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Notation. Schnittstelle zwischen Komposition, Interpretation und Analyse

von Philippe Kocher (Hg.), © 2024 Gesellschaft für Musiktheorie, Berlin

PDF Zitiervorschlag

Jaronas Scheurer

Unspielbare Musik

Zum Cembalowerk von Iannis Xenakis

Einleitung

›Unspielbar‹ – dieses Attribut tritt meist in Verbindung mit den Adverbien ›fast‹ oder ›beinahe‹ auf. Eng verknüpft mit Virtuosentum und Brillanz sind beinahe unspielbare Werke mit unbesteigbaren Bergen vergleichbar – unbesteigbar, bis es dann doch jemand schafft. Gerade im 19. Jahrhundert, in der Blütezeit des Virtuosentums, waren solche Kompositionen gang und gäbe: die Études transcendentale von Franz Liszt oder die 24 Capricci op. 1 von Niccolò Paganini beispielsweise. Auch im 20. Jahrhundert findet sich eine Vielzahl von beinahe unspielbaren Werken: Gerade die mit der Emanzipation des Geräusches einhergehende Erweiterung der Instrumentalklänge (das präparierte Klavier von John Cage, die musique concrète instrumentale von Helmut Lachenmann oder die New Complexity) stellte die Interpret*innen vor immer neue Herausforderungen, die viele von ihnen auch bereitwillig annahmen. Doch neben den beinahe unspielbaren gibt es auch die tatsächlich unspielbaren Werke, die aus physiologischen Gründen nicht so zu bewältigen sind, wie sie notiert wurden. Eine Komposition, die in diese Kategorie fällt, ist das 1989 komponierte Duo für Cembalo und Perkussion Oophaa von Iannis Xenakis (1922–2001). Im Cembalopart finden sich Stellen, an denen die linke Hand eine Tredezime und die rechte gleichzeitig eine Undezime zu greifen hat, was für die Interpretation eine unüberwindbare Hürde darstellt. Die bis anhin aufgeführten Lösungsvorschläge weichen alle mehr oder weniger von der von Xenakis notierten Partitur ab. 1

Über die Spielbarkeit der Klavierwerke von Xenakis existiert bereits ein reger Diskurs. Kurz nach dem Erscheinen von Xenakis’ Klaviersolo Evryali (1973) entbrannte in der englischen Musikzeitschrift Tempo eine Kontroverse zwischen den Pianisten Peter Hill, Yuji Takahashi und Stephen Pruslin um mögliche interpretatorische Vereinfachungen einiger unspielbarer Stellen . 2 Die Beschäftigung mit interpretatorischen Ansätzen im Klavierwerk Xenakis’ hält bis ins 21. Jahrhundert an. 3 Dabei dominieren zwei auf den ersten Blick gegenläufige Ansätze, wie Pavlos Antoniadis bemerkte: » Extreme physical effort , as integral part of a › philosophy of surpassing‹ on the one hand, or a mind-centered, disembodied approach , which prioritizes an objective understanding of the Xenakian sonic image on the other, seem to predominate.« 4 Ausgehend von Antoniadis, der diese zwei Pole nur als sich scheinbar widersprechend ansieht, hat der vorliegende Artikel zum Ziel, aus einer analytischen, also ›geisteszentrierten‹ Perspektive Xenakis’ kompositorische Arbeit performance -zentriert zu untersuchen. Gegenstand dieser Untersuchung sind zwei Cembalowerke Xenakis’: Khoaï von 1976 und Oophaa von 1989. Die beiden Werke schrieb Xenakis für die Cembalistin Elisabeth Chojnacka und sie bilden den Rahmen von Xenakis’ Beschäftigung mit diesem für die Neue Musik ungewöhnlichen Instrument. Khoaï war Xenakis’ erste Komposition für Cembalo und Oophaa seine letzte. Dazwischen komponierte Xenakis ein weiteres Duo für Perkussion und Cembalo ( Komboï von 1981), ein weiteres Cembalosolo ( Naama von 1984) und ein Werk für Cembalo und zwölf Instrumentalist*innen ( À l’île de Gorée von 1986). Alle fünf Werke wurden von Chojnacka uraufgeführt.

Während das Klavierwerk Xenakis’, wie schon erwähnt, sehr ausführlich besprochen und untersucht wurde und wird, findet sein Cembalowerk wenig Beachtung. Neben zwei Texten von Chojnacka selbst (1981 und 2010) und einem von Makis Solomos zur Xenakis-Interpretin Chojnacka (2001) existieren Beiträge von Ian Pace (2001) und Andreas Skouras (2011) zum Cembalowerk von Xenakis.

