Musik verstehen ohne Noten? Notationskonzepte für Schule und Musikschule
Obwohl in Deutschland durch die länderübergreifende Verbreitung von Kooperationsmodellen wie Jedem Kind ein Instrument oder JeKits - Jedem Kind Instrumente, Tanzen Singen 1 in den vergangenen Jahren viele Berührungspunkte zwischen schulischer Musikpädagogik auf der einen und Instrumental-, Gesangs-und Ensemblepädagogik auf der anderen Seite entstanden sind, überwiegen dennoch die Unterschiede im Methodenspektrum etwaige Gemeinsamkeiten. 2 Die Gründe hierfür sind vielfältig.
Pädagogik für Musikschule, Amateurmusizieren und Studienvorbereitung wird in der Regel separat von schulischer Musikpädagogik, oft enger angeschlossen an die künstlerischen als an die lehramtsbezogenen Studiengänge, gelehrt und studiert. Sie scheint, zumindest auf den ersten Blick, in geringerem Maße didaktisch-methodisch erschlossen und normiert zu sein als die Musikpädagogik für die Schule. Das gilt auch für die Bereiche elementare Musiktheorie, Musiklehre und Hörerziehung. Michael Dartsch beschreibt diesen Befund in Form einer Gegenüberstellung zwischen formalem und non-formalem Lernen.
Die Unterscheidung zwischen formalem und non-formalem Lernen prägt […] die Strukturen der Studiengänge und die Scientific Communities: Während die musikalische Allgemeinbildung als Domäne formalen Lernens in der Schule gilt, für die die Lehramtsstudiengänge qualifizieren, findet etwa instrumentales Lernen, das im Zentrum künstlerisch-pädagogischer Studiengänge steht, überwiegend in non-formalen Kontexten statt (s.a. Grgic, 2016, S. 42–43). Für beide Bereiche existieren außerdem unterschiedliche Verbände. 3
Zwischen den von Dartsch erwähnten separaten Berufsverbänden für schulische und außerschulische Musikpädagogik finden Annäherungen statt, auch wird zunehmend die Möglichkeit eines kombinierten Studiums für die Bereiche Lehramt und Instrumental- bzw. Gesangspädagogik angeboten. Dennoch werden die Curricula musikpädagogischer Studiengänge der Vielfalt der im Grenzbereich zwischen Schule und nichtschulischem Musikunterricht gelebten Praxis überwiegend noch nicht gerecht. Das trägt zu einer hohen Belastung der Pädagog*innen bei, die in Kooperationen wie Jedem Kind ein Instrument tätig sind.
In diesem Kontext ist auch für die Lernbereiche Musiktheorie und Gehörbildung die Entwicklung einer grenzüberschreitenden Methodik höchst wünschenswert. Eine solche Methodik käme nicht nur dem Klassenmusizieren in den oft leistungsheterogenen Lerngruppen an der Regelschule zugute, sondern würde auch Impulse setzen für eine didaktisch wie wissenschaftlich begründete analytische Auseinandersetzung mit Werken unterschiedlicher Stilepochen im Unterricht. Ein Beitrag in diesem Sinne wäre die Weiterentwicklung von Formen didaktischer Notation und Repräsentation von Musik. Warum diese erforderlich ist, sei an einem Beispiel illustriert.
Das Schülerbuch Musik um uns für die gymnasiale Oberstufe 4 enthält zu Antonio Vivaldis Konzert für Violine, Streichorchester und Basso Continuo in Es-Dur zwei Notationsbeispiele, hier dargestellt in den Abbildungen 1 und 2. 5
Die Tabelle in Abbildung 1 soll durch die Schüler*innen vervollständigt werden – die Grafiken von a) bis e) stehen für verschiedene Abschnitte bzw. Soggetti aus dem ersten Satz, die beim Hören des Musikbeispiels in die Spalten für weitere Ritornelle übertragen werden sollen – eine sehr elementare, niederschwellige Form von grafischer Notation. Auf diesem Niveau arbeiten Musikpädagog*innen bereits in der musikalischen Frühförderung.

