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Notation. Schnittstelle zwischen Komposition, Interpretation und Analyse

von Philippe Kocher (Hg.), © 2024 Gesellschaft für Musiktheorie, Berlin

PDF Zitiervorschlag

Majid Motavasseli

»Ein Kaleidoskop im klassischen Rahmen« 1

Zum Zyklusproblem in György Kurtágs Kafka-Fragmenten 2

1. Der Zyklusbegriff in den Kafka-Fragmenten

Unter den Vokalzyklen György Kurtágs nehmen die Kafka-Fragmente für Sopran und Violine op. 24 (1985–87) eine besondere Position ein. Während der Komponist für die vorangegangenen Werke dieser Gattung 3 eine eindeutige Reihenfolge der einzelnen Stücke festgelegt hat, sieht der Musikwissenschaftler András Wilheim die Kafka-Fragmente als Beginn einer »neuen Periode« von Zyklen, deren Anordnung den Interpret*innen überlassen ist. 4 Es gebe in diesen Werken keine »obligatorische« zyklische Konzeption mehr, die deren Einzelstücke miteinander verbinde:

Da kein traditionelles Kriterium mehr dafür existiert, wie eine Satzfolge aufgebaut werden soll, sind unzählige Weisen der Zusammengehörigkeit vorstellbar [...]. [...] Es geht also nicht darum, daß das Werk keinen wie auch immer virtuellen Mittelpunkt voraussetzen würde, um den sich die Bestandteile der Serie ordnen, sondern vielmehr darum, daß der Komponist keine Möglichkeit und keinen Sinn für eine alleinseligmachende lineare Ordnung sieht. 5

Der Kompositionsvorgang der Kafka-Fragmente habe also das Kriterium der Reihenfolge außen vor gelassen. Laut William Kinderman habe Kurtág jedoch nach Abschluss der Komposition der einzelnen Stücke die Position von Die Guten gehn im gleichen Schritt zu Beginn, Der wahre Weg etwa in der Mitte, und Es blendete uns die Mondnacht am Schluss des Zyklus festgelegt. 6 Diese drei Stücke wurden von Kurtág innerhalb derselben Woche, in der zweiten Kompositionsphase von 1.8.–8.8.1985 geschrieben; 7 ob Kurtág bereits zu dieser Zeit eine Positionierung plante, lässt sich nicht nachweisen.

Bemerkenswerterweise erscheint die Reihenfolge der Kafka-Fragmente in der Druckfassung der Partitur fixiert. Die Fragmente sind hier in vier große Teile gegliedert und innerhalb dieser durchnummeriert, sodass nichts darauf hindeutet, dass die Anordnung (wie bei den darauffolgenden Liederzyklen) Aufgabe der Interpret*innen sein könnte. Genauso wenig deklariert der Druck die Beteiligung Wilheims – in seiner Rolle als Herausgeber bei der Editio Musica Budapest – an der Reihung der Stücke:

[Der] Komponist [nahm] das Ordnen der einzeln geschriebenen Sätze in eine Reihenfolge ja gar nicht [vor], sondern er akzeptierte einen zyklischen Plan, der vom Verfasser dieser Arbeit [Wilheim] angefertigt worden war, unterwarf sich damit einer ›fremden Hand‹ und autorisierte nach nur wenigen kleinen Änderungen die nun schließlich als geschlossene Form erscheinende Satzordnung des Zyklus’. 8

Da der Begriff des Zyklus gemeinhin »die Idee einer spezifischen Ordnung« impliziert, 9 scheint es sich bei der Zyklizität der Kafka-Fragmente also um einen Sonderfall zu handeln: Weder Komponist noch Ausführende bestimmen die Abfolge der Stücke, sondern ein Musikwissenschaftler legt diese – indem er sozusagen selbst zum Interpretierenden wird – für den Notendruck fest. 10 Daraus entsteht die verbreitete Auffassung in der Interpretation, die Kafka-Fragmente könnten nur in der abgedruckten Reihenfolge aufgeführt werden; dem Verfasser ist keine einzige Aufnahme bekannt, deren Ablauf nicht Wilheims Anordnung entspricht. 11

Trotz dieser Fixierung für den Druck beschreibt Wilheim die Kafka-Fragmente als Beginn einer Periode von »opera aperta« (»offener Werke«), deren Gestalt sich mit jeder Interpretation und jeder Aufführung verändert. 12 Alan E. Williams zieht klare Parallelen zwischen Kurtágs Werkbegriff und Umberto Ecos »offenem Kunstwerk«: Eine von dessen drei Erscheinungsformen bezeichnet Eco als »Kunstwerk in Bewegung«. 13 Diese Form der Offenheit ist durch eine Unbestimmtheit der Anordnung charakterisiert; Eco nennt hier als Beispiel Stéphane Mallarmés Le Livre , »in which the order of the poems in this unfinished [...] work is left undetermined [...]«. 14 Dem Leser des Werks wird hier also die Aufgabe der Anordnung übertragen. 15 Der Rahmen des Werks sei – so Wilheim – trotzdem in gewisser Weise fixiert, unter anderem, da dessen Stücke klar als zusammengehörig erkennbar seien:

Nicht die Konzeption ist offen, sondern die Verwirklichung des Werks: jede einzelne Aufführung repräsentiert zwar eine geschlossene Ordnung, doch diese kann sich von Fall zu Fall ändern, ohne die früheren Realisierungen ungültig zu machen. Das Werk hat also kein einmaliges Gesicht [...].

Dieser Sachverhalt sei jedoch nicht etwa einem Unvermögen oder Desinteresse des Komponisten geschuldet:

Dieser Fall [die Kafka-Fragmente ] wie auch die seitdem entstehenden Werke stehen nicht etwa als Exempel dafür, daß der Komponist ohne vorherige Überlegung an dem Ganzen der Serie arbeiten würde oder daß er außerstande wäre, eine bestimmte, stabile Reihenfolge festzulegen, sondern vielmehr dafür, daß in seine sehr klare Konzeption über das ganze Werk die Frage der Satzfolge nicht hineingehört, denn es gibt keine für jedermann und für jede Situation gültigen Regeln, was für einen Zusammenhang man zwischen den einzelnen Sätzen schaffen könnte. 16

Die Kafka-Fragmente bilden also eine »virtuelle Werk-Ganzheit« ab; 17 diese Bezeichnung stellt eine Verbindung zur romantischen Konzeption des fragmentarischen Kunstwerks her, dessen grundlegendes Kriterium aus dem Verhältnis von Teil und Ganzem, d.h. zwischen den einzelnen Abschnitten eines Werks untereinander und zum übergeordneten Werkzusammenhang resultiert; 18 der romantische Fragmentarismus »bleibt gerade in seiner Skepsis der Totalität und dem Vollendeten gegenüber auf diese bezogen«. Das Verhältnis zwischen Fragment und dem ihm verbundenen Werkganzen ist »quantitativ durch das Ausmaß seiner Unvollständigkeit und qualitativ durch die Vielzahl seiner möglichen Vervollständigungen charakterisiert«. 19

Als Bruchstücke eines virtuellen Ganzen verweisen die einzelnen Teile gleichzeitig immer sowohl auf einen übergeordneten Zusammenhang, als auch mithilfe von Querverbindungen, Korrespondenzen und wechselseitigen Ergänzungen aufeinander: Sie stehen als einzelne Stücke nicht für sich, sondern sind zu jedem Zeitpunkt in einem Kontext verwurzelt, welcher innerhalb des einzelnen Fragments nur angedeutet, nicht erschöpfend dargestellt werden kann:

Fragmente ergänzen einander nicht wie Puzzle-Teilchen zu einem lückenlosen Zusammenhang; eher stehen sie wie Sterne nebeneinander, die es dem Betrachter überlassen, ein ›Sternbild‹ zu konstruieren, das die festen, unverrückbaren Positionen der Einzelelemente als ausgewählte Details einer übergeordneten, in sich stimmigen Konstruktion erscheinen lässt. Die Konzeption des fragmentarischen Kunstwerks geht also davon aus, dass das Werk den Zusammenhang seiner Teile aus deren Beziehung zu einem ›außerhalb‹ des Werks selbst liegenden, übergeordneten Kontext gewinnt, der vom Rezipienten erst hergestellt werden muss. 20

Für eine Extrapolation eines möglichen Kontexts aus einem fragmentarischen Werk ist also, ganz im Sinne von Novalis, eine »eigenschöpferische Leistung« 21 notwendig: »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz schon vorgearbeitet erhält.« 22 Auf die Kafka-Fragmente bezogen fällt die Rolle des »erweiterten Autors« nicht nur den Rezipient*innen, sondern bereits den Interpret*innen zu, die mithilfe der erwähnten Querverbindungen zwischen den unterschiedlichen Teilen durch (subjektive) Assoziationen eine »imaginäre Werkeinheit« 23 konstruieren. Diese Konstruktion bleibt im Falle einer Fragmentsammlung virtuell; die wechselseitigen und auf einen übergeordneten Zusammenhang deutenden Verweise lassen die Interpret*innen sowie das Publikum ein Ganzes erahnen.