Die Beschäftigung mit Xenakis’ Kompositionen für Cembalo stellt sich als durchaus lohnenswert heraus: Denn zum einen kann gerade anhand der zwei ausgewählten Cembalowerke der Aspekt der Spielbarkeit bzw. Unspielbarkeit genauer beleuchtet werden. Bei dem hochvirtuosen, aber gerade noch spielbaren Khoaï lässt sich gut nachvollziehen, wie Xenakis sich der für ihn neuen Klangwelt des Cembalos annäherte. Zum anderen kann aufgezeigt werden, inwiefern der Miteinbezug von spieltechnischen und performativen Aspekten bei der Analyse von Khoaï fruchtbar ist. Wie schon Benoît Gibson aufzeigte, verwertete Xenakis dafür einige Stellen aus seinen kurz davor entstandenen Klavierwerken, namentlich Erikhthon (1974) und Evryali (1973) , und übertrug sie auf das Cembalo. 5 Obwohl Elisabeth Chojnacka behauptete, dass »das Komponieren für das Cembalo nichts mit dem Komponieren für das Klavier zu tun hat«, 6 bestehen doch gerade auf der mechanischen Ebene viele Ähnlichkeiten. Das Cembalo besitzt jedoch eine andere Klanglichkeit (kurzes Ausklingen des Tones, härterer Anschlag durch das Zupfen, keine differenzierte Dynamik durch Anschlagsstärke, Möglichkeit des Registerwechsels) und muss auch anders gespielt werden (andere Anschlagsmechanik, zwei Manuale). Wie im vorliegenden Beitrag aufgezeigt wird, nutzte Xenakis sowohl die Unterschiede als auch die Ähnlichkeiten zwischen Klavier und Cembalo aktiv aus. Anhand der von Xenakis vorgenommenen Änderungen bei der Übertragung der fraglichen Stellen von Erikhthon und Evryali kann nachvollzogen werden, wie Xenakis seine Musik auf das Cembalo zuschnitt. Wie sind die klanglichen und vor allem performativen Unterschiede zwischen Klavier und Cembalo in die Komposition eingeflossen? Anhand dieser Frage kann nachvollzogen werden, wie sich Xenakis kompositorisch das ihm neue Instrument zu eigen machte.

Während Xenakis in Khoaï den Aspekt der Spielbarkeit berücksichtigte, schien dieser Aspekt bei Oophaa weniger im Fokus zu stehen . Obwohl Xenakis 1989 sowohl das Instrument als auch die Interpretin gut kannte, komponierte er Oophaa so, dass einige Stellen als unspielbar bezeichnet werden müssen. Bei Oophaa stehen vielmehr die Architektur und die strenge formale Konstruktion im Vordergrund. Das Werk wirkt viel kühler, strenger und spröder als das impulsive und spektakulär virtuose Khoaï. Trotzdem stellt Oophaa die Interpret*in vor größere Schwierigkeiten, vor allem aufgrund der den menschenmöglichen Ambitus übersteigende Akkorde. In einer kurzen Analyse des Werks wird aufgezeigt, inwiefern für Xenakis – anders als bei Khoaï – die performative Machbarkeit bei der Komposition von Oophaa nur teilweise eine Rolle spielte. Ausgehend von der Analyse von Oophaa wird anschließend sowohl die Interpretation Elisabeth Chojnackas als auch die kürzlich aufgeführte Version des Basler Pianisten Jürg Henneberger hinsichtlich ihrer Lösungsvorschläge der unspielbaren Stellen untersucht.

Khoaï

Khoaï wurde 1975 auf Initiative der Cembalistin Elisabeth Chojnacka bei Xenakis von Wolfgang Becker in Auftrag gegeben. Chojnacka war fasziniert von Xenakis’ Stück Synaphaï (1969) für Klavier und Orchester und wünschte sich daraufhin ein Werk für Cembalo von ihm. 7 Xenakis zögerte zunächst, da er mit dem Cembalo nicht vertraut war, sagte dann aber zu, nachdem er Chojnacka spielen gehört hatte. 8 Der Komponist und die Cembalistin trafen sich. Xenakis vermaß sowohl Chojnackas Instrument (ein zweimanualiges Rasteninstrument aus dem Hause Neupert), 9 als auch ihre Hände, um die technischen und physiologischen Möglichkeiten für ein solches Cembalostück kennen zu lernen. 10 Daraufhin bastelte er sich zwei Manuale aus Karton, um beim Komponieren austesten zu können, was technisch machbar ist. 11 Das Resultat dieser Untersuchungen war das Cembalosolo Khoaï . Obwohl das Stück tatsächlich spielbar ist, erlitt Chojnacka bei der Vorbereitung nach eigener Aussage einen Nervenzusammenbruch, 12 weil ihr vom Erhalt der Partitur bis zur Uraufführung nur ein Monat Zeit blieb. 17 Jahre danach gab sie in einem Interview zu Protokoll, dass sie zehn Jahre gebraucht habe, um schließlich alle technischen Schwierigkeiten in Khoaï zu meistern. 13