Abbildung 1 Höraufgabe für die gymnasiale Oberstufe bei Sauter/Weber.

Abbildung 2 Partiturausschnitt, T. 129–133 zur Analyse für die gymnasiale Oberstufe bei Sauter/Weber.
Abbildung 2 zeigt hingegen einen Ausschnitt der Partitur des 2. Satzes. Schüler*innen von Musik-Grundkursen der Oberstufe – selbst mit Erfahrung im Spiel eines klassischen Instruments – können dieser Partitur, wenn überhaupt, wohl nur vage Informationen über Besetzung, Charakter und melodischen Verlauf der Solostimme entnehmen. Schwierigkeiten bestehen u.a. in der Verwendung des Bratschenschlüssels, der im genannten Lehrwerk nirgends erläutert wird, 6 sowie im tonalen Kontext des Werkausschnitts.
Die Autor*innen gehen wohl gar nicht davon aus, dass das Notenbeispiel wirklich gelesen wird, denn andernfalls stünde die Frage der Tonart im Raum, die selbst für Musiklehrer*innen allein anhand dieses Ausschnittes schwer erschließbar sein könnte – es handelt sich um einen Formabschnitt in der Oberquinttonart g-Moll des Satzes mit der Grundtonart c-Moll. An keiner Stelle im Lehrwerk wird auf den formalen und harmonischen Kontext des Ausschnitts eingegangen. Dennoch werden den Schüler*innen anspruchsvolle Aufgaben gestellt, z.B. »Untersuchen Sie im Partiturausschnitt […] Funktion und Verhältnis von Solovioline und Orchesterinstrumenten.« Dabei ist es der Zielgruppe des Schülerbuchs wegen des Bratschenschlüssels noch nicht einmal möglich, das Unisono in Takt 130 und 131 zu erkennen.
Obwohl für einen Großteil der Schüler*innen buchstäblich kaum zu entschlüsseln, stellt das Notenbeispiel aus Abbildung 2 innerhalb des Lehrwerks Musik um uns ein eher leichtes Exempel dar, verglichen etwa mit Partiturausschnitten einer 16-stimmigen Orchesterfuge von Max Reger 7 und aus Krzysztof Pendereckis Lukaspassion 8 oder mit Auszügen aus dem Klavierauszug zu Richard Wagners Oper Tristan und Isolde. 9
Das Beispiel offenbart eine Krux des Musikunterrichts: Es besteht eine Lücke zwischen dem Anspruch des Lehrplans und der im Unterricht vorauszusetzenden oder erreichbaren Notenlesekompetenz der Schüler*innen, die nicht einmal ansatzweise geschlossen wird. Zwischen dem elementaren ›Malen nach Musik‹, wie es bereits in der musikalischen Frühförderung praktiziert wird, und einem kompetenten Umgang mit der Notation tonaler Musik wird in der Schule kein stringenter Weg beschritten. Viele Abiturient*innen in Deutschland sind und bleiben musikalische Analphabet*innen, sofern sie nicht in ihrer Freizeit sichere Kenntnisse der Notenschrift erworben haben.
Für kein anderes Schulfach wäre ein solcher Befund tolerabel. Keine Lehrplankommission z.B. für das Fach Chemie käme auf die Idee, dass das Verständnis chemischer Reaktionsgleichungen den Schüler*innen in der gymnasialen Oberstufe nicht zuzumuten und der Unterricht mithin auf eine rein phänomenologische Beschreibung chemischer Prozesse zu beschränken sei.
