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Stimmkunst im 21. Jahrhundert

von Martina Sichardt, Gesine Schröder, Constanze Rora,

Die eigene Stimme finden

Essay über einen ästhetisch-pädagogischen Gemeinplatz

Thomas Dworschak

Einleitung

„Die eigene Stimme finden“ ist eine beliebte Zielformulierung, wenn es darum geht, die Stimme im wörtlichen Sinn auszubilden. Das ist im Gesangsunterricht und im Studium der Fall ebenso wie in der Schauspielausbildung und anderen Berufen, in denen die Stimme im Mittelpunkt steht. Diese Phrase hat aber auch eine weitere Bedeutung, wenn „Stimme“ als Metapher für andere Formen der Mitteilung und Äußerung steht – für die geschriebene Sprache und vielleicht sogar für das Auftreten und den Stil überhaupt. Dabei unterstellt diese Phrase, dass es für eine Person selbst wünschenswert, aber auch für ihre Mitmenschen angenehm und wertvoll ist, wenn sie ihre eigene Stimme hat – und sie unterstellt damit zugleich, dass viele Menschen erst einmal keine eigene Stimme haben und sich eine solche erst noch erarbeiten müssen.

Für den Weg zur eigenen Stimme findet man leicht eine Menge Ratschläge, beispielsweise auf unzähligen Webseiten, die Praxistipps geben und Coachings anbieten. Diese Ratschläge betreffen zumeist zwei Felder. Das eine ist das Feld von Techniken: Auf dem Weg zur eigenen Stimme geht es darum, die Atmung zu beherrschen, den eigenen Tonumfang zu erforschen und auszubauen, an der Aussprache der Vokale und Konsonanten zu arbeiten und manches mehr. Das Versprechen lautet, dass Techniken von dieser Art die eigene Stimme wirkungsvoller, leistungsfähiger, gewinnender – und schließlich: erfolgreicher machen. Zugleich geben viele Ratgeber zu, dass die Suche nach der eigenen Stimme sich nicht in Techniken erschöpft, und sprechen ein zweites Feld an. Die geübte Stimme darf die individuelle Persönlichkeit nicht überspielen oder verbergen, sondern soll mit ihr im Einklang stehen und sie authentisch ausdrücken. Dann ist sie wirklich die eigene Stimme.

Wie andere Phrasen, die häufig gebraucht werden und deren Sinn man annäherungsweise versteht, lässt auch die Phrase von der „eigenen Stimme“ uns ratlos werden, wenn wir genauer nach ihrer Bedeutung fragen. Diese Ratlosigkeit lässt sich verdeutlichen, indem man die Frage nach dem Gegenteil der Phrase stellt: Was bedeutet es, wenn jemand seine eigene Stimme nicht findet? Oder: Was bedeutet es, wenn jemand seine eigene Stimme gar nicht sucht – weil er oder sie sie vielleicht gar nicht vermisst hat? Und welche Stimme hat denn ein Mensch in diesem Fall? Diese Fragen liegen bereits hinter der oben angedeuteten Annahme auf der Lauer, dass die eigene Stimme ein Ziel sei. Wenn es so ist, müssten wir doch feststellen können, ob jemand dieses Ziel erreicht hat – ob also ein Mensch mit der eigenen Stimme spricht und singt oder ob dies nicht der Fall ist. Man nimmt also an, dass man einen Unterschied zwischen der Authentizität und ihrem Gegenteil (wie dieses auch immer genau zu bestimmen sei) feststellen könne. Aber dann sieht man sich zu der weiteren Annahme genötigt, dass es irgendein Merkmal, irgendeinen Maßstab für diesen Unterschied gibt. Was für ein Maßstab kann das sein? Überlegen wir zunächst, welche Maßstäbe überhaupt an die Stimme und ihre Äußerungen angelegt werden.

Allgemeine Maßstäbe und das Problem des Maßstabs für das Eigene

Die Stimme ist Organ des Sprechens und des Singens in all ihren Registern; sie ist Organ der Kommunikation und Artikulation. Als solches untersteht sie einigen Normen, die sich aus diesen Funktionen ergeben. Diese Normen sind Maßstäbe für die Unterscheidung zwischen richtig und falsch , die in den Feldern der Syntax, der Semantik und der musikalischen Form samt ihren mannigfaltigen Stilkonventionen herrscht. Hier geht es darum, die Laute der Sprache korrekt auszusprechen, Sätze nach den Regeln der Grammatik zu formen und zu betonen, die Wörter im Sinne ihrer üblichen Bedeutung zu gebrauchen und die Töne richtig zu singen – so hoch, so lang oder kurz und so artikuliert, wie es sich gehört. Wohl mag die Unterscheidung zwischen richtig und falsch auch in diesen Feldern immer wieder unscharf werden – vorausgesetzt ist sie dennoch grundsätzlich. Wie wir sprechen und singen, liegt in diesen Feldern nicht in unserem Belieben, sondern untersteht allgemeinen Maßstäben.

