin, dass die Polyphonie und Harmonik so angelegt wird, dass ›alles mit allem‹ zusammenpasst.

Das Werk A Green Thing (2017) von Angel Hernández-Lovera ist durchaus als tempopolyphone Musik wahrnehmbar (verschiedene Tempi, regelmäßige Rhythmen aus Viertelnoten), aber es ist flächig und in Schichten angelegt und damit bezüglich der kontrapunktischen Bezüge zwischen den Stimmen nicht detailliert ausgearbeitet (Abb. 5). Bei der Reinschrift hielt es der Komponist nicht für nötig, das Notationsprogramm zu ›überlisten‹. Die verschiedenen Tempi wurden zwar rechnerisch berücksichtigt, was sich in der Anzahl Wiederholungen oder in der Dauer, während der ein Muster wiederholt wird, zeigt. Aber grafisch sind alle Viertelnoten ohne Rücksicht auf das Tempo genau übereinander ausgerichtet, wie sich mit einem Lineal gut nachmessen lässt.

Abbildung 5 Die erste Partiturseite von Angel Hernandez’ A Green Thing .

Bei Stefan Wirths Werk Manduria (2016) wird ein größeres Ensemble in sieben Kleinformationen aufgeteilt. Jede dieser Formationen besitzt einen individuellen musikalischen Charakter und durch das Aufeinandertreffen und Überlagern dieser Charaktere entsteht eine Art polystilistische Collage. Die musikalische Individualität wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die einzelnen Instrumentalgruppen im Raum verteilt aufgestellt sind und teilweise in verschiedenen Tempi spielen. Die Tempoverhältnisse sind teils einfach gewählt (q = 72 : q = 96, entspricht 3 : 4) teils etwas anspruchsvoller (q = 72 : q = 123.4, 26 entspricht 7 : 12), aber es handelt sich immer um ganzzahlige Verhältnisse. Zudem zieht sich das Basistempo MM = 72 wie ein Rückgrat durch das ganze Stück; es ist immer in mindestens einer Instrumentengruppe präsent und alle anderen Tempi beziehen sich darauf. Damit besteht die Tempopolyphonie aus einer Überlagerung von Tempi, die sich ohne Weiteres in traditioneller Notation darstellen lässt, z.B. benötigen drei 4/4-Takte im Tempo q = 72 dieselbe Dauer wie vier 4/4-Takte im Tempo q = 96. Dies führt zu überschaubaren Konvergenzperioden und häufig zusammenfallenden Taktstrichen. Dadurch konnte Wirth in gewohnter Weise handschriftlich vorgehen und die Übersichtlichkeit und Operativität der traditionellen Partitur nutzen (Abb. 6). Die Disposition der Tempi fand in einem vorausgehenden Arbeitsschritt statt und führte zu einer Verlaufsskizze, auf der tabellarisch für jede Kleinformation die Abfolge der Tempi verzeichnet ist. Hier konnte Wirth auch die Länge der einzelnen Abschnitte festlegen: Sie ergibt sich aus der Länge der Konvergenzperioden oder ihren ganzzahligen Vielfachen.

Abbildung 6 Ausschnitt aus einer Partiturseite von Stefan Wirths Manduria. Piccolo und Kontrabass im Tempo q = 96, Oboe und Trompete im Tempo q = 123.4, die Klarinetten 1 und 2 im Tempo q. = 72.

Karin Wetzel wählte für ihr Werk Seiltanz (2018) eine Überlagerung von vier nahe beieinander liegenden Tempi (q = 51, q = 54, q = 57, q = 64). Dieses Tempoverhältnis lässt sich nicht weiter kürzen und kann damit auch nicht notationsgebunden dargestellt werden. Alle vier Temposchichten sind in einem ›neutralen‹ 4/4-Takt notiert; es ergibt sich alle 80 Sekunden ein gemeinsamer Taktstrich und die Komponistin setzt an diesen Stellen auch eine Studienziffer. 27 Im ganzen Stück gibt es fünf vollständige Konvergenzperioden, die sechste bleibt unvollständig. Da die Komponistin nicht auf die Operativität der handschriftlichen Partitur verzichten wollte, legte sie schon früh im Arbeitsprozess das Tempogerüst fest und richtete sich für das ganze Stück Notenpapier ein (36 Seiten mit einer oben angebrachten Zeitleiste, 13 Sekunden pro Seite, mit millimetergenau platzierten Taktstrichen). Abb. 7 zeigt eine Seite aus der Arbeitspartitur. Daneben existieren noch eine Materialskizze, auf der die Komponistin verschiedene Multiphonics auflistete, sowie eine Verlaufsskizze, mit der Tonhöhen und harmonische Entwicklung in einen zeitlichen, aber noch nicht konkret rhythmisierten Ablauf gebracht wurden (Abb. 8).