Auf der Suche nach Ansätzen für eine der Situation im Musikunterricht der Regelschule angemessenen Notationsweise, die also einerseits mit dem Blick auf die geringen Vorkenntnisse der Schüler*innen niederschwellig und andererseits hinsichtlich der Repräsentation von Eigenschaften der dargestellten Musik anspruchsvoll ist, mag ein kurzer Blick auf alternative Notationsformen aus Lehrwerken für unterschiedliche Zielgruppen einschließlich des vorschulischen Bereichs hilfreich sein. Die Darstellung der Beispiele erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und impliziert kein Qualitätsurteil über die zitierten Lehrwerke und die im unterrichtlichen Zusammenhang verwendeten Methoden. Im Rahmen dieses Beitrages geht es lediglich darum, aus einer Auswahl innovativer Notationsweisen Impulse für Methodik und Unterrichtspraxis abzuleiten.
Angelika Foltz-Zaun bietet für die Musikalische Früherziehung eine einfache Notationsweise für Gegensatzpaare an. Abbildung 3 zeigt die Unterscheidung zwischen hohen und tiefen Tonstufen, 10 Abbildung 4 die Visualisierung kurzer und langer Tondauern. 11 Das Lehrwerk für Gruppen von Kindern im Alter etwa zwischen drei und sechs Jahren beschränkt sich im rhythmischen Bereich auf vier Grundpatterns, von denen jedes mit einem Tiernamen verknüpft wird. Für die darin ausschließlich verwendeten Viertel- und Achtel-Notenwerte werden Punkte und Striche eingesetzt.

Abbildung 3 Elementare Tonhöhennotation bei Foltz-Zaun.

Abbildung 4 Elementare Rhythmusnotation bei Foltz-Zaun.
An der Schwelle zwischen Vorschul- und frühem Schulalter angesiedelt ist das Unterrichtsprogramm Musikbaukasten , konzipiert für Gruppen an der Musikschule oder im Rahmen von Kooperationen zwischen Schule und Musikschule in der Schuleingangsphase. 12 Der Begriff ›Baukasten‹ ist durchaus wörtlich gemeint – mit Holzbausteinen unterschiedlicher Größe werden Rhythmen und Melodiefolgen gelegt, Seile dienen wahlweise als Taktstriche bei Rhythmusübungen oder Notenlinien im Fall von Tonhöhenübungen. Abbildung 5 zeigt ein Legebeispiel für eine pentatonische Melodie, 13 Abbildung 6 eines für einen polyphonen Rhythmus, der gleichzeitig in verschiedenen Instrumentengruppen erklingen soll. 14 Tondauern und Tonhöhen werden getrennt voneinander erarbeitet und dementsprechend nur getrennt notiert, so dass die gleichen Bausteine hier Notenwerte und dort Tonhöhen repräsentieren. Eine Verknüpfung ist innerhalb des Arbeitsheftes zum genannten Unterrichtsprogramm nicht vorgesehen oder wird der Kreativität der Lehrkraft überlassen.

Abbildung 5 Tonhöhennotation bei Jaufenthaler/Zeisler.

Abbildung 6 Rhythmusnotation bei Jaufenthaler/Zeisler.
Die oben dargestellten Notationsformen dienen der Einführung in die traditionelle Notation und werden durch diese in den genannten Lehrwerken bald ersetzt. Ziel ist die Anbahnung des Instrumental- oder Gesangsunterrichts und der hierfür erforderlichen Notenlesekompetenz. Die nun folgenden Beispiele stehen im Kontext von Musizierpraxis und Gehörbildung.