Die interpretatorischen Schwierigkeiten von Khoaï sind damit verbunden, dass Xenakis die ganze klangliche Vielfalt und die ganzen spieltechnischen Möglichkeiten des Cembalos auszuschöpfen und zu erweitern suchte. Das führte zu komplexen und schnellen Wechseln zwischen den Manualen (z.B. T. 97–100), zu gleichzeitigem Spiel mit einer Hand auf beiden Manualen (z.B. T. 82–84) oder zu vierfach oktavierten Klängen (z.B. T. 1–29), um den im Verhältnis zum Klavier geringen dynamischen Ambitus wettzumachen, zu schnell wiederholten Tönen (z.B. T. 38–39), wohl um das schnelle Abklingen des Cembaloklangs auszugleichen, und äußerst raschen Registerwechseln (z.B. T. 45–46 oder T. 75–81). Weitere spieltechnische Hürden entstammen Xenakis 14 ’ damaliger Beschäftigung mit der mathematischen Graphentheorie, vor allem seine kompositorischen Umsetzungen sogenannter Out-Trees. Das sind sich immer weiter verzweigende Baumdiagramme, die Xenakis als eine aus der Einstimmigkeit immer vielstimmiger werdende Polyphonie umsetzte. Der erste Out-Tree in 15 Khoaï tritt in den Takten 36–38 auf (Abb. 1). Beginnend bei einem notierten 16 f 3 auf den Auftakt auf Takt 37 verzweigt sich die Stimmführung bei fast jedem Ton und schon in der Mitte von Takt 37 werden sechs Stimmen auf je einem Notensystem unabhängig voneinander geführt. Dies wird noch durch unterschiedliche Rhythmen und den oben schon erwähnten Tonwiederholungen verkompliziert. Diese zwei Takte übernahm Xenakis relativ notengetreu, jedoch um zwei Oktaven und eine kleine Terz hoch transponiert, aus den Takten 204–206 der Klavierstimme von 17 Erikhthon (Abb. 2). 18

Abbildung 1 Die Takte 36–38 von Khoaï.

Abbildung 2 Die Takte 204–206 der Klavierstimme von Erikhthon.

Diese Parallelstelle von Khoaï und Erikhthon ist interessant. Denn anhand der Übertragung vom Klavier auf das Cembalo öffnet sich ein Blick auf die Art und Weise, wie Xenakis seine Klangsprache für das für ihn neue Instrument adaptierte. Im Programmhinweis der Uraufführung schrieb Xenakis, dass die Klänge des Cembalos, anders als die des Klaviers oder der Orgel, kurzlebiger und prägnanter seien. Bei der Übertragung des Out-Trees von 19 Erikhthon nach Khoaï äußert sich dies z.B. in den Tonwiederholungen der Einzeltöne. Alle Noten, die gleich lang oder länger als ein Sechzehntel sind, werden mehrmals angeschlagen. Xenakis nahm auch einige Änderungen in der Ton- bzw. Baumdiagrammstruktur vor. Dabei ließ er die Akkorde, die meistens auf die Zählzeiten oder die Achtel dazwischen fallen, unverändert. Die Stelle in Khoaï beinhaltet jedoch mehr kleine Sekundschritte und mehr Verzweigungen, der Out-Tree ist also insgesamt komplexer verästelt. Dies führt zu mehr Stimmen und kleinteiligeren Rhythmen. Insgesamt resultieren die Änderungen, die Xenakis bei der Übertragung vornahm, in einer höheren Komplexität, vor allem was die spieltechnischen Anforderungen anbelangt. Dies kann einerseits aus der Übertragung vom Klavier zum Cembalo erklärt werden (Tonwiederholungen, kleingliedriger Rhythmus), andererseits aus einer Verfeinerung der kompositorischen Umsetzung von mathematischen Baumdiagramm-Modellen (mehr Verzweigungen, komplexere Rhythmusschichtung).