Abbildung 7 Eine Seite der Arbeitspartitur von Karin Wetzels Seiltanz für Saxophonquartett. Ganz oben steht die Zeit in Sekunden, alle Taktstriche wurden im Voraus millimetergenau platziert.

Abbildung 8 Verlaufsskizze für Karin Wetzels Seiltanz . Die eingekreisten Nummern über dem Notensystem bezeichnen Partiturseiten.

Auch Carlos Hidalgo konstruierte für sein Werk scorrevole fluido (2018) zuerst ein Tempogerüst und richtete sich dann das Notenpapier für die Arbeitspartitur ein. Die Tempi sind in allen Stimmen stets verschieden und wechseln häufig. Für die Disposition der Tempostruktur verwendete Hildalgo Werkzeuge der computerunterstützten Komposition. Mit der Programmierumgebung Open Music erzeugte er ein Raster in Viertelnoten, die er als Grafik exportierte und ausdruckte. Dies bildete das Gerüst für die Arbeitspartitur, auf der Hidalgo dann harmonische, rhythmische und klangliche Details entwerfen konnte (Abb. 9). Die ausnotierte Umsetzung dieser Details wurde in den Einzelstimmen ausgeführt, eine Partiturreinschrift extistiert nicht.

Abbildung 9 Arbeitspartitur zu Carlos Hidalgos scorrevole fluido .

Bei meiner eigenen Komposition Hier und dort habe ich die Tempostruktur ebenfalls im Voraus festgelegt. Alle Instrumente spielen in unterschiedlichen, ständig zwischen q = 40 und q = 100 fluktuierenden Tempi. Diese dynamische Tempopolyphonie ist so disponiert, dass sich alle sechs Sekunden ein Synchronisationspunkt ergibt, an dem die Taktschläge aller Stimmen zusammenfallen (Abb. 10). Diese Tempostruktur ist anspruchsvoll, weil sich alle Tempi ständig verändern und daraus viel komplexere Rhythmen resultieren als es das vergleichsweise schlichte Notenbild suggeriert. Gleichzeitig lässt sie sich kompositorisch einfach handhaben, weil die häufig auftretenden Synchronisationspunkte es ermöglichen, alle zwei Takte einen durchgehenden Taktstrich zu ziehen. Wird in Kauf genommen, dass, außer zu Beginn jedes zweiten Taktes, die Töne nur annähernd richtig ausgerichtet sind, kann eine solche Partiturdarstellung verhältnismäßig einfach und selbst in einem herkömmlichen Notensatzprogramm ohne große Trickserei realisiert werden.

Abbildung 10 Partiturseite aus Philippe Kochers Hier und dort für vier Sopransaxophone.