Die in Abbildung 7 dargestellte Übung aus dem Heft 4 der Reihe Band-Impulse von Ulrich Kaiser 15 nutzt die Methode der relativen Solmisation. 16 Im Interesse einer niederschwelligen Gestaltung werden die Skalenstufen im Arbeitsheft grundsätzlich mit Ziffern anstelle von Solmisationssilben bezeichnet. Die Abbildung ist Teil einer Übung, in der Schüler*innen Melodiestufenfolgen erfinden und anschließend vom Blatt singen. Didaktisches Ziel ist die Entwicklung einer Hörvorstellung der Skalenstufen. In einem vorgeschalteten Lernschritt wird die zugrunde liegende Tonreihe anhand einer grafischen Darstellung mit Höhenverlauf auf- und abwärts am Klavier gespielt und gesungen, zur Ergänzung ist eine Darstellung in traditioneller Notenschrift beigefügt. Im Sinne einer leichten Umsetzbarkeit erfolgt im abgebildeten Lernschritt keine grafische Veranschaulichung der Tonhöhe. Dieser Verzicht birgt die Gefahr, dass die Stufenfolge ohne Verknüpfung mit einer Hörvorstellung erfunden und der Zusammenhang zwischen Ziffer und relativer Tonhöhe einer Stufe nicht im angestrebten Maße internalisiert wird.

Abbildung 7 Erfindung und inneres Hören einer Tonstufenfolge bei Kaiser.
Die Grafik in Abbildung 8 aus einem Schülerbuch für die Klassenstufen 9 und 10 ist für die Improvisation mit Quartenschichtungen bestimmt. 17 Hier werden absolute Tonhöhen verwendet. Eine Veranschaulichung des strukturellen Verhältnisses der fünf Tonmaterialien ist nur zum Teil gegeben. Durch eine Abstufung der Balken wäre die Visualisierung der chromatischen Tonleiter als Grundlage der Folge von Quartenklängen leicht möglich gewesen. Analytische Aspekte treten zugunsten einer möglichst einfachen und platzsparenden Notation für die musikpraktische Umsetzung in den Hintergrund.

Abbildung 8 Tonmaterialtabelle für die Improvisation bei Pütz/Schmidt.
Dem Ziel einer inklusiven Musikschule gewidmet ist das Lehrwerk Max einfach von Robert Wagner, bestehend aus einem Spielheft und einem knapp gefassten Lehrerband. 18 Die Buchstabennotation (Abb. 9) ist für Menschen bestimmt, die die traditionelle Notenschrift nicht oder nur mit großer Mühe erlernen können. Mithilfe der Methode von Wagner sollen Menschen mit besonderem Förderbedarf unter Umgehung der Barriere, die die traditionelle Notenschrift darstellt, rasch zum Musizieren gelangen. Das Lernpotenzial der Zielgruppe hinsichtlich ihres musikalischen Hörvermögens wird jedoch durch die Methode nicht ausgeschöpft, da der Parameter Tonhöhe durch die Buchstabenschrift nicht repräsentiert wird. Es erfolgt lediglich die Zuordnung eines Tonnamens zu einem bestimmten Klangbaustein, einem Griff oder einer Taste auf einem Instrument. Ergänzende Übungen zur Entwicklung der Tonhöhenvorstellung enthalten weder das Spielheft noch der Lehrerband des Unterrichtswerks. 19

Abbildung 9 Buchstabennotation für Tonhöhen bei Wagner.
Ein weiteres Beispiel einer auf die Bedürfnisse einer besonderen Zielgruppe ausgerichteten alternativen Notation ist die Braille-Musikschrift, eine Spezialform der Braille-Punktschrift. 20 Ein Vorzug dieser Notation ist, dass die Notenzeichen Informationen zur genauen Bestimmung mehrerer Parameter wie Tonhöhe, Oktavlage und Tondauer auf sehr knappem Raum enthalten. Sie bildet überdies stärker als die traditionelle Notenschrift Strukturen wie Intervalle und Akkorde systematisch ab und fördert damit die musiktheoretische und analytische Kompetenz ihrer Zielgruppe.