Der Ruf nach der eigenen Stimme – und mit ihm die Annahme, die eigene Stimme könne verfehlt werden – legt ebenfalls einen Maßstab zugrunde. Wie aber soll die Qualität, „eigen“ zu sein und damit auf unverwechselbare Weise einer individuellen Person zuzugehören, einem allgemeinen Maßstab gehorchen? Es scheint ganz anders zu sein: Wenn wir von einer eigenen Stimme reden, nehmen wir eine andere Art von Maßstab an, nämlich einen individuellen Maßstab. Was können wir uns darunter vorstellen? Ist es nicht ein Widerspruch gegen den Gedanken des Maßstabs oder der Norm überhaupt, von einem Maßstab zu sagen, er messe nur einen einzigen, individuellen Sachverhalt und könne nicht auf andere übertragen werden? Und wie genau sieht der Sachverhalt aus, der einen solchen individuellen Maßstab fordert?

Ein erster Versuch, die letztgenannte dieser Fragen zu beantworten, könnte so lauten: Wir können keine positive Aussage darüber machen, wie ein solcher individueller Maßstab aussieht – aber wir merken schon, wenn jemand gegen ihn verstößt, beispielsweise, indem er oder sie jemanden nur nachmacht. Zumindest scheint dies eine Ansicht zu sein, die in Kunst-, Musik-, Theater- und Literaturkritiken über lange Zeit Gewicht hatte. Sie erlaubt es, Urteile wie „Abklatsch“, „epigonal“, „Kopie“ und dergleichen in kritischer Absicht zu gebrauchen. Damit bleibt aber unser Verständnisproblem bestehen. Was berechtigt denn zu dieser Kritik? Was fehlt einer Sängerin, einer Schauspielerin oder einer ganzen Aufführung, wenn in ihr die Töne, die Artikulation und die Stilmittel sitzen, sie aber doch nur epigonal wirkt?

Es gibt ja viele Tätigkeiten, in denen es darauf ankommt, sie schlichtweg richtig anstatt falsch auszuführen, und bei denen es egal ist, wie individuell oder authentisch das geschieht. Wo es darum geht, richtig zu singen, richtig zu sprechen oder sonst etwas richtig zu machen – zu kochen, ein Fahrrad zu reparieren, Geld zu überweisen oder dergleichen –, sind der Verstand, die Geschicklichkeit oder die richtige Technik entscheidend. Das sind Faktoren, die jedermann üben und erwerben kann und die auch geübt werden müssen. Individualität, die eigene Stimme, scheint dagegen bei anderen Tätigkeitsformen von Belang zu sein. Zu diesen zählen solche, für die Ausdruck wesentlich ist. Vermutlich stellt man sich Ausdruck dabei weithin als etwas Direktes, Unmittelbares vor: Im Ausdruck sind Verstand, Technik und Geschick nicht die Hauptsache. In ihm äußert sich eben die Individualität der Person. Wenn jemandem – bei allem Geschick, bei aller Genauigkeit und technischer Vollendung – die eigene Stimme fehlt, dann fehlt etwas im Bereich des Ausdrucks. Dieser Bereich wirkt leer oder der Ausdruck aufgesetzt. Der „Abklatsch“ und der „Epigone“ wären typischerweise dadurch ausgezeichnet, dass sie äußere Formen von jemandem übernehmen, aber nicht mit der Tiefe ihrer Person dabei sind. Ob diese Annahme tragfähig ist, wird noch zu sehen sein.

Der Ausdruck der Emotionen …

Nun haben wir zu Beginn die Annahme eingeführt, „die eigene Stimme zu finden“ sei eine Art von Zielformulierung, eine Aufgabe, an der man arbeiten müsse. In dieser Annahme steckt aber das Gegenteil der gerade angesprochenen Vorstellung von Ausdruck. Sie legt nämlich nahe, dass auch der Ausdruck nicht selbstverständlich gelingt, sondern erarbeitet werden muss. Das ist interessant, denn vom Ausdruck denkt man ja nicht zuletzt, dass er sich unmittelbar und spontan ergibt – etwa im Ausdruck der Gefühle und Affekte, die sich im Gesicht oder im Klang der Stimme oder in der Körperhaltung abzeichnen, auch ohne dass wir es wollten. Ebenso unmittelbar und spontan wird ein solcher Ausdruck von den Mitmenschen aufgefasst und verstanden: Es springt uns ins Auge, dass jemand gerade erschrocken ist, sich ekelt oder von Heiterkeit erfüllt wird. Das hat sehr wenig mit einem besonderen Können zu tun.