Die Fragmentsammlung gibt sich auf diese Weise als ›unfertig‹, als Prototyp einer offenen Form, die der Ergänzung im Bewusstsein des Lesers bedarf. Sie lässt demonstrativ Raum für die deutende Eigenkreativität des Lesers [...]. 24

Anders verhält es sich bei einer Sammlung, die die Interpret*innen mit der Aufgabe einer Anordnung beauftragt, so etwa bei Kurtágs op. 37: Durch den praktischen Reihungsvorgang wird das imaginierte Werkganze realisiert; es erfolgt eine Annäherung an die Werkeinheit durch Sichtbarmachung einer subjektiven Variante des Ganzen. Die lineare (und nun zeitlich fixierte) Anordnung der Stücke verbindet die miteinander assoziierten Punkte des ›Sternbilds‹ zu Linien.

Durch die Wahl der Abfolge, d.h. eine spezifische »Dramaturgie der Zusammenstellung« 25 ist jedoch bereits die formale Hauptvoraussetzung für einen Zyklus gegeben. In der von Kurtág verfassten Anleitung zu op. 37 heißt es:

In der Partitur stehen die einzelnen Sätze in der Abfolge, in der sie komponiert wurden. Die Interpreten sollten für die Aufführung im Konzert eine Auswahl treffen – mithin ihren eigenen Zyklus komponieren. [...] Bei der Auswahl und Anordnung sollte man sich von dem Gesichtspunkt leiten lassen, daß die Charaktere und die Tonarten miteinander kontrastieren und sich ergänzen. 26

2. Architektonische Form als potenzielles Kriterium für Zyklizität

Für eine Feststellung sowohl der Zusammengehörigkeit der Stücke in einer Fragmentsammlung, als auch des linear-dramaturgischen Zusammenhangs der Teile eines Zyklus sind mehrere Kriterien erforderlich. Diese lassen sich insbesondere im Hinblick auf eine klare Abgrenzung von Zyklen gegenüber nicht-zyklischen Zusammenstellungen (Sammlungen) nicht eindeutig fixieren; möglich ist die Angabe »potenzieller Komponenten von Zyklizität«, wie sie Kilian Sprau zusammenfasst: Zusammenhang der Liedtexte, Tonartenplan, Verknüpfung auf motivisch-thematischer Ebene, variantenreiche Abfolge von Stimmungen innerhalb einer werkübergreifenden »Grundstimmung«, paratextuelle Elemente (Werktitel, Widmungen usw.) sowie Hintergründe der Werkentstehung. 27 Im Zentrum dieses Beitrags steht die Untersuchung eines solchen potenziellen Kriteriums: der formal-architektonischen Wechselbeziehungen als einheitsstiftende Faktoren innerhalb der Kafka-Fragmente . Dieses Kriterium wird im Kontext einer möglichen Identifikation des Werkes als Fragmentsammlung sowie als Zyklus interpretiert.

In seiner als »Hilfe bei der Interpretation« gedachten Analyse der Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 von Anton Webern argumentiert Theodor W. Adorno, dass diese nicht als »kleine Form« zu bezeichnen seien, sondern ihnen die Essenz des Symphonischen anhafte, die im Geiste der Sonatenhauptsatzform zu finden sei: Sie seien als »Abkömmlinge« der Sonatenform zu betrachten. 28 Die »Spur der geschichtlichen Tektonik« sei in solchen neuen Formen enthalten: »Indem [die Neue Musik] nämlich die traditionellen Formen vermeidet, bewahrt sie diese auf.« Adorno teilt die Bagatellen im Folgenden in drei »klassische« Formtypen ein: dreiteilige Form, zweiteilige Form und strophische Form. Ein Teil bedinge auf dynamische Weise den anderen; für den dramaturgischen Ablauf der Stücke spiele jeweils das »Konfliktmoment« eine zentrale und formbestimmende Rolle. In diesem Kontext sei der dritte Teil einer dreiteiligen Form nicht eine Wiederholung des A-Teils, sondern es werden Charakter, Setzweise und Klangbild des ersten Teils wiederhergestellt; 29 die Gliederung eines solchen Formverlaufs bezeichnet Adorno als Exposition, Komplikation und Zurückgehen. 30

Solche Referenzen auf rudimentär erhaltene Formen »klassischer« Zwei- oder Dreiteiligkeit – durch verschiedene Charakteristika wie Zäsuren, Tempo- bzw. Charakteranweisungen, Notation, Abspaltungen, wörtliche oder variierte Wiederholungen, Erweiterung bzw. Entwicklung und Intensivierung eines vorangegangenen Teils – sind bei Kurtágs Kafka-Fragmenten deutlich nachvollziehbar. Ausgehend von der durch Adorno auf die Bagatellen angewandten »klassischen« Formterminologie sollen die in den Fragmenten auftretenden architektonischen Formanlagen unter ähnlichen Gesichtspunkten in drei Formkonzeptionen bzw. fünf Formtypen A–E eingeteilt werden:

  1. Reprisenform: dreiteilig (Typ A),

  2. entwickelnde Form

    • dreiteilig (Typ B)

    • zweiteilig (Typ C), sowie

  3. Reihungsform (Aneinanderreihung unabhängigen Materials)

    • zweiteilig (Typ D)

    • dreiteilig (Typ E).

Typ A: Reprisenform (dreiteilig: A-B-A')

Während die durch Adorno bei Webern diagnostizierte Reprisenform eher einem dramaturgischen oder gestisch-energetischen Verlauf folgt und gegebenenfalls bloß Charakteristika der Exposition wiederherstellt, verweisen die einer solchen Anlage entsprechenden Kafka-Fragmente durch eine reale oder variierte Wiederholung auf motivisch-thematisches Material des ersten Teils, d.h. vollziehen eine echte Reprise.

Am deutlichsten erkennbar ist ein solches Gerüst der Form Exposition-Durchführung-Reprise im Fragment Nr. 13 [I/13], Einmal brach ich mir das Bein (Chassidischer Tanz) . 31 Dieser dreiteilige Verlauf wird nicht nur durch klare motivisch-thematische Beziehungen evident, sondern auch durch dynamische Angaben (f-p-f, also quasi A-B-A') verdeutlicht. Die Grundidee des Stücks wird in den ersten zweieinhalb Takten exponiert: Eine siebensilbige Textzeile wird hier dicht (syllabisch) in einer Achtelfolge vertont, die von der Geige verdoppelt und ausharmonisiert wird. Nach einer Pause wird dieses Achtelmotiv der Geige mit drei Akkorden fortgesetzt, die durch ihren abschließenden Charakter die ›Exposition‹ begrenzen.

Anschließend wird das akkordische Geigenmotiv ›durchführend‹ erweitert und ausgearbeitet. Gleichzeitig wird der Achtelpuls im Zuge des Mittelteils zu Sechzehnteln diminuiert, die zu einem ›Dominantakkord‹ (einem D-Gamma-Akkord – d - f - fis - a – vor G-Dur) führen. Der den spannungsgeladenen Charakter des Akkordes unterstreichende Sechzehntelpuls bricht vor einer stummen Fermate, welche das Ende dieses Teils bezeichnet, plötzlich ab. Dadurch wird der Eintritt der ›Reprise‹ markiert: Die sieben Silben des Beginns werden hier (solo) durch die Geige realisiert, d.h. hier findet eine wörtliche Wiederholung des Materials aus der ›Exposition‹ statt. 32 Die Anwendung traditioneller musiktheoretischer Terminologie (wie etwa motivisch-thematische Beziehungen, Durchführung, Dominantakkord) im Zuge der Analyse eines solchen scheinbar traditionell gesetzten Stückes unterstützt dessen strukturelle Narrativität.

Natürlich ist nicht allen Fragmenten des Formtyps A so unmittelbar eine konventionelle Formanlage zuzuschreiben. Während z.B. dem Fragment Nr. 19 [I/19] Nichts dergleichen – wiederum erkennbar durch starke Ausarbeitung des zuvor exponierten Materials im Mittelteil und durch wörtliche Wiederholung von Material aus der Exposition in einer Reprise – sichtbar das Gerüst einer Reprisenform zugrundeliegt, 33 offenbart sich das architektonische Gewebe bei den übrigen Fragmenten dieses Typs erst durch analytisches ›Herausschälen‹. Dadurch tritt also auch in den verbleibenden Stücken des Formtyps A ein ›Überrest‹ einer dreiteiligen Reprisenform zutage, der im Mittelteil jeweils einen Konflikt- bzw. Intensivierungsvorgang enthält und gegen Ende eine Rekapitulation des ersten Teils andeutet.