Es folgen zwei Beispiele für analytische Repräsentationen tonaler Musik, insbesondere für die Verdeutlichung von Formabläufen. Abbildung 10 zeigt eine Grafik zur Einführung in die Sonatenhauptsatzfom aus dem Schülerbuch Spielpläne 3 für den Musikunterricht an Realschulen und Gymnasien . 21 Auffallend ist die Wortwahl in der beigefügten Aufgabenstellung: »Seht euch die Notenbeispiele aus der Exposition an. […] Beschreibt anhand der Notenbeispiele die Veränderungen, die die Themen in der Durchführung erfahren.« 22 Durch Betrachten – nicht etwa Lesen – von beigefügten Notenbeispielen sollen Schüler*innen wesentliche Inhalte der Komposition untersuchen und beschreiben. Dass die Grafik hierfür eine Hilfestellung ist, kann zumindest bezweifelt werden. Die methodische Aufbereitung des Unterrichtsgegenstandes in der genannten Veröffentlichung aus dem Jahr 2008, noch 2017 in unverändertem Neudruck erschienen, unterscheidet sich nicht von derjenigen in Lehrwerken des letzten Jahrhunderts. Sie erschöpft sich in der Auflistung von vier typischen Formabschnitten des Sonatenkopfsatzes einschließlich einer äußerst knappen verbalen Beschreibung. Welche Bedeutung die Begriffe ›Hauptgedanken‹, ›Verarbeitung‹ oder ›Material‹ im Zusammenhang eines Musikwerks haben sollen, muss als zusätzliche Information durch die Lehrkraft vermittelt werden oder bleibt der Phantasie der Zielgruppe überlassen – die Repräsentation selbst bietet hierfür keine Anhaltspunkte.
I Exposition |
II Durchführung |
III Reprise |
IV Coda |
Aufstellung der Hauptgedanken |
Verarbeitung des vorgestellten Materials |
Wiederaufnahme der Exposition (verändert) |
Schlussteil |
Abbildung 10 Formschema bei Kemmelmeyer et al.
Im Gegensatz dazu bietet das 2012 erschienene Arbeitsheft Sonate & Sinfonie. Ein altes Thema auf neuen Wegen von Ulrich Kaiser 23 mit dem Vergleich von Tonspuren eine anschauliche und nachvollziehbare Basis für das »Betrachten« von Musik im wörtlichen Sinne (Abb. 11). Die vergleichende Analyse von Sonatenkopfsätzen erfolgt hier auf der Grundlage von Dynamikverläufen.

Abbildung 11 Vergleich der Tonspuren von Sonatenkopfsätzen bei Kaiser.
Beide genannten Lehrwerke vereint das Anliegen, das Formmodell ›Sonatenkopfsatz‹ für die Unterrichtssituation in der allgemeinbildenden Schule nachvollziehbar aufzubereiten. Hierfür werden das Modell oder Ausschnitte davon jeweils stark vereinfacht und auf wenige Merkmale reduziert. Die Ergebnisse der Reduktion unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Funktionalität deutlich. Im ersten Beispiel entsteht ein Destillat von Begriffen, die ohne Hilfestellung für Schüler*innen bedeutungsleer bleiben, im zweiten Beispiel werden Zeit-Lautstärke-Diagramme dargestellt, die durch die jugendlichen Hörer*innen unmittelbar nachvollziehbar und vergleichbar sind.
In dieser kurzen Zusammenschau von Notationsweisen für didaktische Zwecke sollen die unzähligen Online-Tutorials nicht unerwähnt bleiben, die ihren Anwender*innen das rasche und widerstandsfreie Erlernen des Instrumentalspiels ohne Notenkenntnisse versprechen. Häufig wird hier mit Visualisierungen zur unmittelbaren Nachahmung oder simultanen praktischen Umsetzung gearbeitet. Sofern dabei der Verlauf musikalischer Parameter symbolisch repräsentiert wird, sind neben der primär angestrebten motorischen Umsetzung auch musiktheoretische Lerneffekte erzielbar.
Ausgehend von den dargestellten Beispielen werden die folgenden Anforderungen an eine didaktische Notation für den schulischen Musikunterricht und das inklusive Musizieren in leistungsheterogenen Gruppen an Schule, Musikschule sowie in kooperativen Projekten als deren Schnittbereich aufgestellt.