Ähnlich sieht es bei den Takten 82–87 von Khoaï aus, die Xenakis aus den Takten 361–366 der Klavierstimme von Erikhthon übernahm. Auch dieses Mal handelt sich um einen auskomponierten Out-Tree, wie bei den meisten aus Erikhthon übernommenen Stellen. Hier transponierte Xenakis die Tonhöhen eine Oktave herunter, die Tonnamen bleiben also gleich. Wieder trifft man auf Tonwiederholungen, die teilweise durch zusätzliche Polyrhythmik noch verkompliziert werden, und gewisse chromatische Durchgänge, die bei der Stelle in Erikhthon nicht zu finden sind. Was die besagte Khoaï -Stelle zusätzlich interessant macht, sind die von Xenakis komponierten Registerwechsel. In Erikhthon sind die Takte 361–366 für das Klavier im vierfachen Forte gesetzt. Es läge der Schluss nahe, dass für die Parallelstelle in Khoaï alle vier Register geschaltet werden müssen. Die Stelle beginnt jedoch im 4-Fuß-Register (angegeben durch die römische I, siehe Abb. 3), auf den letzten Schlag des Takts setzt dann die unterste Stimme im 16-Fuß-Register ein (Spielanweisung: IV). In 20 Erikhthon ist dieser Einsatz zwei Oktaven tiefer gesetzt als die restlichen Stimmen. Durch die unterschiedliche Registrierung fällt diese Oktavierung bei Khoaï weg, die Stimme setzt in derselben Lage ein. Im nächsten Takt wird dann auch der Grund für diese Registrierung klar. In Erikhthon werden auf den dritten Schlag des nächsten Taktes (T. 362) gleichzeitig ein ais 3, ais 2, ais 1 und ein f gegriffen (Abb. 4). Dank der Registrierung können in Khoaï die oberen beiden ais mit der rechten Hand und das untere ais 1 und das f 1 mit der linken Hand über die zwei Manuale hinweg gegriffen werden. 21 Ähnlich sieht es im nächsten Takt aus ( Khoaï: T. 84, Erikhthon: T. 363). In Erikhthon sind die zwei unteren Systeme der an dieser Stelle vierstimmigen Klavierstimme in zwei unterschiedlichen Lagen gesetzt: die unterste Stimme im Bassschlüssel zwischen dem a und dem C , die zweitunterste im Violinschlüssel zwischen dem fis 2 und dem fis 1. In Khoaï sind diese zwei Stimmen in Takt 84, bis auf eine kleine Ausnahme, beide im Bassschlüssel gesetzt. Dadurch fallen die großen Sprünge weg, welche die linke Hand an dieser Stelle vollführen muss, dafür muss das Manual gewechselt werden.

Abbildung 3 Die Takte 82–85 von Khoaï.

Abbildung 4 Die Takte 361–364 der Klavierstimme von Erikhthon.

Xenakis nutzte also die Registrierungsmöglichkeiten des Cembalos aus, um gewisse spieltechnische Erleichterungen zu erzielen. Eine weitere Folge dieser Registrierungsnuancen ist klanglicher Natur, da sich die Klangfarben der Register unterscheiden. Dies wird bei der im Folgenden untersuchten Übertragungsstelle noch deutlicher.

Xenakis verwertete nicht nur Abschnitte aus Erikhthon für Khoaï wieder, sondern auch eine Stelle aus dem Klaviersolo Evryali . Es handelt sich dabei um die Takte 205–214 von Khoaï , die Xenakis aus den Takten 179–188 von Evryali übernahm. Die gewichtigste Änderung ist bei dieser Übertragung die Krebsform. Während in Evryali die Bewegung von einem Pianissimo in hoher Lage ohne Pedal (Abb. 5) zu einem vierfachen Forte in der Basslage verläuft, beginnt die Stelle in Khoaï in der tiefen Basslage, verstärkt durch das 16-Fuß-Register (die notierten Töne erklingen also eine Oktave tiefer), und endet mit der Zuschaltung aller vier Register und der Spielanweisung laissez vibrer (Abb. 6). Die Dynamik aus Evryali wurde also nicht übernommen, sondern die Parallelstelle aus Khoaï wurde auf ein möglichst langes und präsentes Ausklingen angelegt. Insgesamt fallen in den Takten 205–214 von Khoaï die vielen Registerwechsel auf. Die Registrierungen sind jedoch nicht alleine aus spieltechnischen Gründen zu erklären, sondern vermutlich spielten auch klangliche Überlegungen eine Rolle. Die Stelle besteht aus einem durchgehenden Sechzehntel-Rhythmus (Einzeltöne bis siebenstimmige Akkorde). In den Takten 207–210 spielt die linke Hand das untere 8-Fuß-Register (III = 8 inf. ) und die rechte das obere (II = 8 sup. ) (Abb. 7). Xenakis versuchte also aktiv, die blockartigen, massiven Akkorde klanglich transparenter zu gestalten. Die wegfallenden klanglichen Differenzierungsmöglichkeiten des Klaviers (an dieser Stelle: Crescendo , Haltepedal, halbes Pedal und größerer Ambitus als das Cembalo) wurde durch den offensiven Einsatz der Registrierungsmöglichkeiten ausgeglichen.