Ein solcher formaler Sachverhalt lässt sich z.B. am Fragment Nr. 38 [IV/6] In memoriam Joannis Pilinszky beobachten. 34 Bereits die Tempo- und Charakterangaben deuten eine der Reprisenform verwandte Konstruktion an: Der A-Teil ist mit »Moderato«, der B-Teil mit »poco a poco più scorrevole [ma non cresc!]« überschrieben; danach findet ein »ritornando al tempo«, d.h. eine Rückkehr zum Haupttempo statt, die zum A'-Teil führt; der Gesamtverlauf des Stücks bildet also den von Adorno beschriebenen Verlauf Exposition – Komplikation – Zurückgehen ab. Das Stottern, das Kafka in einem Brief an Felice Bauer vom Juni 1913 35 beschreibt, wird in den Eckteilen des Fragments durch relative Dauernnotation in Stimme und Geige inszeniert. Die zahlreichen Lücken und Unterbrechungen verweisen auf eine Schwierigkeit, sich fließend zu artikulieren: »Ich kann ----- nicht ---- eigen-tlich -------- er-zählen.«

Die Konfliktsituation im mittleren Teil, in welchem in der immer noch stotternden Stimme die Rede von einem Gefühl (»wie es kleine Kinder haben könnten«) ist, ist nicht nur mit der Charakterangabe scorrevole überschrieben, sondern wird parallel auch mit ›gleitenden‹ und ununterbrochen laufenden Achteln in der Geige nach und nach in Fluss gesetzt und intensiviert, während der Ausdruck dieses Gefühls der Stimme noch versagt ist. Dadurch entsteht eine stärkere Verknüpfung der strukturellen Ebene mit dem semantischen Hintergrund. Diese zunehmend fließenden, jedoch nicht crescendierenden neunzehn Achtel führen zu einer Zäsur, auf die das ritornando al tempo folgt. Dadurch entsteht eine spannungsgenerierende, ›dominantische‹ Rückleitungssituation, die durch ein Wiederherstellen der Setzweise und des Charakters (Stottern) aus der Exposition in der Reprise aufgelöst wird.

Im Falle der größer dimensionierten Stücke des Werkes ist die Konzeption des Mittelteils weniger als Durchführung, sondern eher – im Sinne der Menuett-Form – als Trio zu betrachten (z.B. Nr. 32 [III/12] Szene in der Elektrischen (1910: »Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Csárdás noch einmal tanzen...«) , Nr. 40 [IV/8] Es blendete uns die Mondnacht ). 36 Der Mittelteil bildet hier im Kontext der Formkonzeption einen selbstständigen, kontrastierenden Abschnitt. Der Eintritt des da capo-Teils (A') ist hier wiederum nicht durch eine wörtliche Wiederholung des Beginns, sondern durch eine verknappte Reminiszenz an den Anfang (wie Nr. 40, wo der Anfang in der letzten Zeile nur ganz kurz und leicht variiert auftritt), oder durch eine Variation des A-Teils (wie in Nr. 32, wo der lydische Tanz des ersten Teils wiedereintritt und ausgedehnt variiert wird), gestaltet.

Typ B, Typ C: Entwickelnde Form

Während Reprisenformen eine Dreiteiligkeit inhärent ist, kann eine entwickelnde Form zweiteilig (Typ C: A-A'), dreiteilig (Typ B: A-A'-A''), aber auch mehrteilig sein (A-A'-A''-A'''- ...). Bezeichnend für die Kafka-Fragmente ist jedoch, dass alle Stücke entweder einen zwei- oder einen dreiteiligen Aufbau aufweisen. Grundsätzlich unterscheiden sich diese Formtypen vom Typ A durch das Fehlen eines kontrastierenden Mittelteils bzw. einer wie auch immer gearteten Reprise. D.h. in Stücken, die entwickelnden Formtypen zugehören, findet der Verlauf erster Teil – kontrastierender, konflikthafter zweiter Teil – zum ersten Teil ›zurückkehrender‹ dritter Teil nicht statt. Stattdessen unterliegen das verwendete Material und der gestisch-energetische Verlauf einer permanenten Weiterentwicklung; der Vorgang ließe sich unter Umständen mit dem Prinzip der entwickelnden Variation vergleichen.

Ein besonders anschauliches Beispiel für einen entwickelnden Formtyp bildet das Fragment Nr. 15 [I/15] Zwei Spazierstöcke (Authentisch-plagal) . 37 Das Material wird hier zeilenweise weiterentwickelt. Die exponierende 1. Zeile (A) besteht aus zwei Teilen: aus einem gesprochenen Rezitativ über einer durch Figuration eingeleiteten Quart fis 1- h 1 der Geige (A1) und einem in großen Intervallen gesungenen Teil über in weiter Lage gesetzten Dur-Geigenakkorden G-C-D-Es (A2). Dieses Material tritt in der 2. Zeile in quasi gegensätzlicher Form in Erscheinung: Die modifizierte Figuration führt während eines abermals gesprochenen Rezitativs in die neue Quart f 1- b 1 in der Geige (A'1) und zu einem wiederum in weiten Intervallen gesungenen Teil, dessen Basis exakt dieselben Akkorde wie in A2, diesmal im Krebs, bilden (A'2). Dies spiegelt auch den Text wider: »Ich breche alle Hindernisse« (A2) – »Mich brechen alle Hindernisse« (A'2). In A'2 wird das Wort »Hindernisse« außerdem durch Flüstern sowie den leeren Ton gis (statt eines Akkordes) weiter modifiziert; das stolze Es-Dur aus A1 bleibt an dieser Stelle aus.

In der letzten Zeile (A'') wird das zuvor verwendete Material ein weiteres Mal modifiziert: Die nun verdoppelte Figuration führt (über die Terz ges 1- b 1) zur Quart f 1- b 1 in der Geige, die im letzten Takt in eine weitere Quart ( e 1- a 1) absinkt. Der Text bleibt diesmal während der gesamten Zeile gesprochen. Die Schlussfermate könnte als elliptischer Endpunkt einer jeweils zu Zeilenende stattfindenden Entwicklung singen – flüstern – schweigen interpretiert werden.

Typ D, Typ E: Reihungsform

Diese beiden Formtypen konstituieren sich durch eine Aneinanderreihung unabhängigen, d.h. nicht erkennbar verwandten Materials: Selbstständige, nicht zusammengehörige Abschnitte stehen hier nebeneinander. Bezeichnenderweise tritt diese Formkategorie in den Kafka-Fragmenten ausschließlich zweiteilig auf (Typ D); die einzige dreiteilige Ausnahme bildet das Fragment Nr. 34 [IV/2] Eine lange Geschichte (Typ E). 38

Der Aufbau des Fragments Nr. 2 [I/2] Wie ein Weg im Herbst entspricht einer zweiteiligen Reihungsform. Der A-Teil ist hier von an- und abschwellenden Zweiunddreißigstelläufen im legato bestimmt und wird secco von einem stark kontrastierenden, jedoch völlig unabhängigen B-Teil (staccato und kurze Intervallsprünge in der Stimme, liegende Flageolett-Töne in der Geige) abgelöst. Diese zweiteilige Anlage wird durch die Notation verdeutlicht; erst im zweiten Teil finden sich Taktangaben und Taktstriche. 39

Epilog

Ein weiteres wichtiges formales Kriterium, das in mehr als einem Drittel der Fragmente (in 17 von 40 Stücken) auftritt, ist der – vom ›Hauptstück‹ etwas abgesetzte – Epilog. Unter einem Epilog versteht man im Allgemeinen eine Schlussrede oder ein Nachwort, das (wie auch ein Prolog) außerhalb eines Stückes steht, d.h. ›nach der Handlung‹ stattfindet. Dabei kann es sich um eine Art Kommentar oder eine Zusammenfassung handeln, d.h. der Epilog gibt sozusagen die ›Essenz‹ des Stückes wieder.

Der abschließende Epilog al niente in Nr. 2 ist beispielsweise klar durch eine Viertelpause in beiden Stimmen getrennt; das Flageolett- glissando vereint die Charakteristika des A-Teils (Läufe, Schwellen) mit denen des B-Teils (Flageolett). Im Fragment Nr. 4 [I/4] Ruhelos ist der Epilog ebenfalls (durch eine Fermate, während die Sängerin angewiesen wird auszuatmen) klar vom Rest des Stückes abgegrenzt. 40 Die Stimme der Sängerin versagt hier: Erschöpft und senza voce kommentiert sie das vorangegangene, ohrenbetäubende 41 Wüten.