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Eine didaktische Notation soll musikalische Strukturen abbilden, deren Verständnis fördern und mithin zum Erwerb von Grundkenntnissen der Musiklehre und der musikalischen Analyse beitragen.
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Eine didaktische Notation soll der Situation in leistungsheterogenen Lerngruppen Rechnung tragen und das Instrumentalspiel mit und ohne Vorkenntnisse auf klassischen oder niederschwelligen Instrumenten wie Stabspielen ermöglichen.
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Eine didaktische Notation soll Analogien zu traditioneller Notenschrift aufweisen, um den Übergang hierzu vorzubereiten und damit Kompetenzen für das praktische Musizieren in Schule oder Freizeit zu fördern. Solche Analogien sind u.a. die Veranschaulichung des Tonhöhenverlaufs und die Darstellung der Parameter Tonhöhe und Tondauer in ein und demselben Symbol.
Diese Anforderungen erfüllt für die Unterrichtszwecke der Verfasserin 24 das im Folgenden dargestellte Notationssystem, dessen Grundlage ein Koordinatensystem mit einer Melodiestufenskala als vertikaler Achse bildet. 25 Eines solchen Systems bediente sich schon die Dasia-Notation im 9. Jahrhundert, eine Notenschrift für die didaktische Verwendung. 26
Anstelle von Handzeichen oder Silben wie in der Dasia-Notation werden für die diatonische Dur- wie für die Mollskala Ziffern verwendet, das tonale Zentrum erhält stets die Ziffer 1. Das Problem der Position von Mi- und Fa-Stufen und die sich daraus ergebenden Irritationen bei der Repräsentation der Mollskala werden zunächst ausgeklammert. Eine Stufe 3 ist immer die Terz über dem Grundton, unabhängig davon, ob sie Leittonqualität aufweist. Die Position von Leittönen kann zusätzlich etwa durch Farben kenntlich gemacht werden.
Die schrittweise Erarbeitung des Notationssystems in der Lerngruppe ist gleichzeitig der Herstellungsprozess eines Zeichensatzes. Dieser Prozess bietet vielfältige Übungsgelegenheiten zur Vertiefung musiktheoretischer Lerninhalte sowie zur Schulung des Blattsingens und des inneren Hörens. Mit dem fertiggestellten Zeichensatz, der entsprechend den Voraussetzungen der Lerngruppe mehr oder weniger komplex gestaltet wird, können Schüler*innen selbstständig Musikstücke komponieren oder nach Gehör notieren. Diese werden dann auf Instrumenten mit variabler oder feststehender Tonhöhe musiziert. Als Beispiel aus dem elementaren Musikunterricht ist hier der Gerüstsatz eines gängigen Tanzmodells aus der Renaissance abgebildet, der Romanesca (Abb. 12).

Abbildung 12 Zweistimmige Notation für elementaren Unterricht.
Zunächst werden die Bassstufen auf einem Raster horizontaler Linien notiert oder aus Karten eines Bausatzes gelegt. Das Raster der fünf Linien ist wie im traditionellen Notensystem so angeordnet, dass die Stufen abwechselnd auf einer Linie und zwischen zwei Linien platziert werden. Erst in einem zweiten Schritt werden die Stufen einer bestimmten Tonleiter zugeordnet, die als y-Achse des Diagramms erscheint.
Abhängig vom Anspruchsniveau des Unterrichts können im gleichen System ggf. mehrere Stimmen Platz finden, ergänzend dazu differenzierte Tondauern durch Unterteilung der Symbole dargestellt und eine metrische Ordnung durch vertikale Linien verdeutlicht werden. Durch Anlegen verschiedener, im Unterricht mit ihrem Material erarbeiteter Tonleitern an die y-Achse wird das Beispiel in unterschiedliche Tonarten transponiert, wodurch Schüler*innen das System der relativen Solmisation mit gleichbleibenden Melodiestufen bei veränderter absoluter Tonhöhe verstehen lernen.