Dass wir unmittelbar und spontan in der Lage sind, solche Äußerungen des Ausdrucks zu erkennen, heißt allerdings nicht, dass diese Erkenntnis unfehlbar wäre. Ausdruck ist nicht durch und durch natürlich und eindeutig, sondern man kann ihn spielen und vortäuschen, und überdies sind seine Erscheinungsformen zu einem gewissen Grad an Kulturen gebunden und für sie spezifisch. Über die individuellen Personen und über die Kulturen hinweg erscheint jedoch im unmittelbaren, spontanen Ausdruck der Mimik, der Gestik, der Stimme und der Körperhaltung etwas, das zunächst in hohem Maße allgemein ist, nämlich Emotionen und Stimmungen .

In der Kunstphilosophie und ganz besonders in der Philosophie der Musik ist es eines der Kernthemen, dass Klänge es dem Anschein nach zuwege bringen, Emotionen auszudrücken. Hier soll nun gar nicht die Frage behandelt werden, wie das denn möglich ist und welche psychologischen Mechanismen in unserem Gehör bewirken, dass Musik uns ausdruckshaft erscheint. Wichtig ist hier ein anderer Punkt: Gesten, Stimmgebungen oder musikalische Figuren, in denen wir Emotionen und Stimmungen ausgedrückt hören oder sehen, sind typisch . Man kann sie und ihren Gehalt wiedererkennen – und man kann üben, sie auf wiedererkennbare Weise zu gebrauchen. Das ist im Kino oder unter YouTuber:innen nicht anders als bei den musikalisch-rhetorischen Figuren des 17. und 18. Jahrhunderts oder in der Gebrauchsmusik der Gegenwart, in der es nicht zuletzt darum geht, ohne Umschweife bestimmte Stimmungen und Assoziationen etwa für eine Filmszene oder für Werbezwecke wachzurufen.

Wenn wir Ausdruck auf diese Weise verstehen, ist er jedoch eine Art Signal oder Zeichen. Die Klangfigur oder die Geste steht für etwas, und sie soll uns auf eine bestimmte Weise ansprechen. Das, wofür sie steht, ist nun allgemein und wiedererkennbar. Wenn es um die Wiedererkennbarkeit und um die Wirkung geht, ist es aber weitgehend gleichgültig, wer etwas ausdrückt. Beliebig viele Personen sind in der Lage, sich die entsprechenden Gesten oder Melodiefloskeln anzueignen und sie zu gebrauchen. „Ausdruck“ bedeutet hier etwas ganz anderes als der Ausdruck der Individualität der Person, nach dem wir oben gefragt haben. Es bedeutet erstens den unmittelbaren, typischen Ausdruck, der unwillkürlich geschieht, und zweitens die willkürliche Nachbildung und Gestaltung von Ausdrucksformen, um einen bestimmten emotionalen Gehalt zu vermitteln oder auch eine Wirkung zu erzielen. In diesem zweiten Sinn gehört Ausdruck ins Feld des Lernens, Übens und Könnens. Dadurch rückt er den oben angesprochenen technischen Aspekten nahe und fällt unter ihre Normen: Ausdruck wird mit einer bestimmten Absicht benutzt, und dies kann gelingen oder misslingen, man kann ihn treffen oder verfehlen. Den verfehlten Ausdruck würden wir kritisieren, indem wir sagen, es sei nicht verständlich geworden, was eine Sängerin oder ein Schauspieler ‚rüberbringen‘ wollte, oder indem wir den Ausdruck beispielsweise als übertrieben beurteilen.

… und der Ausdruck des „inneren Kerns“ der Person

Was hat nun die Frage nach der eigenen Stimme mit dieser Bedeutung des Ausdrucksbegriffs zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel. Man könnte sogar annehmen, dass sie einander entgegenstehen: Ist es nicht so, dass der Ausdruck beispielsweise im Sprechen oder in der Musik dann besonders deutlich und wirksam ist, wenn er gründlich einstudiert wurde und wenn er die typischen Züge der Emotionen und Stimmungen besonders klar zur Geltung bringt – wenn er also nahe an den Floskeln und den Klischees bleibt, die die Wiedererkennbarkeit und Verständlichkeit garantieren? Aber gerade das schiene dem Ruf nach der eigenen Stimme zu widersprechen: Findet jemand die eigene Stimme nicht gerade dann, wenn er oder sie sich von den Floskeln und Klischees befreit hat, um etwas Einmaliges und Unverwechselbares auszubilden? – Versuchen wir nachzuvollziehen, welche Gedanken sich ergeben, wenn wir diese Frage bejahen.