3. Dramaturgie der musikalischen Disposition

Zum Zweck einer Annäherung an mögliche Querverbindungen und Zusammenhänge sollen die beschriebenen Formtypen im Folgenden innerhalb der Kafka-Fragmente auf ihre Häufigkeit, ihr Verhältnis zueinander und zur Gesamtheit sowie ihre Verteilung innerhalb des Werkes näher betrachtet werden. Es soll untersucht werden, inwieweit die formal-architektonischen Gegebenheiten sowohl aus der Perspektive einer Fragmentsammlung, als auch der eines Zyklus potenziell einheitsstiftend wirken können.

Anhand der definierten Typen lassen sich die Fragmente 42 folgendermaßen einordnen (Stücke mit Epilog sind hervorgehoben):

  • Typ A : Dreiteilige Reprisenform (A-B-A'): Nr. 6, 13, 18, 19, 20, 21, 31, 32, 33, 36 , 38 , 39, 40 [13/2]

  • Typ B : Dreiteilige entwickelnde Form (A-A'-A''): Nr. 3, 9, 11 , 15, 24 , 25, 27 , 29, 35 , 37 [10/4]

  • Typ C : Zweiteilige entwickelnde Form (A-A'): Nr. 4 , 5 , 10 , 14, 16 , 17, 30 [7/5]

  • Typ D : Zweiteilige Reihungsform (A-B): Nr. 1, 2 , 7, 8 , 12, 22 , 23 , 26 , 28 [9/5]

  • Typ E : Dreiteilige Reihungsform (A-B-C): Nr. 34 [1/1]

Diese Einteilung dient als Grundlage für eine Feststellung von Zusammengehörigkeiten unter dem Vorzeichen einer Fragmentsammlung. Es soll veranschaulicht werden, wie die einzelnen Stücke – unabhängig von möglichen Aneinanderreihungen – durch formal-architektonische Gemeinsamkeiten miteinander korrespondieren und dadurch eine mögliche virtuelle Werkganzheit andeuten.

Unter den drei Formkategorien Reprisenform – entwickelnde Form – Reihungsform tritt die entwickelnde Form am häufigsten in Erscheinung: Von insgesamt 40 Fragmenten entsprechen 17 dem Formtypen B oder C; auf die Gesamtheit der Stücke bezogen entspricht das 42,5 %. Zweitgereiht ist die Reprisenform (13 Fragmente oder 32,5 %) vor der Reihungsform (10 Fragmente oder 25 %).

Betrachtet man das Verhältnis zwischen zwei- und dreiteiligen Formen, fällt auf, dass 24 der 40 Fragmente (60 %) eine Dreiteiligkeit aufweisen. Der größte Anteil dieser Gruppe entfällt auf die Reprisenform (Typ A: 13 von 24 dreiteiligen Fragmenten), darauf folgt die entwickelnde Form (Typ B: 10 von 24 Fragmenten). Den mit Abstand geringsten Anteil (Typ E: 1 Fragment) weist die Reihungsform auf, die in der Regel zweiteilig ist (9 von 10 Fragmenten dieser Formkategorie). Die zweiteiligen Formtypen treten in ähnlicher Häufigkeit in Erscheinung: 7 der insgesamt 16 zweiteiligen Stücke entsprechen einer entwickelnden Form (Typ C), während 9 Fragmente eine zweiteilige Reihungsform aufweisen (Typ D).

Auf die Formtypen bezogen sieht diese Häufigkeitsverteilung folgendermaßen aus: Der am stärksten vertretene Formtyp ist, wie bereits erwähnt, der Typ A (13 von 40 Stücken); darauf folgen die dreiteilige entwickelnde Form (Typ B: 10 Stücke oder 25 %) und die zweiteilige Reihungsform (Typ D: 9 Stücke oder 22,5 %) vor der zweiteiligen entwickelnden Form (Typ C: 7 Stücke oder 17,5 %) und der dreiteiligen Reihungsform, die, wie erwähnt, eine Ausnahme darstellt (Typ E: 1 Stück oder 2,5 %).

Epiloge treten in den verschiedenen Formkategorien in den folgenden Häufigkeiten auf: Insgesamt weisen 17 von 40 Fragmenten einen Epilog auf. Unter den zweiteiligen Stücken münden 10 von 16 Fragmenten in einen Epilog, bei den dreiteiligen Stücken sind es nur 7 von 24 Fragmenten. Der größte Anteil der Fragmente mit Epilog entfällt in auffälligem Ausmaß auf die entwickelnde Formkategorie (9 von 17 Stücken), darauf folgt die Reihungsform (6 von 10 Stücken) vor der Reprisenform (nur 2 von 13 Stücken). Die am häufigsten auftretende Formkategorie (entwickelnde Form) ist also auch diejenige, die den größten Anteil an Epilogen aufweist. Da sich eine prinzipielle Tendenz entwickelnder Formen zu formaler Offenheit annehmen lässt (potenziell fortlaufendes Wachstum: A–A'–A''–...), scheint zur Markierung eines Abschlusses dieser Formen grundsätzlich der schließende Charakter eines Epilogs notwendig. Dies gilt offenbar insbesondere für zweiteilige entwickelnde Formen: 5 von 7 Stücken des Formtyps C treten mit Epilog in Erscheinung. Dasselbe lässt sich über die Reihungsform sagen (im Sinne der Erwartung einer Fortsetzung: A–B–C–D–...): Immerhin 5 von 9 Stücken des Typs D enden in einem Epilog.

Der Einsatz eines Epilogs bei 10 von insgesamt 16 zweiteiligen Stücken könnte – im Sinne einer schließenden Interpunktion – als bewusster Abschluss einer eher offenen Formanlage verstanden werden; der Epilog ließe sich als vergleichsweise sehr kurze, zusammenfassende Andeutung eines nicht realisierten dritten Formteils deuten. Der auffallend geringe Anteil von Stücken des Typs A, welche einen Epilog aufweisen, könnte auf eine grundsätzliche Tendenz zur Geschlossenheit dieses Formtyps hinweisen, welcher einer konventionellen Definition einer Reprise entsprechend als inhärent schließend zu verstehen ist.

All diese Beobachtungen zu formal-architektonischen Gegebenheiten der Kafka-Fragmente als Fragmentsammlung und deren aufeinander sowie auf ein übergeordnetes Ganzes verweisenden Bezügen ermöglichen – wie im ersten Teil dieses Aufsatzes beschrieben – durch ihre (insbesondere mittels Analyse) erkennbare Zusammengehörigkeit die Extrapolation einer imaginären Werkeinheit durch den ›Leser‹. Eine weiterreichende Annäherung an die Werkganzheit erfolgt durch die Sichtbarmachung, d.h. die Ausführung der zuvor virtuell extrapolierten Werkeinheit in einer praktischen Anordnung der Stücke zu einem Zyklus.

Die durch die formal-architektonische Untersuchung assoziierte Zusammengehörigkeit der Fragmente erfüllt in einer geordneten (zyklischen) Konstellation die Funktion eines dramaturgischen Zusammenhangs; die Verteilung und exakte Positionierung der Fragmente erhält in diesem Kontext eine ausschlaggebende Rolle. Im Folgenden werden die durch die in der Partitur abgedruckte Reihenfolge herausgebildeten dramaturgischen Beziehungen der Fragmente untersucht: Die in der Partitur abgebildete ›zyklische‹ Anlage gruppiert die 40 Fragmente zu vier großen Teilen (19 + 1 + 12 + 8 Stücke). Eine quantitative Untersuchung der Verteilung zwei- und dreiteiliger Formen auf die vier Abschnitte zeigt, dass sowohl der aus nur einem Fragment (Nr. 20) bestehende II. Teil, als auch der IV. Teil ausschließlich dreiteilig konzipierte Stücke beinhalten. Im I. Teil stehen zwei- und dreiteilige Stücke zueinander in einem Verhältnis von etwa 3 : 2 (11 von 19 Fragmenten dieses Teils sind zweiteilig; 11 von insgesamt 16 zweiteiligen Fragmenten sind außerdem im I. Teil verortet); im III. Teil stehen zwei- und dreiteilige Stücke umgekehrt in einem Verhältnis von annähernd 2 : 3 (7 von 12 Fragmenten des III. Teils sind dreiteilig).