Es drängt sich eine grundsätzliche Frage auf: Wenn doch die Partiturdarstellung in tempopolyphoner Musik so sperrig ist, weshalb nicht aus der Not eine Tugend machen und nach Wegen suchen, die gänzlich ohne Partiturdarstellung auskommen? Natürlich gibt man dadurch die Operativität der Partitur auf, aber an ihre Stelle können andere, oft mathematische oder spekulative Konzepte treten. Bei meinem Klaviertrio Série rouge handelt es sich um ein Werk mit einer mehrdeutigen Form. Jede Stimme kann in drei verschiedenen Tempi gespielt werden und so ergeben sich drei Tempo-Konstellationen, die derart beschaffen sind, dass jedes Instrument einmal das schnelle, das mittlere und das langsame Tempo spielt (Abb. 11). Von diesem Stück gibt es keine Partitur. Abgesehen davon, dass es äußerst aufwendig gewesen wäre, die drei Tempo-Konstellationen zu notieren (die drei Tempi stehen im irrationalen Verhältnis des Goldenen Schnittes), war auch der Prozess des Skizzierens und Ausarbeitens der Musik damit konfrontiert, dass jeder Ton dieser Musik in verschiedenen Kontexten vorkommen, d.h. zusammen mit anderen Tönen erklingen kann. Um die Gestaltung der Zusammenklänge unter Kontrolle zu behalten, musste dem eigentlichen Töne-Setzen ein beträchtliches Maß an struktureller Konstruktion und kombinatorischer Spekulation vorangestellt werden.

Abbildung 11 Je die erste Zeile der Instrumentenstimmen von Philippe Kochers Série rouge für Klaviertrio.

Diskussion

Eine tempopolyphone Partitur (und ebenso Nancarrows Lochband) benötigt eine maßstäbliche Zeitdarstellung. Die grafische Darstellung einer solchen Partitur verlangt von den Komponist*innen zusätzliche Fähigkeiten und führt zu zusätzlichen, bisweilen auch ›unmusikalischen‹ Denk- und Arbeitsschritten. Komponist*innen können dieser Problematik in verschiedener Weise entgegentreten. Sie können ihr ausweichen, indem sie ihre Tempopolyphonie in kontrapunktisch unverbundenen, selbstständigen Schichten organisieren, oder sie können sie vereinfachen, indem sie simple Tempoverhältnisse wählen. In den meisten Fällen kommt es zu einer Prädisposition des Tempogerüsts, was bedeutet, dass die Komponist*innen zuerst eine Tempostruktur (mit konstanten Tempoverhältnissen oder auch mit beliebigen, plötzlichen oder allmählichen Tempoänderungen) entwerfen, diese Struktur anschließend auf ein Notenpapier übertragen und zuletzt mit Musik ausfüllen. Bei einer solchen Methode, bei der zunächst eine leere Partitur eingerichtet wird, ist es möglich, ›auf dem Papier‹ die tonhöhenbezogenen Details der Musik auszuarbeiten und dabei die explorativen Potenziale der Notation (die Operativität der Schrift in der Partiturdarstellung) ausnützen zu können. Die mathematische Last, d.h. die Notwendigkeit viele oft mühsame Berechnungen durchzuführen, um die zeitliche Struktur aufzustellen, wird vorangestellt, damit sie das ›eigentliche‹ Töne-Setzen nicht belastet und verlangsamt. Diese Methode mit dem im Voraus eingerichteten Notenpapier ist jedoch mit dem Nachteil behaftet, dass sie die Tempostruktur festlegt. Ein Erfinden oder Anpassen des Tempos im Laufe des Arbeitsprozesses, möglicherweise unterstützt durch die Operativität der Schrift, ist kaum möglich. Ist die Partitur erst einmal in mühevoller Arbeit eingerichtet, dann behält sie diese Form und wird nicht mehr nachträglich verändert.

Es zeigt sich eine Paradoxie: Die Notenschrift macht eine tempopolyphone Zeitstruktur formbar, indem sie sie weiteren kompositorischen Arbeitsschritten zuführt, gleichzeitig lässt sie sie aber auf dem Papier erstarren. Die räumlich-flächige Darstellung der musikalischen Notation bietet die Möglichkeit, verschiedene Zeitunterteilungen und damit auch verschiedene Tempi nebeneinander abzubilden, Strukturen in ihrer Gesamtheit zu erblicken oder sukzessiv verlaufende Prozesse in der Synchronität der Fläche präsent werden zu lassen. Möglicherweise können Tempopolyphonien, wenn sie visuell dargestellt werden, auch noch in einem Komplexitätsgrad überblickt und ›verstanden‹ werden, der akustisch längst nicht mehr fasslich ist. Dies alles führt trotzdem nicht dazu, dass Tempopolyphonien im Notationsraum entworfen werden. Die Tempostrukturen werden immer rational ›konstruiert‹. Für den Parameter Tempo bietet die herkömmliche Notenschrift keinen Denk- und Handlungsraum.