Abbildung 5 Die Takte 179–180 von Evryali.

Abbildung 6 Die Takte 213–214 von Khoaï.

Abbildung 7 Die Takte 207–210 von Khoaï.

Was heißt das nun für die Analyse von Khoaï? Einerseits lassen sich aus diesen Erkenntnissen die gehäufte Verwendung von Tonwiederholungen und einige Registrierungen erklären, die nicht nur in den untersuchten Übertragungsstellen vorkommen. Die Beachtung von Xenakis’ spieltechnischen Überlegungen und Anpassungen an die Klanglichkeit des Cembalos unterstützt das analytische Verständnis des Werks. Andererseits ermöglicht die Analyse der Parallelstellen in den zwei Klavierwerken und Khoaï einen Einblick in die Art und Weise, wie Xenakis sich das Cembalo zu eigen machte. Denn, obwohl gemäß Chojnacka für das Cembalo anders komponiert werden müsste als für das Klavier, ging Xenakis doch von dem ihm schon bekannten Klavier aus und passte seine Klangsprache den neuen spieltechnischen Möglichkeiten und dem neuen Instrumentalklang an. Dabei scheute er sich auch nicht, bereits Komponiertes zu recyceln, wie es bei ihm auch bei anderen Kompositionen häufig der Fall war. 22 23

Oophaa

Bei seinem letzten Werk für Cembalo, Oophaa von 1989, konnte Xenakis auf eine ganze Reihe von Werken für Cembalo und auf seine Erfahrungen sowohl mit dem Instrument als auch mit der Interpretin zurückgreifen. 1981 wurde Komboï, ein Duo für Cembalo und Perkussion, uraufgeführt. Neben der Besetzung hatte Xenakis hier schon einiges angelegt, was er dann in Oophaa wieder aufnahm: Namentlich gewisse ostinatoartige Permutationen eines aus wenigen Akkorden bestehenden Sets, 24 die sich nicht wiederholende Skala als Grundlage und die Einführung von Terrakotta-Blumentöpfen in das Perkussionsinstrumentarium. 25 Drei Jahre später folgte ein weiteres Cembalo-Solo: Naama. Dieses Werk ist nicht so virtuos wie Khoaï , jedoch auch äußerst anspruchsvoll und sehr idiomatisch für das Cembalo gesetzt. 26 Danach folgte das Stück À l’île Gorée für Cembalo und zwölf Instrumente (1986) und drei Jahre später dann Oophaa . Alle Werke für Cembalo komponierte Xenakis explizit für Elisabeth Chojnacka und sie wurden auch von ihr zur Uraufführung gebracht.

In Oophaa verwendete Xenakis keine Stellen aus seinen vorherigen Cembalowerken, wandte jedoch bestimmte Techniken und Satzweisen erneut an. Das Werk ist sicherlich das reduzierteste und architektonisch strengste seiner Cembalowerke. Wie schon in Komboï stammt auch hier beinahe der ganze Tonvorrat des Cembalos aus einer sich nicht wiederholenden Skala, die Xenakis mittels eines von großen Sekunden dominierten Tonsiebes 27 konstruierte. 28 Nur im Mittelteil kommen einige skalenfremde Töne vor. 29 Xenakis beschränkte sich in Oophaa bis auf wenige Ausnahmen auf fünf Sets, bestehend aus sieben bis acht drei- und vierstimmigen Akkorde. Im letzten Abschnitt ab Takt 76 bricht Xenakis aus diesem Schema aus und lässt in einem über vier Takte gehenden Abstieg aus sechsstimmigen Akkorden nochmals alle Töne des dem Stück zugrundeliegenden Tonsiebs erklingen. Das Stück kann in drei größere Abschnitte unterteilt werden. Die Cembalostimme des ersten Teils (T. 1–50) basiert auf vier Sets aus sieben oder acht dreistimmigen Akkorden, die in drei unterschiedlichen Lagen angesiedelt sind. Die vier Akkordsets werden bis Takt 23 sukzessiv eingeführt. Von Takt 21 bis 42 spielt das Cembalo ein größeres Solo, das immer wieder von kurzen Einwürfen der Perkussion unterbrochen wird und in dem Xenakis drei Akkordsets in einem dreistimmigen Kontrapunkt zueinander setzt. Symptomatisch dafür soll der Takt 27 analysiert werden (Abb. 8). In der obersten Stimme erklingen sieben verschiedene Akkorde, in der mittleren fünf verschiedene und in der untersten vier. Die Akkordfolgen lassen kein klares Muster erkennen. Es fällt jedoch vor allem in der obersten Stimme auf, dass bestimmte Akkorde eher aufeinander folgen als andere, was auf eine Art kombinatorische Permutation als Kompositionsmethode schließen lässt. So dominieren die mit A, B, C und D überschriebene Akkorde die erste Hälfte des Taktes und die Akkorde A, E, F und G die zweite Hälfte. Diese Kompositionsmethode zieht sich durch das ganze Stück. Obwohl schon die erste Takthälfte beinahe nicht zu greifen ist, fallen betreffend Unspielbarkeit vor allem die letzten beiden Schläge auf. So muss auf das zweite Sechzehntel des dritten Schlages in der rechten Hand eine Duodezime gegriffen werden und in der linken Hand ebenso (Abb. 8, umrahmt). Auf den vierten Schlag muss die linke Hand von der tiefen Lage in die mittlere wechseln und dort wieder eine Duodezime greifen, während in der rechten Hand wieder eine Duodezime gegriffen werden muss (Abb. 8, umrahmt).