Aufgrund seiner flexiblen Einsetzbarkeit ist das Notationsmodell besonders für die Arbeit mit leistungsheterogenen Gruppen geeignet. So können fortgeschrittene Mitglieder der Lerngruppe die Töne des dargestellten Gerüstsatzes auf dem eigenen Instrument improvisatorisch verarbeiten oder ihren Part nach traditionell notierten Noten spielen, während Schüler*innen mit geringeren Vorkenntnissen eine Stimme des Gerüstsatzes auf einem niederschwelligen Instrument übernehmen. Für das Musizieren mit geringen Vorkenntnissen bieten sich klingende Stäbe, 27 Bhoomwhackers oder offen gestimmte, d.h. auf leeren Saiten zu spielende Saiteninstrumente an. Möglich ist auch das Mitspielen des Gerüstsatzes zu einer geeigneten professionellen Musikaufnahme.
Im vorgestellten Koordinatensystem können auch komplexere Stücke einerseits abspielbar und andererseits analytisch aufschlussreich dargestellt werden, so z.B. die Titelmusik der französischen Filmkomödie Un profil pour deux aus dem Jahr 2017 des Komponisten Vladimir Cosma. Wie in der Filmmusik häufig anzutreffen und für Musiktheorie im pädagogischen Kontext sehr hilfreich, bedient sich Cosma gern gängiger kontrapunktisch-harmonischer Modelle, in diesem Fall der Quintfallsequenz. Nachdem die Schüler*innen erkannt haben, dass der Komposition ein Verfahren der Sequenzierung zugrunde liegt, wird das erste Sequenzglied auf dem Weg der Höranalyse erarbeitet und notiert. Weitere Sequenzglieder werden durch Fortschreibung gebildet (Abb. 13). 28 Die vereinfachte, noch durch Perkussionsstimmen zu ergänzende Komposition wird anschließend im Klassenverband musiziert. In einem weiteren, sehr anspruchsvollen Lernschritt könnte die Darstellung der Originalkomposition erfolgen und diskutiert werden, mit welchen Mitteln und aus welchen Gründen der Komponist von der Mechanik des Satzmodells abweicht.

Abbildung 13 Zweistimmige Notation für fortgeschrittenen Unterricht.
An der hier etwas gekürzten Darstellung leicht erkennbar sind die Bassstufen der Quintfallsequenz 1–4–7–3–6–2–5–1, die in Cosmas Komposition als Zirkelsequenz, beginnend mit der ersten Stufe, alle Stufen der a-Moll-Tonleiter durchschreitet und im Ganzschluss endet. 29 Ebenfalls optisch nachvollziehbar ist die sequenzielle Struktur der Melodie. Der anspruchsvolle rhythmisch-metrische Aufbau des Beispiels mit einer Abfolge von 9/8-, 4/8- und 5/8-Takten kann durch unterschiedlich gewichtete Taktstriche verdeutlicht werden, die periodische Anordnung der Taktarten wird auf diese Weise sinnfällig dargestellt. Die Schüler*innen können die Notenwerte einfach auszählen und wie abgebildet die jeweiligen Taktarten über dem System notieren. 30
Wie in der Kurzdarstellung des möglichen Unterrichtsablaufs bereits angedeutet, eröffnet die Notationsweise im Koordinatensystem viele Möglichkeiten der analytischen Auseinandersetzung. So kann durch Änderungen an Melodieverlauf, Metrum und Rhythmus sowie durch Anlegen einer anderen Skala als y-Achse ein neues Stück auf der Grundlage der Quintfallsequenz entstehen. Schüler*innen gewinnen so durch schöpferisches Handeln wesentliche Erkenntnisse über das Verhältnis zwischen einem musikalischen Modell und seinen kompositorischen Instanzierungen.