Solche ›Viersätzigkeit‹ referenziert eine klassische Sonatenzyklus-Anlage (Kopfsatz – langsamer Satz – Scherzo – Finale), die auch bereits in op. 7 zu erkennen ist (dort jedoch, wie Claudia Stahl anmerkt, in vertauschter Reihenfolge: Eröffnung – Scherzo – langsamer Satz – Finale). Die 24 Stücke des Bornemisza -Zyklus (1 + 10 + 9 + 4) und die 40 Kafka-Fragmente (19 + 1 + 12 + 8) sind annähernd in zwei gleichgroße Hälften geteilt (11 + 13 bei Bornemisza , 20 + 20 bei Kafka ). 43 In beiden Werken sind die Einzelstücke, welche für sich genommen einen gesamten Teil ausmachen, sehr ausgedehnt; das Fragment Nr. 20 in den Kafka-Fragmenten scheint durch seinen Charakter und die Tempobezeichnung Adagio besonders passend als ›langsamer zweiter Satz‹ positioniert zu sein.

Die Gewichtung und Disposition der architektonischen Formkategorien und der Formtypen A–E lässt ebenfalls auf ›Reste‹ konventioneller Funktionen der vier Teile schließen (Abb. 1). Im ›Kopfsatz‹ liegt der Schwerpunkt auf der entwickelnden Form (Typ B und C: insgesamt 10 von 19 Fragmenten), während im ›Finale‹ klar die Reprisenform dominiert (5 von 8 Stücken). Der in sich geschlossene II. Teil entspricht ebenfalls einer Reprisenform.

Abbildung 1 György Kurtág, Kafka-Fragmente , Verteilung der Formtypen auf die vier Teile (unter Angabe der Durchschnittsdauern der Fragmente) 44

Interessanterweise kommt dem III. Teil der Kafka-Fragmente neben der Rolle eines Scherzos auch Rekapitulationsfunktion zu; die einzigen textlichen Wiederholungen des Werkes (auf musikalischer Ebene variiert) treten in den Stücken Nr. 25 [III/5] Elendes Leben (Double) – als Textzitat von Nr. 11 [I/11] Sonntag, den 19. Juli 1910 (Berceuse II) – sowie Nr. 29 [III/9] Verstecke (Double) – als Textzitat von Nr. 3 [I/3] Verstecke – in Erscheinung. Diese Funktion wäre konventionell gesehen im Finalsatz zu verorten; das ebenfalls ausgedehnte Schlussstück des IV. Teils (Nr. 40 [IV/8]) bringt allerdings, wie Stahl ebenfalls erwähnt, neben (musikalischer) Rekapitulation auch neues Material hervor. 45 Das letzte Fragment des III. Teils (Nr. 32 [III/12]), das in Menuett-Trio-Form angelegt ist, verdeutlicht durch die formale Andeutung und inhaltliche Verankerung eines Tanztopos den Scherzo-Charakter.

Jeweils für sich genommen könnte man die vier Teile der Kafka-Fragmente als Zyklen kleinerer Größenordnung betrachten, 46 sozusagen als Zyklus im Zyklus: Jeder der vier Teile ist – abgesehen vom Anfang des I. Teils – durch Reprisenformen begrenzt. Gleich zwei aufeinander folgende Fragmente in Reihungsform eröffnen den I. Teil: Unterschiedliche formale Abschnitte neuen Materials lösen einander ab, wobei der Beginn des Fragments Nr. 2 als Fortführung des Ostinatos c 1- d 1 aus Fragment Nr. 1 gesehen werden kann. Dieses führt zu gleich drei aufeinanderfolgenden entwickelnden Formen (Nr. 3 bis Nr. 5), welche hier ebenso einen formal öffnenden Charakter verstärken. Auch etwa in der Mitte des Satzes treten drei aneinander anschließende entwickelnde Formen auf (Nr. 9 bis Nr. 11). Schließlich mündet der I. Teil in zwei aufeinander folgende Reprisenformen (Nr. 18 und 19), denen wiederum in auffallender Weise sogar vier Fragmente entwickelnder Form vorangehen (Nr. 14 bis Nr. 17). Fragment Nr. 19 legt durchaus einen stürmischen Finalcharakter an den Tag; die Reprisenstruktur erscheint hier durch verkürzte, jedoch wörtliche Wiederholung des A-Teils in auffallend »klassischer« Form. Der II. Teil (Nr. 20) könnte rein formal-architektonisch als »Finalsatz des ersten Teils«, 47 d.h. als Verlängerung der Reprisenformen Nr. 18 und 19 gesehen werden. Dadurch entstünden drei (statt vier) Sätze mit »als lange Finalsätze gestaltet[en]« Schlussstücken 48 (Nr. 20 [II], Nr. 32 [III/12], Nr. 40 [IV/8]) mit jeweils »sehr eigene[m], ausgeprägt individuelle[m] musikalischen Charakter«. 49

Es wurde im Rahmen eines Workshops 50 des Forschungsprojektes PETAL mit Caroline Melzer (Sopran) und Nurit Stark (Violine) erprobt, das Fragment Nr. 20 direkt im Anschluss an Nr. 19 zu spielen. Dabei entstanden vordergründig technische Schwierigkeiten in der Realisation: Die herausfordernden Sopranpassagen sowie akkordischen Sprünge der Violine erlauben kaum einen nahtlosen Übergang zum ruhigen Beginn von Nr. 20; in beiden Stimmen ist ein einschneidender Register- und Charakterwechsel bzw. ein kompensierendes Ausatmen der Stimme erforderlich. Auch aus dramaturgischer Sicht lehnten beide Künstlerinnen eine direkte Fortsetzung ab: Der fulminante Abschluss des I. Teils verlangt einen kurzen Einschnitt, welcher von Melzer und Stark seit ihrer gemeinsamen Beschäftigung mit dem Werk 51 konzertant durch ein kurzes Setzen zum Zwecke eines Spannungsab- und -wiederaufbaus umgesetzt wird. Diese faktische Unmöglichkeit einer attacca -Realisation des II. Teils bestätigt die überaus starke schließende Eigenschaft des Fragments Nr. 19 sowie die isolierte Position (als Einzelstück) des herausragend ruhigen, gedehnten Fragments Nr. 20, das hier zwischen zwei Fragmenten äußerst aktiven Charakters steht.

Der III. Teil wird durch Fragmente mit Reprisenform eröffnet und geschlossen, dazwischen treten keine weiteren Reprisenformen auf. Durch die Abwechslung von entwickelnden und Reihungsformen entsteht ein dynamischer und grundsätzlich offener Verlauf. Das eröffnende Fragment wird durch zwei aufeinanderfolgende Stücke mit Reihungsform verlassen; analog dazu werden die beiden schließenden Reprisenformen Nr. 31 [III/11] Staunend sahen wir das große Pferd und Nr. 32 [III/12] über zwei Fragmente entwickelnder Form erreicht.

Der Finalcharakter des IV. Teils wird durch mehrere Faktoren unterstrichen: Alle Stücke dieses Teils sind dreiteiliger Form; 5 von 8 Fragmenten haben Reprisenform. Deren Verteilung (Nr. 33 [IV/1], Nr. 36 [IV/4], Nr. 38–40 [IV/6–IV/8]) scheint Beginn, Mitte und Ende des Teils zu markieren. Am Schluss stehen dieses Mal sogar drei (nicht wie sonst zwei) Reprisenformen; weiters treten die beiden einzigen Reprisenformen mit Epilog (Nr. 36 und Nr. 38) in diesem Teil auf. Das drittletzte Stück (Nr. 38) ist sehr ausgedehnt: Es ist gleichzeitig das fünftlängste Stück des gesamten Werkes und das längste Stück des Werkes mit Epilog. 52

Bei der Betrachtung der Verteilung der Epiloge auf die Teile fällt auf, dass im III. und IV. Teil jeweils exakt die Hälfte der Fragmente einen Epilog besitzt (im III. Teil 6 von 12, im IV. Teil 4 von 8 Stücken); im I. Teil betrifft das ungefähr ein Drittel (7 von 19 Stücken). Abgesehen vom II. Teil nimmt die Anzahl der Stücke mit Epilog über den Verlauf des Werkes hinweg ab: Im I. Teil sind es sieben, im III. sechs, im IV. vier Fragmente mit Epilog. Zu Beginn eines Teils tritt nie ein Formtyp mit Epilog auf; jedoch haben im I., III. und IV. Teil jeweils die an zweiter Stelle stehenden Stücke einen Epilog. Im III. und IV. Teil folgen sozusagen an zweiter Stelle jeweils drei Fragmente mit Epilog aufeinander (Nr. 22–24 [III/2–III/4] und Nr. 34–36 [IV/2–IV/4]). Die alle vier Teile schließenden Reprisenformen werden durchwegs durch entwickelnde Stücke eingeleitet (Nr. 14–17 [I/14–I/17], Nr. 29–30 [III/9–III/10], Nr. 37 [IV/5]) und treten in jedem Fall ohne Epilog auf. Ein möglicher Grund dafür ist auch hier im grundsätzlich geschlossenen Charakter der Reprisenform zu suchen, der durch die Verdopplung bzw. Verdreifachung weiter verstärkt wird.