Abbildung 8 Der Takt 27 von Oophhaa.

Die interpretatorischen Schwierigkeiten treten in diesen Takten prominent auf. Der Ambitus der Akkorde der vier Sets des ersten Teils liegen zwischen einer großen Septime und einer kleinen Tredezime. Solange nur ein Set erklingt, können alle Akkorde mit beiden Händen gegriffen werden. Treten jedoch zwei oder – wie in den Takten 21–42 – sogar drei Sets gleichzeitig auf, ist dies nicht mehr möglich. Xenakis konstruierte die Akkorde teilweise ungreifbar. Trotzdem achtete er an besagter Stelle darauf, dass, obwohl es sich um einen dreistimmigen Kontrapunkt handelt, immer nur zwei und nicht drei Akkorde gleichzeitig gespielt werden müssen. Es scheint also, dass sich Xenakis beim Entwerfen des musikalischen Materials für Oophaa nicht um Spielbarkeit kümmerte, beim tatsächlichen Ausarbeiten der Partitur dann trotzdem noch teilweise darauf Rücksicht nahm. Anders als bei Khoaï setzte Xenakis bei Oophaa die Registrierung nicht ein, um gewisse spieltechnische Probleme zu lösen, sondern nur zur klanglichen Differenzierung und um im letzten Teil (T. 76–81) den Ambitus des Cembalos zu erweitern.

Zu Beginn des zweiten Teils von Oophaa (T. 51–75) wird nur ein Akkordset aus dem ersten Teil übernommen. Hinzu kommt jedoch ein neues Set aus sieben vierstimmigen und einem dreistimmigen Akkord. Dieses neue Set ist in der mittleren und in der tiefen Lage angesiedelt. Zudem kommen drei neue dreistimmige Akkorde hinzu. Das Tonmaterial des Endes dieses Teils (T. 66–75) besteht aus sechs Akkorde, die teilweise aus den bisher erklungenen Akkordsets stammen, teilweise jedoch auch neu sind. Der schon erwähnte Schlussteil (T. 76–79) besteht aus einer langen absteigenden Figur aus sechsstimmigen Akkorden, wobei nochmals alle Töne der sich nicht wiederholenden Skala erklingen. Hier setzt Xenakis die Registrierung das einzige Mal nicht zur klanglichen Differenzierung, sondern zur Erweiterung des Ambitus ein. Das Stück endet mit zwei sich abwechselnden sechsstimmigen Akkorden in der tiefen Lage und im 16-Fuß-Register (T. 80–81).

Die aus der Übertragung vom Klavier auf das Cembalo entstandenen, spieltechnischen Effekte aus Khoaï sind bei Oophaa nicht zu finden. Während Xenakis bei Khoaï noch sehr nahe an der Art und Weise für Klavier zu schreiben blieb und bewusst gewisse Defizite und Vorteile des Cembalos zu nutzen versuchte, löste er sich bei Oophaa gänzlich vom Klavier als Vergleichsfolie; eine Tendenz, die auch im Überblick über das ganze Cembalowerk von Xenakis deutlich wird.

Interpretatorische Lösungen

Wie schon oben ausgeführt, befasste sich Xenakis für Khoaï ausführlich mit den Möglichkeiten des Cembalos. Als er Oophaa komponierte, war er sowohl mit dem Instrument als auch mit dem Spiel der Interpretin Elisabeth Chojnacka bestens vertraut. Trotzdem konstruierte Xenakis das musikalische Material (die Akkordsets), mit dem er komponierte, so, dass daraus gravierende spieltechnische Probleme erwuchsen. Diese Unspielbarkeit fiel auch Chojnacka auf:

When I received the score [of Oophaa ], I realized, much to my terror, that some of the chords were unplayable. I would have needed a hand capable of playing fifteen notes simultaneously! I discussed this with Iannis. Of course, he was not at all pleased with my remarks. He told me »In that case, don’t play the piece!«. Since it was inconceivable for me to abandon a work by him – especially since it was already programmed in Strasbourg and at the Warsaw Autumn Festival – I proposed to invert some of the chords, the way one does in harmony. He accepted this solution. This is how we were able to »save« the piece, which has now been played all over the world. 30

Chojnackas Lösung für die unspielbaren Stellen war, die Akkorde zu invertieren. Wenn jeweils ein Ton der Akkorde oktaviert und so der Ambitus verkleinert wird, sind alle Akkorde gut mit einer Hand zu greifen. Aus kompositorischer Sicht ist diese Lösung nicht unproblematisch. Wie schon erwähnt, basieren die Akkorde von Oophaa auf einer sich nicht wiederholenden Skala, die Xenakis mittels eines Tonsiebes entwarf. Oktaviert man gewisse Töne eines Akkordes nach oben oder nach unten, so verstößt man in einer gewissen Weise gegen die kompositorischen Rahmenbedingungen, die sich Xenakis auferlegt und auf deren Grundlagen er Oophaa komponiert hat.

Es sind weitere Möglichkeiten denkbar, das Stück zu »retten«, wie Chojnacka schreibt: Man könnte es vierhändig auf einem oder zwei Cembali spielen oder eine Stimme ab Band abspielen. Eine weitere Möglichkeit erarbeitete der Basler Pianist Jürg Henneberger: Im Februar 2020 führte er Oophaa zusammen mit dem Perkussionisten João Carlos Pacheco an zwei Cembali in Skordatur auf. 31 Da das Klangmaterial aus einer begrenzten Anzahl von Akkorden besteht, funktionierte das. Henneberger erarbeitete nach jahrelanger Beschäftigung mit Oophaa eine komplexe Neubearbeitung für zwei Cembali in Skordatur, die beide von einer Person gespielt werden. Sein analytisches Verständnis für die Struktur des Werkes hielt ihn von einer ›einfachen Lösung‹ ab, denn die Oktavierung gewisser Töne wäre entgegen der kompositorischen Anlage.

Henneberger spielte bei der Aufführung seiner Version jedoch nicht vom ›originalen‹ Notenmaterial, sondern schrieb sich den Cembalopart so zurecht, dass nicht die erklingenden Tonhöhen notiert sind, sondern die zu spielenden Tasten. Er verfasste für seine Interpretation von Oophaa eigentlich keine musikalische Partitur, sondern eine Handlungspartitur. Die Noten stehen in seiner Partitur nicht für den Ton, der erklingen muss, sondern für die Cembalotaste, die gedrückt werden muss. 32

Oophaa ist heute also kein unspielbares Werk mehr, wie Chojnacka es 2010 bezeichnete. Doch die Lösung von Henneberger setzt voraus, dass die von Xenakis vorgelegte Partitur umgearbeitet wird. Damit kommen Fragen nach dem emphatischen ›Werk‹ Oophaa und nach der ›werktreuen Interpretation‹ in den Blick. Interpretierte Henneberger Oophaa nun werkgetreuer als Chojnacka, weil bei ihm die tatsächlich notierten Töne erklingen? Oder ist das Scheitern einer Interpretation in Kauf zu nehmen, die die Anweisung, das Werk auf einem Cembalo zu spielen, ernster nimmt als das Beachten der kompositorischen Struktur?