Hier ließe sich die These formulieren, dass auch die Widerständigkeit der Schrift ein Aspekt ihrer Operativität ist und darin ebenfalls ein künstlerisches Potenzial liegen kann. Das Schreiben wird »meistens dort thematisch [...], wo sich Widerstände im Prozess des Schreibens einstellen. In medienhistorischen Umbruchphasen tritt besonders der Widerstand der Schreibwerkzeuge hervor.« 28 Die Verlangsamung der Arbeit, die Tatsache, dass die Schrift sich ›bei sich aufzuhalten‹ beginnt, erzeugt einen Fokus auf das Detail. Dass sich eine Komposition wie Seiltanz trotz ihrer tempopolyphonen Konzeption zu einer ›Klangmusik‹ entwickelte, bei der die Harmonik von Multiphonics im Vordergrund steht, lag nicht zuletzt daran, dass der aufwendige und verlangsamte Notationsprozess die Komponistin in dieser Hinsicht zu einer besonderen Aufmerksamkeit zwang. 29

Viele Komponist*innen sind in ihrem kompositorische Denken in der Schriftbildlichkeit der herkömmlichen Partitur verhaftet. Oft entscheiden sie sich, die gewohnte Arbeitsumgebung nicht aufzugeben und den erlernten Umgang mit der Partiturdarstellung mitsamt der daraus erwachsenden Operativität beibehalten zu wollen. Es stellt sich die Frage, wie bewusst eine solche Entscheidung gefällt wurde. Haben die Komponist*innen die traditionelle Notation nach einem Abwägen der Kriterien gewählt, oder wurde gearbeitet ›wie immer‹, ohne erst Alternativen in Erwägung zu ziehen. Es stellt sich aber auch die Frage, mit welchen Hilfsmitteln die Schwierigkeiten der tempopolyphoner Partiturnotation erleichtert werden könnten. Die Berechnung der absoluten Zeit jeder Note ist mühselig und bei dynamischen Tempopolyphonien nicht trivial. Hier ist den Komponist*innen geholfen, wenn adäquate Arbeitsmethoden dokumentiert und die entsprechenden mathematischen Formeln bereitgestellt oder sogar in einer Applikation implementiert sind. 30

Als alternative Methoden zur kompositorischen Kontrolle stehen der Operativität der Partiturnotation die Mathematisierung oder Algorithmisierung des Kompositionsvorgangs gegenüber. Gerade bei komplexen Tempodispositionen, insbesondere bei dynamischen Tempopolyphonien, kann sich das anbieten. Dabei kommt ein anderes Schriftsystem zum Tragen, z.B. dasjenige einer Programmiersprache. An die Stelle des musikalischen Notats tritt also eine ›unmusikalische‹ Konzeptionsschrift, die selbst wiederum ihre eigene Operativität besitzt. Dahlhaus weist darauf hin, dass die Notation, in der ein musikalisches Werk ediert wird, nicht mit der Schrift übereinzustimmen braucht, in der es konzipiert wurde. Folglich unterscheidet er die Konzeptionsschrift von der Editionsschrift und argumentiert in einem Beispiel, dass in einer grafischen Konzeptionsschrift ein Fleck für einen Cluster sogar die adäquatere Darstellung des akustischen Phänomens sein kann, als die Differenzierung in verschiedene Stimmen, die Kategorien wie Mehrstimmigkeit und Harmonik ins Spiel bringt. 31 Es ist fraglich, ob sich für dieses Beispiel, das auf ein klangliches Phänomen bezogen ist, eine ebenso plausible Analogie für die zeitliche Ebene der Musik finden lässt. Aber der Grundgedanke bleibt: Eine von der traditionellen Notenschrift abweichende Form von Notation kann zu neuen Ideen führen. Die Entwicklung einer Zahlenspielerei, wie derjenigen in der Tempostruktur von Série rouge , findet primär in einer mathematischen Umgebung statt, nicht in einer Partitur.