Eine weitere ›potenzielle Komponente von Zyklizität‹ spielt in den Kafka-Fragmenten eine bemerkenswerte Rolle: der ›Tonartenplan‹, d.h. hier – umgelegt auf nicht-tonale Musik – die Verkettung der Tonhöhen zu Anfang und Ende jedes Stücks. Eine ähnliche Untersuchung hat Martin Scheuregger für einen Teil der Kafka-Fragmente – für eine »Section A«: den I. und II. Teil zusammengenommen – durchgeführt. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Frage, auf welche Weise sich das Werk Tonzentren folgend in »Subsections« unterteilen lässt; diese werden in »Section A« unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität betrachtet. 53 Im Folgenden sollen nun die Beziehungen zwischen den Anfangs- und Endtönen (Rahmentönen) der Stücke (Abb. 2) im gesamten Werk im Hinblick auf ihre großformale Anordnung untersucht werden; ausschlaggebend ist dabei ihre Rolle in der ›zyklischen‹ Organisation der Fragmente.

Abbildung 2 György Kurtág, Kafka-Fragmente , Verkettung der Rahmentöne aller Fragmente.

Von insgesamt 80 Positionen für Rahmentöne entfallen 39 auf die Töne c oder g (in 15 Instanzen c , in 26 Instanzen g ; im Fragment Nr. 5 [I/5] treten jeweils am Anfang und Ende c und g zusammen auf). Beginn und Schluss des gesamten Werks haben ebenfalls eine starke Beziehung: Das Ostinato c 1- d 1 am Anfang des Fragments Nr. 1 erscheint am Ende von Nr. 40 in variierter Form: mit hinzugefügten Großterzen; die letzten Töne des Werks sind ein mehrmaliges c 3 –e 3 ( ad libitum ) vor d 3 –fis 3. Auch die einzelnen Teile I–IV weisen Bögen dieser Art auf: Der I. Teil beginnt mit einem c 1 und endet mit einem Akkord, in dessen Vorschlag ein g auftritt. Dieses wird durch den II. Teil zu Anfang ( g - g 1) und Ende ( g - h 1) übernommen; der tiefste Ton des II. Teils ( g ) entspricht außerdem genau der Lage des Vorschlags am Ende des I. Teils. Der III. Teil beginnt und endet mit ais , der IV. Teil mit fis .

Wenn man die einzelnen Teile detaillierter betrachtet, fällt auf, dass durch den wechselnden Fokus auf einzelne Tonhöhen kleinere Gruppierungen der Stücke entstehen: Die Fragmente Nr. 1–5 konzentrieren sich in ihren Anfangs- und Endtönen klar auf c ; im Fragment Nr. 6, welches im Kontrast zu den benachbarten Stücken eine Reprisenform aufweist, ist kein Bezug zu den vorhergehenden Tonzentren erkennbar. Es folgt ein die Fragmente Nr. 7–11 umspannender, c -zentrierter Rahmen; Nr. 12 weist keinen Rückbezug auf Tonzentren auf. Die Anfangs- und Endtöne der Fragmente Nr. 13 und Nr. 14 beschreiben einen Bogen g–c 1 –c 1 –g ; die verbleibenden fünf Fragmente dieses Teils bleiben wiederum ohne Bezug auf vorangegangene Zentren (eine Ausnahme bildet das subtile his 1 in Nr. 16).

Im III. Teil spielt zunächst in einem ersten Rahmen g eine wichtige Rolle (Nr. 21–25 [III/1–III/5]). Dann wechselt der Fokus und spannt von Nr. 26–31 [III/6–III/11] einen weiteren Rahmen mit a als Zentrum: Nr. 26 endet mit einem A-Dur (der Text des Fragments lautet: »Der begrenzte Kreis ist rein«); Nr. 31 endet mit einem a-Moll-Akkord mit cis . Innerhalb dieses zweiten Rahmens ist parallel ein zusätzliches Zentrum d zu erkennen, das Nr. 28 bis Nr. 30 umfasst; diese Klammer kennzeichnet außerdem die wörtliche Beziehung zwischen den Anfangs- und Endtönen von Nr. 28 ( d 1, eis 1, fis 1, a 1, e 2) und Nr. 30 ( d 1, f 1, ges 1, a 1, e 2; his 2).

Der letzte Teil beginnt mit einem fis 1, das als Auftakt zu g 1 fungiert: Nr. 33–40 [IV/1–IV/8] sind konsistent g -zentriert; das in jedem Fragment präsente (kleine) g wird erst im B-Teil von Nr. 40 von der Geige diatonisch (quasi mixolydisch) zu c 1 geführt. Beide Töne spielen in diesem Abschnitt in der melodischen Gestaltung eine wichtige Rolle. Die Lage des g wirkt im Verlauf des IV. Teils auch einheitsstiftend: Außer zu Beginn wird der Ton immer auf der leeren IV. Saite gespielt.

Betrachtet man den gesamten narrativen Bogen der Tonhöhen, lässt sich – wie auch beim formal-architektonischen Verlauf – eine Art linearer »Plot« feststellen, der den gesamten Zyklus umspannt: Der I. Teil wirkt insgesamt die Tonhöhenbeziehungen betreffend fast wie eine Exposition: Zuerst ist der Abschnitt sehr auf c fokussiert, wird dann jedoch nach g verschoben, bevor der Verlauf in einen »freieren« Teil mündet und schließlich auf g endet. Parallel dazu bewegen sich die Fragmente Nr. 1–5 in entwickelnden und Reihungsformen voran, erst in Nr. 6 findet die erste Reprisenform statt. In den entwickelnden Formen Nr. 15–17 treten die vorangegangenen Tonzentren c und g nicht auf; erst nach Ablauf der beiden schließenden Reprisenformen endet der I. Teil wieder mit einem Tonzentrum g . Dieses fungiert im II. Teil, welcher ebenfalls als Reprisenform konzipiert ist, wieder als öffnendes und schließendes Tonzentrum.

Der III. Teil hingegen ist abwechslungsreicher bzw. dichter konzipiert: Die Kontinuität der Tonzentren, wie sie im I. Teil auftritt, wird im III. Teil stärker gestört; der Verlauf verlässt klar das Zentrum g und führt während der verbleibenden Fragmente dieses Teils mit den Zentren a und d zu einem neuen tonalen Raum. Dieser Vorgang spiegelt gleichzeitig auch den formal-architektonischen Aufbau wieder, welcher eine Abfolge dynamischer Formtypen zu Beginn und Ende durch Reprisenformen begrenzt. Die Stabilität der Tonorganisation ist im letzten Teil, der erneut mit g beginnt und stark um g zentriert ist, wiederum sehr hoch. Die Konzeption ähnelt hier dem sehr stringenten formal-architektonischen Aufbau und verstärkt dessen Finalcharakter. Der Ton c , der am Anfang des Werkes als Tonzentrum fungierte, wird in Nr. 40 mit dem Tonzentrum g zusammengeführt. Der IV. Teil endet mit einer Variante des anfänglichen Ostinato und schließt so den Kreis zum Beginn.

4. Experimentelle Anordnung

Wie zu Beginn dieses Beitrags besprochen wurde, kann die Anordnung der Kafka-Fragmente , so Wilheim, theoretisch bei jeder Aufführung eine andere Form annehmen und lässt so die Verwirklichung durch die Interpret*innen offen. Experimentell wurden daher im Rahmen eines weiteren PETAL-Workshops 54 mit Caroline Melzer und Nurit Stark 13 Fragmente in einer alternativen Reihenfolge ausgeführt. Alle 40 Fragmente wurden dazu ihren Liedtexten entsprechend in fünf Themenbereiche eingeteilt: I. Der Weg – II. Traum – III. Liebe – IV. Tanz – V. Tiere (Tabelle 1). Im Experiment wurde der erste Themenbereich in einem quasi-konzertanten Durchlauf erprobt. 55

Experimentelle Reihenfolge (Workshop am 21.11.2019)

Originale Position

Dauer (Mw. 8 Aufnahmen)

I. Der Weg

4. Meine Festung

23. (III/3)

00:55

5. Wie ein Weg im Herbst

02.

00:33

6. Nimmermehr (Excommunicatio)

06.

01:20

7. Keine Rückkehr

16.

00:57

8. Haben? Sein?

21. (III/1)

00:38

9. Zwei Spazierstöcke (authentisch-plagal)

15.

00:56

10. Wiederum, wiederum

39. (IV/7)

01:28

11. Stolz (1910 / 15. November, zehn Uhr)

17.