Inspiriert durch innovative Notationsformen aus Lehrwerken für unterschiedliche Zielgruppen sowie durch Erfahrungen aus dem Grenzbereich zwischen schulischer und außerschulischer Musikpädagogik verbindet das oben vorgeschlagene Notationskonzept Merkmale der traditionellen Notenschrift mit Elementen von grafischer Notation, von Buchstabennotation und relativer Solmisation.
Die Darstellung von Abläufen und Strukturen in einem Koordinatensystem erfüllt sowohl das Erfordernis der Niederschwelligkeit für die Arbeit mit leistungsheterogenen Gruppen als auch den Anspruch einer analytischen Repräsentation zur Vermittlung von Lerninhalten von Musiklehre, Musiktheorie und Gehörbildung. Sie kann helfen, das Erlernen der traditionellen Notenschrift vorzubereiten, und ist zudem ein vielfältig einsetzbarer Baukasten für Komposition und Improvisation tonaler Musik im didaktischen Kontext.
Literatur und Musikbeispiele
- Cosma, Vladimir (2017), Un profil pour deux , Soundtrack, Titelmusik, Larghetto Music.
- Dartsch, Michael (2018), »Lernformen und Lernwege«, in: Handbuch Musikpädagogik. Grundlagen – Forschung – Diskurse , hg. von Michael Dartsch, Jens Knigge, Anne Niessen, Friedrich Platz und Christine Stöger, Münster: Waxmann, 169–176. https://doi.org/10.36198/9783838550404
- Foltz-Zaun, Angelika (2007), Spitz die Ohren! Musikalische Früherziehung [1998], Kinderheft 1, Aachen: Leopold.
- Grgic, Mariana (2016), »Musikalische und künstlerische Aktivitäten im Aufwachsen junger Menschen«, in: Kulturelle Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit – oder: Der theoretische, konzeptionelle und praktische Zusammenhang von Jugendarbeit und kultureller Bildung. Nürnberger Forum der Kinder- und Jugendarbeit 2015 , hg. von Bernd Kammerer, Nürnberg: emwe.
- Jaufenthaler, Gottfried / Maria Zeisler (o.J.), Das musikalische Einmaleins mit dem Musikbaukasten. Workshop mit CD. Rhythmusbildung – Melodiebildung, Wien: Universaledition.
- Kaiser, Ulrich (2012), Sonate & Sinfonie. Ein altes Thema auf neuen Wegen , Karlsfeld: Openbooks zur Musik. https://oer-musik.de/data/openbooks/sonateUndSinfonie/releases/Kaiser_SonateUndSinfonieUnterrichtsheft_2012.pdf (13.3.2023)
- Kaiser, Ulrich (2015), Band-Impulse. Heft 4: Gehörbildung und Musiklehre. Übungen in Dur , Karlsfeld: Openbooks zur Musik. https://oer-musik.de/data/openbooks/bandimpulse-4/releases/Kaiser_GehoerbildungMusiklehre-UebungenInDur.pdf (29.9.2023)
- Kemmelmeyer Karl-Jürgen / Rudolf Nykrin / Anke Haun / Kai Martin (2017), Spielpläne 3 für den Musikunterricht an Realschulen und Gymnasien [2008], Stuttgart: Ernst Klett.
- Kulturstiftung des Bundes (o.J.), Website, Unterseite »Jedem Kind ein Instrument«, https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/erbe_und_vermittlung/detail/jedem_kind_ein_instrument.html (29.9.2023)
- Pütz, Werner / Rainer Schmitt (1997), Hauptsache Musik 9/10 für den Musikunterricht in den Klassen 9 und 10 an allgemeinbildenden Schulen, Stuttgart: Ernst Klett.
- Sauter, Markus / Klaus Weber (Hg.) (2008), Musik um uns. Sekundärbereich II , Braunschweig: Schroedel.
- Wagner, Robert (2016), Max Einfach. Musik Gemeinsam von Anfang an. Spielheft 1 und Lehrerband , Regensburg: Con Brio.