Um neue ästhetische Territorien zu erobern, müssen neue Wege gefunden werden. Dies soll eine Aufforderung sein, die sich ebenso an Komponist*innen richtet, aus ihren gewohnten Denk- und Arbeitsmustern auszubrechen, als auch an Ingenieur*innen, dies durch neue technische Entwicklungen zu ermöglichen. Die Musik ist ebenso geprägt von den Arbeitsmethoden (aufwendigen Prozeduren, komplizierten Berechnungen usw.) wie von den Eigenheiten und Limitationen der verwendeten technischen Systeme (z.B. Nancarrows Stanzmaschine mit festem Vorschub oder Notationsprogramme ohne Unterstützung von Tempopolyphonie). Sich dessen bewusst zu sein, gehört zur Methodenkompetenz, die von Komponist*innen zu erwarten ist, die sich im Gebiet der Tempopolyphonie bewegen.

Literatur

  • Czolbe, Fabian (2015), Notationale Eigenheiten als Handlungsinitiativen in kreativen Prozessen, hg. von Fabian Czolbe und David Magnus, Würzburg: Königshausen & Neumann.
  • Dahlhaus, Carl (1965), »Notenschrift heute«, in: Notation Neuer Musik (= Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik , Bd. 9), hg. von Ernst Thomas, Mainz: Schott, 9–34.
  • Gann, Kyle (1995), The Music of Conlon Nancarrow, Cambridge: Cambridge University Press.
  • Giuriato, Davide / Martin Stingelin / Sandro Zanetti (2008), »Schreiben heißt: sich selber lesen« Schreibszenen als Selbstlektüren, München: Willhelm Fink.
  • Grüny, Christian (2015), »Notieren«, in: Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, hg. von Jens Badura u.a., Zürich: Diaphanes, S. 185–188. https://doi.org/10.4472/9783037345832.0036
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  • Karkoschka, Erhard (1966), Das Schriftbild der Neuen Musik, Celle: Hermann Moeck.
  • Kocher, Philippe (2016), »Polytempo Composer: A Tool for the Computation of Synchronisable Tempo Progressions«, in: Proceedings of the Sound and Music Computing Conference, Hamburg, S. 238–242.
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Inhaltsverzeichnis
  1. cover
  2. imprint
  3. Vorwort
  4. Writing Sound Into the Wind
  5. Zwischen Federkiel und digitaler Codierung: Musikalische Schrift als mediales Spannungsfeld
  6. Mathematische Remodellierung zur Erforschung der exakten Semantik einfacher konventioneller Notationssysteme
  7. Von Übernotation und Unternotation
  8. Notation und Analyse von Tonhöhenverläufen in Sprechmelodien
  9. Transición II by Mauricio Kagel
  10. Zwischen Freiheit und Intention – Zur Notation von Berios
  11. Handlungsraum oder Hürde?
    1. Zeitdarstellung in musikalischen Notaten
    2. Conlon Nancarrow, ein Pionier der tempopolyphonen Musik
    3. Kompositionen für das Projekt
    4. Diskussion
    5. Literatur
  12. Von zu
  13. Notation, Interpretation, Improvisation
  14. Notation of an Archetype
  15. Unspielbare Musik
  16. Revolution, Edition, Produktion, Revision
  17. Ein Babel der Gehörbildung?
  18. Musik verstehen ohne Noten? Notationskonzepte für Schule und Musikschule
  19. Blended Learning im Musiktheorieunterricht
  20. Kontinua aus Diskontinuitäten
  21. »Ein Kaleidoskop im klassischen Rahmen«
  22. »[…] aus mehr oder weniger zerklüfteten Bruchstücken große, weitläufige musikalische Formgebilde […] bauen.« Klanglich-aufführungspraktische Gestaltung makroformaler Zusammenhänge in Tonaufnahmen von György Kurtágs für Sopran und Violine op. 24
  23. Towards a ‘Treatise’ of 7-Limit Harmony
  24. Jenseits von Funktion und Konstrukt Teil 1
  25. Beobachtungen zur Verlaufsgestaltung klassischer Sonatenexpositionen
  26. »Muti una volta quel antico stile«. Aspekte einer Quintfall-Passage bei Luca Marenzio