00:39

12. Der wahre Weg (Hommage-message à Pierre Boulez)

20. (II/1)

06:12

13. Ziel, Weg, Zögern

27. (III/7)

00:40

14. So fest

28. (III/8)

00:46

15. In memoriam Joannis Pilinszky

38. (IV/6)

02:34

16. Die Guten gehn im gleichen Schritt…

01.

01:00

18:38

II. Traum

17. Berceuse I

05.

00:59

18. Sonntag, den 19. Juli 1910 (Berceuse II)

11.

01:11

19. Träumend hing die Blume (Hommage à Schumann)

18.

02:11

20. Elendes Leben (Double)

25. (III/5)

00:15

21. Der begrenzte Kreis

26. (III/6)

00:26

22. Staunend sahen wir das große Pferd

31. (III/11)

02:15

07:17

III. Liebe

23. Es zupfte mich jemand am Kleid

08.

00:11

24. Verstecke

03.

00:20

25. Eine lange Geschichte

34. (IV/2)

00:58

26. Verstecke (Double)

29. (III/9)

01:04

27. Aus einem alten Notizbuch

36. (IV/4)

00:58

28. Der Coitus als Bestrafung (Canticulum Mariae Magdalenae)

22. (III/2)

00:21

29. Ruhelos

04.

00:21

30. Schmutzig bin ich, Milena

24. (III/4)

01:38

31. Penetrant jüdisch

30. (III10)

00:21

32. Zu spät (22. Oktober 1913)

33. (IV/1)

03:10

09:22

IV. Tanz

33. Nichts dergleichen

19.

01:06

34. „Wenn er mich immer frägt“

07.

00:26

35. Die Weißnäherinnen

09.

00:23

36. Szene in der Elektrischen (1910)

32. (III/12)

03:49

37. Szene am Bahnhof

10.

00:14

38. Einmal brach ich mir das Bein (Chassidischer Tanz)

13.

00:36

06:34

V. Tiere

39. Es blendete uns die Mondnacht

40. (IV/8)

06:19

40. Meine Ohrmuschel…

12.

00:11

41. In memoriam Robert Klein

35. (IV/3)

00:36

42. Umpanzert

14.

00:23

43. Leoparden

37. (IV/5)

01:52

09:21

Tabelle 1 György Kurtág, Kafka-Fragmente , experimentelle Anordnung (Workshop).

Um einem möglichen, durch die experimentelle Umordnung beeinflussten Unterschied in der Interpretation nachzugehen, werden die Fragmente, wie sie im Workshop gespielt wurden, vier Aufnahmen des Duos Melzer/Stark gegenübergestellt (Tabelle 2). 56 Zunächst werden die Dauern der einzelnen Fragmente sowie deren Anteile an der Gesamtdauer der gewählten Stücke verglichen. Um die Ausführung der Fragmente im Workshop genauer im Interpretationskontext des Duos verorten zu können, werden außerdem sowohl die relative Abweichung der Fragmentdauern des Workshops von den Aufnahmen, als auch die Abweichung der Daueranteile von jenen der Aufnahmen ermittelt. Die Ergebnisse des Workshops dürfen selbstverständlich nicht als Erkenntnisse einer Studie gewertet werden; die Ausführung der alternativen Anordnung fand in einem spontanen Setting statt und ist als experimentelle Beobachtung einer möglichen neuen zyklischen Kohärenz zu sehen.

Dauern der einzelnen Fragmente

23

2

6

16

21

15

17

20

27

28

38

1

Gesamt

MS (Workshop)

00:51,9

00:39,4

01:17,0

01:07,3

00:34,9

00:58,2

00:41,3

07:09,6

00:44,7

00:53,6

03:09,5

01:00,4

19:07,8

MS12

00:47,7

00:33,6

01:16,4

01:02,0

00:37,1

00:44,6

00:40,3

07:20,4

00:40,2

00:49,9

02:43,9

01:02,2

18:18,3

MS13

00:46,4

00:30,7

01:15,1

01:07,8

00:35,1

00:48,5

00:38,8

06:57,0

00:38,9

00:48,3

02:49,1

01:01,3

17:57,1

MS17

00:45,7

00:31,1

01:16,0

01:05,9

00:35,4

00:59,5

00:38,9

07:10,8

00:44,4

00:48,0

02:32,9

01:01,6

18:10,0

MS19

00:50,2

00:32,8

01:16,1

01:09,1

00:34,8

00:58,1

00:40,5

07:21,7

00:41,7

00:54,3

03:14,0

01:01,2

19:14,4

Anteile an der Gesamtdauer der gewählten Stücke (%)

23

2

6

16

21

15

17

20

27

28

38

1

MS (Workshop)

4,53

3,43

6,71

5,86

3,04

5,07

3,60

37,43

3,90

4,67

16,51

5,26

MS12

4,35

3,06

6,95

5,65

3,38

4,06

3,67

40,10

3,66

4,54

14,92

5,66

MS13

4,31

2,85

6,98

6,30

3,26

4,50

3,60

38,71

3,61

4,48

15,70

5,69

MS17

4,19

2,85

6,97

6,05

3,24

5,46

3,57

39,52

4,07

4,40

14,02

5,65

MS19

4,34

2,84

6,59

5,99

3,02

5,03

3,51

38,26

3,61

4,70

16,80

5,30

Relative Abweichung der Workshop-Dauern von den Aufnahmen (%)

23

2

6

16

21

15

17

20

27

28

38

1

Gesamt

MS12

8,11

14,72

0,79

7,79

6,25

23,42

2,49

2,50

10,01

6,94

13,51

3,01

4,32

MS13

10,67

21,90

2,37

0,87

0,69

16,68

6,04

2,95

13,05

9,95

10,75

1,50

6,16

MS17

12,07

20,95

1,29

2,01

1,30

2,20

5,78

0,26

0,72

10,49

19,34

1,92

5,04

MS19

3,45

16,64

1,15

2,82

0,27

0,13

2,00

2,81

6,76

1,25

2,36

1,26

0,58

Abweichung der Daueranteile des Workshops von den Aufnahmen (%)

23

2

6

16

21

15

17

20

27

28

38

1

MS12

0,18

0,37

0,25

0,21

0,34

1,01

0,07

2,67

0,23

0,13

1,59

0,40

MS13

0,22

0,58

0,27

0,44

0,22

0,57

0,00

1,28

0,29

0,19

0,81

0,43

MS17

0,34

0,57

0,26

0,19

0,20

0,39

0,03

2,09

0,18

0,27

2,49

0,39

MS19

0,18

0,59

0,12

0,13

0,03

0,04

0,09

0,83

0,28

0,03

0,29

0,04

Tabelle 2 György Kurtág, Kafka-Fragmente , Vergleich der Fragmentdauern im Workshop mit den Aufnahmen des Duos Melzer/Stark (MS).

Bei einer ersten Betrachtung der Dauern fällt ins Auge, dass die im Rahmen des Workshops erprobte Interpretation (Gesamtdauer der ausgewählten Fragmente: 19:08) mit dem Mitschnitt des am Folgetag des Workshops veranstalteten Konzerts (19:14) eine deutliche Ähnlichkeit besitzt: Die Abweichung der Gesamtdauer beträgt einen minimalen Wert von 0,58 %. Dieses Verhältnis ist auch an den einzelnen Fragmenten abzulesen und spiegelt sich in der Abweichung der Daueranteile wider.

Trotz dieser großen Ähnlichkeit lassen sich einige vergleichende Aussagen treffen. Bei den Anteilen der Fragmente an der Gesamtdauer fällt auf, dass den Fragmenten Nr. 23 und Nr. 2 (in der experimentellen Anordnung an Position 1 bzw. 2) im Workshop im Vergleich zu den vier Aufnahmen ein deutlich höherer Prozentanteil zukommt (Nr. 23: 4,53 %, Nr. 2: 3,43 %). Ebenfalls bemerkenswert ist, dass das sonst isolierte Fragment Nr. 20 im Workshop den niedrigsten Prozentanteil aufweist (37,43 %). Überraschenderweise ist für das Fragment Nr. 1, das in dieser Anordnung an den Schluss gerückt ist, weder für die Dauer noch die Dauerproportion ein signifikanter Unterschied abzulesen. Diese Tatsachen werfen die Frage auf, ob durch die neue Anordnung eine Änderung der Konzeption innerhalb der interpretierten Stücke stattgefunden hat. Diese Stücke, die in der Anordnung Schlüsselpositionen einnehmen – Anfang/(annähernd) Mitte/Ende – wurden daher auf ihre »innere« Konzeption hin untersucht (Tabelle 3).