Fazit

Die Analyse der beiden Cembalowerke Khoaï und Oophaa von Iannis Xenakis förderte mehrere Erkenntnisse zutage: Der Vergleich der Parallelstellen im Cembalosolo Khoaï und in den beiden Klavierwerken Erikhthon und Evryali ermöglichte einen Einblick in die Art und Weise, wie Xenakis sich das für ihn neue Instrument Cembalo aneignete. Er adaptierte dafür seine Musiksprache nicht nur auf die neue klangliche Situation, sondern auch auf die neuen performativen Rahmenbedingungen. Daneben ermöglichte ihm diese Adaption, gewisse kompositorischen Techniken, namentlich das Auskomponieren von Out-Trees, zu verfeinern und den spieltechnischen Möglichkeiten anzupassen. Der Vergleich der beiden Werke Khoaï und Oophaa zeigte des Weiteren auf, dass Xenakis sich nicht immer gleichermaßen um Spielbarkeit gekümmert hatte. Während er in Khoaï genau darauf achtete, was physiologisch möglich ist – beispielsweise durch Registrierungsangaben, die gewisse spieltechnischen Hindernisse überwindbar machen –, schien sich Xenakis beim Entwerfen von Oophaa nicht um spieltechnische Machbarkeit gekümmert zu haben. Dies führte zu den dem Stück zugrundeliegenden Akkorden, die einhändig nicht zu greifen sind. In die kompositorische Ausarbeitung von Oophaa flossen dann jedoch spieltechnische Überlegungen wieder mit hinein, wie der dreistimmige Kontrapunkt, bei dem jeweils nur zwei Akkorde gleichzeitig angeschlagen werden müssen, zeigt (T. 23–42). Während einige Werke (z.B. Khoaï) performativ äußerst fordernd, aber trotzdem machbar und daher ›beinahe‹ unspielbar sind und die von Antoniadis als »philosophy of surpassing« 33 und von Howard als spirituelle Ekstase 34 bezeichnete Erweiterung des spieltechnisch Möglichen verkörpern, sind andere Werke nach strengen Rahmenbedingungen konstruiert und »priorisieren ein objektives Verständnis des Xenakischen Klangbildes«, 35 was im Falle von Oophaa zu einer tatsächlichen Unspielbarkeit führte. Pavlos Antoniadis Beobachtung, dass im gegenwärtigen Diskurs um Spielbarkeit bei Xenakis entweder die Physikalität der Musik oder ein geisteszentriertes, objektives Strukturverständnis im Mittelpunkt stünde, trifft also nicht nur auf die Sekundärliteratur zu Xenakis, sondern auch auf Xenakis 36 ’ Werk selbst zu.

Das Einbeziehen von spieltechnischen Aspekten in die Analyse stellt sich gerade bei Xenakis als äußerst lohnenswert heraus. Denn nicht nur die analytische Beschäftigung mit Xenakis’ Musik kann von diesen performativen Fragestellungen profitieren, wie am Beispiel von Khoaï gezeigt werden konnte, sondern auch die Aufführungspraxis kann von der analytischen Durchleuchtung der Werkstruktur nur gewinnen, wie es sich beispielsweise bei Henneberger zeigte, der so zu einer neuen und originellen Lösung der interpretatorischen Probleme von Oophaa fand.

Literatur

  • Antoniadis, Pavlos (2011), »Physicality as a Performer-Specific Perspectival Point to I. Xenakis’s Piano Work: Case Study Mists «, in: Proceedings of the Xenakis International Symposium, 1–18. https://www.researchgate.net/publication/262493941_Physicality_as_a_performer-specific_perspectival_point_to_I_Xenakis%27s_piano_work_Case_study_Mists (10.3.2023).
  • Chojnacka, Elisabeth (1981), »Sur Khoaï«, in: Regards sur Iannis Xenakis, hg. von Maurice Fleuret, Paris: Edition Stock, 227–235.
  • Chojnacka, Elisabeth (2010): »The Harpsichord According to Xenakis«, in: Performing Xenakis, hg. von Sharon Kanach, Hillsdale: Pentagon Press, 71–90.
  • Couroux, Marc (2002), »Evryali and the Exploding of the Interface. From Virtuosity to Anti-virtuosity and Beyond«, Contemporary Music Review 21/2–3, 53–67. https://doi.org/10.1080/07494460216664
  • Gibson, Benoît (2011), The Instrumental Music of Iannis Xenakis. Theory, Practice, Self-Borrowing, Hillsdale: Pentagon Press.
  • Harley, James (2004), Xenakis. His Life in Music, New York: Routledge. https://doi.org/10.4324/9780203342794
  • Howard, Philip (2004), »›Evryali‹: Beyond the Surface (What I learned from ›Evryali‹ by Performing it)«, Perspectives of New Music 42/2, 144–157.
  • Kanach, Sharon (Hg.) (2010), Performing Xenakis, Hillsdale: Pentagon Press.
  • Lesle, Lutz (1993), »Das Cembalo ist ein sperriger Freund: Elisabeth Chojnacka im Gespräch mit Lutz Lesle«, NZfM 154/2, 47–50.
  • Pace, Ian (2001), »The Harpsichord Works of Iannis Xenakis«, Contemporary Music Review 20/1, 125–140. https://doi.org/10.1080/07494460100640121
  • Skouras, Andreas (2011), »The harpsichord works of Iannis Xenakis. Ultimate challenge in a neglected repertoire«, in: Proceedings of the Xenakis International Symposium, 1–4. https://nanopdf.com/download/andreas-skouras-goldsmiths-university-of-london_pdf (10.3.2023).
  • Thomopoulos, Stéphanos (2011), »Evryali and the arborescences: Graphic representation as a tool for pianists in the work of Iannis Xenakis«, in: Proceedings of the Xenakis International Symposium, 1–8. https://zenodo.org/record/6347320 (10.3.2023).
  • Varga, Bálint András (1996), Conversations with Iannis Xenakis, London: Faber and Faber.