Formteile (%): Nr. 23

MS (Workshop)

MS12

MS13

MS17

MS19

A

58,3

55,9

58,7

57,8

58,7

B

26

24,4

24,1

24,9

25,4

E

15,7

19,7

17,3

17,4

15,9

Formteile (%): Nr. 2

MS (Workshop)

MS12

MS13

MS17

MS19

A

30,5

38,7

36,9

34,4

33,1

B

43,5

47,2

47,2

52,1

46,4

E

26

14,1

15,9

13,5

20,4

Formteile (%): Nr.20

MS (Workshop)

MS12

MS13

MS17

MS19

(A+A'+A'')

77,5

78,2

78,4

77,7

78

B

5,6

6

5,2

5,5

4,6

A'''

16,8

15,8

16,4

16,8

17,4

Formteile (%): Nr. 1

MS (Workshop)

MS12

MS13

MS17

MS19

A

47,9

45,2

44,6

45

44,7

B

31,6

32,6

32,3

32,4

32

B'

20,6

22,2

23,1

22,6

23,3

Tabelle 3 György Kurtág, Kafka-Fragmente , Verhältnis der Formteile innerhalb der Fragmente Nr. 23, Nr. 2, Nr. 20 und Nr. 1.

Die Proportionen der Formteile innerhalb des Fragments Nr. 23 entsprechen im Workshop annähernd dessen Proportionen in den vier Aufnahmen; bei diesem Stück sind nur geringfügige Abweichungen in der Zeitgestaltung zu erkennen. Im Gegensatz dazu sind bei Fragment Nr. 2 sehr deutliche Unterschiede in der Konzeption zu sehen: Dem A-Teil (30,5 %) sowie B-Teil (43,5 %) dieses Fragments kommen im Workshop ein wesentlich kleinerer Anteil zu als in den Aufnahmen. Der Epilog dieses Fragments jedoch erhält im Workshop eine deutlich höhere Ausdehnung als in den anderen Interpretationen (26 %).

Bei Nr. 20 sind auch für die Zeitgestaltung der Formteile keine signifikanten Abweichungen auszumachen; der geringe Prozentanteil des Stückes im Vergleich zur Gesamtdauer aller ausgewählten Fragmente scheint durch die (größeren) Änderungen in den übrigen Stücken zustande gekommen zu sein. Für das Fragment Nr. 1 war bezüglich Gesamtdauer und Dauerproportion kein erwähnenswerter Unterschied zu erkennen; betrachtet man jedoch die Proportionen seiner Formteile, sieht man, dass die Konzeption der Teile geringfügig verschoben ist: Dem A-Teil kommt hier ein höherer Anteil zu als in den vier Aufnahmen (47,9 %). Während der B-Teil den übrigen Mitschnitten ähnelt (31,6 %), kommt dem B'-Teil wiederum ein etwas geringerer Prozentanteil zu (20,6 %).

Zusammenfassend lassen sich folgende Feststellungen zur experimentellen Anordnung machen: Die Gesamtdauer sowie die Prozentanteile der einzelnen Stücke an dieser ähneln stark dem Konzertmitschnitt des Folgetages, d.h. im Workshop waren diesbezüglich keine aussagekräftigen Abweichungen festzustellen. 57 Die Fragmente Nr. 23 und Nr. 2 erhielten möglicherweise durch ihre Positionierung am Anfang des Ablaufs eine ausgedehntere Gestaltung; ihnen fiel dadurch insgesamt eine etwas stärkere Gewichtung zu, als im Kontext ihrer »ursprünglichen« Anordnung. Das Fragment Nr. 20 blieb trotz seiner veränderten Position auffallend ähnlich konzipiert; dieser Sachverhalt wäre eventuell auf seine sehr isolierte Position innerhalb der Kafka-Fragmente zurückzuführen. Das in dieser Anordnung schließende Fragment Nr. 1 wurde – trotz gleichbleibender Gesamtdauer und Dauerproportion – anders gestaltet: Eine Gewichtung erhielt hier durch eine geringfügige Ausdehnung eher dessen A-Teil. Während dieses Stück sonst das gesamte Werk eröffnet und sozusagen »aus dem Nichts« beginnt, erhält es mit der Schlussposition eine »Vorgeschichte«, als deren Ergebnis es somit fungieren kann.

Fazit

Den Kafka-Fragmenten fällt, schenkt man den zitierten Ausführungen András Wilheims Glauben, eine Schlüsselrolle in György Kurtágs Opus zu: Sie seien der Beginn einer neuen Periode von Werken mit geschlossener Konzeption und offener Ausführung. Trotz dieser optimistischen Einschätzung hat die Möglichkeit einer offenen Anordnung und die damit verbundene formanalytische Sichtweise auf das Werk weder in der wissenschaftlichen Literatur, noch in der Interpretationsgeschichte nennenswerten Niederschlag gefunden. Eine analytische Betrachtung potenziell einheitsstiftender musikalischer Kriterien gibt jedoch den Blick auf stark bindende und in dieser Funktion als konventionell zu bezeichnende Aspekte der publizierten Werkkonzeption frei. Die in Form und Topoi mit traditionellen Merkmalen behaftete viersätzige Anlage in sich geschlossener Werkteile, die organische Verkettung der Rahmentöne sowie die Transparenz der konventionellen formal-architektonischen Konstruktion der Fragmente mögen als musikalisch-formale Indizien für eine Kurtágsche Rezeption klassisch-romantischen Repertoires gewertet werden.

Ungeachtet der durch Wilheim postulierten Offenheit tritt das Werk durch den Notendruck in von seiner Hand linear fixierter Gestalt in Erscheinung. Diese folgt zwar durchaus dem Varietätsanspruch der in op. 37 inkludierten Anleitung, bildet jedoch augenscheinlich ›Spuren geschichtlicher Tektonik‹ ab und steht im Widerspruch zur Behauptung, die Kafka-Fragmente erhielten durch Umordnung mit jeder Aufführung eine einmalige Physiognomie. Dadurch geht in der Partitur die Funktion der Interpret*innen als ›erweiterte Autoren‹ für dieses Werk verloren. Eine Ausführung in veränderter Reihenfolge ist zwar denkbar, deren Kohärenz jedoch gegenwärtig in Ermangelung derartiger Interpretationsversuche nicht fundiert einzuschätzen. In seiner veröffentlichten Gestalt ist op. 24 indessen als zyklisch konzipiertes Werk einzustufen, das die Grenzen seiner konventionell interpretierbaren Konstruktion nicht verlässt: als ein ›Kaleidoskop im klassischen Rahmen‹.

Literatur

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  • William, Alan E. (2011), »György Kurtág and the Open Work«, The Hungarian Quarterly 42/163, 136–146.
Inhaltsverzeichnis
  1. cover
  2. imprint
  3. Vorwort
  4. Writing Sound Into the Wind
  5. Zwischen Federkiel und digitaler Codierung: Musikalische Schrift als mediales Spannungsfeld
  6. Mathematische Remodellierung zur Erforschung der exakten Semantik einfacher konventioneller Notationssysteme
  7. Von Übernotation und Unternotation
  8. Notation und Analyse von Tonhöhenverläufen in Sprechmelodien
  9. Transición II by Mauricio Kagel
  10. Zwischen Freiheit und Intention – Zur Notation von Berios
  11. Handlungsraum oder Hürde?
  12. Von zu
  13. Notation, Interpretation, Improvisation
  14. Notation of an Archetype
  15. Unspielbare Musik
  16. Revolution, Edition, Produktion, Revision
  17. Ein Babel der Gehörbildung?
  18. Musik verstehen ohne Noten? Notationskonzepte für Schule und Musikschule
  19. Blended Learning im Musiktheorieunterricht
  20. Kontinua aus Diskontinuitäten
  21. »Ein Kaleidoskop im klassischen Rahmen«
    1. 1. Der Zyklusbegriff in den
    2. 2. Architektonische Form als potenzielles Kriterium für Zyklizität
    3. 3. Dramaturgie der musikalischen Disposition
    4. 4. Experimentelle Anordnung
    5. Fazit
    6. Literatur
  22. »[…] aus mehr oder weniger zerklüfteten Bruchstücken große, weitläufige musikalische Formgebilde […] bauen.« Klanglich-aufführungspraktische Gestaltung makroformaler Zusammenhänge in Tonaufnahmen von György Kurtágs für Sopran und Violine op. 24
  23. Towards a ‘Treatise’ of 7-Limit Harmony
  24. Jenseits von Funktion und Konstrukt Teil 1
  25. Beobachtungen zur Verlaufsgestaltung klassischer Sonatenexpositionen
  26. »Muti una volta quel antico stile«. Aspekte einer Quintfall-Passage bei Luca Marenzio