Im Hintergrund des bisher Gesagten stand die Annahme, dass ein Ausdruck nicht einfach bedeutet, ein bestimmtes Aussehen zu haben oder auf eine bestimmte Weise zu klingen. Vielmehr scheint es, dass dieses Aussehen und Klingen uns etwas sagen will und wir es verstehen können. Dies haben wir gerade am Zusammenhang zwischen Ausdruck und Emotion diskutiert. Der Ausdruck sagt uns, wie jemandem zumute ist – sei es eine reale Person oder eine fiktive, gespielte Person. Was würde uns nun der Ausdruck sagen, der einmalig geworden ist und sich von allen Klischees, allen geläufigen und selbstverständlichen Bedeutungen gelöst hat? Müsste man nicht annehmen, dass dasjenige, was uns der Ausdruck der eigenen Stimme mitteilt, selbst einmalig ist? Und was kann es bedeuten, etwas Einmaliges, etwas, das sich von allem Selbstverständlichen und Geläufigen abgelöst hat, zu verstehen?

Vermutlich kann man auf zwei Weisen hierauf antworten. Erstens so: Es war von vornherein falsch, anzunehmen, dass Emotionen, Stimmungen und vergleichbare Regungen allgemein und verständlich sind und auf diese Weise auch im Ausdruck kommuniziert werden sollen. In Wirklichkeit sind solche Regungen immer einmalig. Sie haben jedes Mal einen besonderen, unwiederholbaren Charakter, und der wahre, klischeefreie Ausdruck sucht genau diesen Charakter mitzuteilen. Dazu genügt es nicht, sich eines Repertoires von Ausdrucksformen zu bedienen, sondern der Ausdruck will in jedem Moment neu erfunden, neu gestaltet sein – oder auch: Er muss in jedem Moment neu wachsen, auf unvorhersehbare Weise hervorbrechen und befreit werden. Letzteres gilt, wenn man daran festhält, dass Ausdruck in seinem Kern unvermittelt und unwillkürlich ist.

Eine zweite Antwort geht über die je besonderen, temporären Regungen hinaus und zielt auf dasjenige, was diese Regungen trägt. Das ist die individuelle Person selbst mit ihrem individuellen Leib und ihrer Seele. Die zweite Antwort sagt also: Wenn jemand seine eigene Stimme gefunden hat, so drückt sich in ihr die Individualität der Person aus, die wiederum auf die Seele zurückführbar ist. Für diese zweite Antwort bedeutet „Seele“ einen inneren Kern der Person. Um diesen inneren Kern herum bilden sich Schichten, die man im Unterschied zu ihm als äußerlich beurteilt: Rollen, Gewohnheiten, stereotype Ausdrucks- und Reaktionsweisen. Einer typischen Version dieser Antwort zufolge bilden sich diese äußerlichen Schichten, weil die Mitmenschen und die Umwelt ein Individuum in eine bestimmte Richtung lenken, Erwartungen an es stellen und vielleicht gar Zwang ausüben. Im Mittelpunkt dieses Gedankens steht die Annahme, dass es einen fundamentalen Gegensatz zwischen der Seele, also dem Inneren der Person, und der Außenwelt gibt. Für die Frage nach der eigenen Stimme bedeutet das, dass man diese verfehlt oder nicht gefunden hat, wenn man mit der Stimme der Rollen spricht, die die Welt der Person aufgenötigt hat – wenn man auf eine Weise spricht (oder singt), die von den Erwartungen, Urteilen und Begriffen der Außenwelt abhängt. Dagegen soll die eigene Stimme den inneren Kern der Person ans Licht bringen. Diese Antwort wie auch die vorige, die die besonderen, unwiederholbaren Regungen als Gehalt des Ausdrucks behauptete, bauen auf einem Gedanken auf, der zunächst nicht besonders exotisch klingt: „Es muss doch möglich sein, dass sich das, was in mir ist, unmittelbar ausdrückt!“

In dieser Forderung stecken zwei Probleme, über die man nachdenken muss, wenn man die Rede von der zu findenden eigenen Stimme aufklären möchte. Das erste Problem ist das Verhältnis zwischen dem, was in mir ist, und der Außenwelt: das Verhältnis zwischen den Seelenregungen und dem inneren Kern meiner Person hier, den äußerlichen Schichten des Verhaltens dort, das von Rollen, zwischenmenschlichen Erwartungen, geteilten Begriffen abhängt. Wenn dieses Verhältnis ein Gegensatz ist, dann ist es äußerst schwierig zu sagen, was sich denn im Inneren befindet, wie ich es selbst erkennen kann und wie es sich anderen verständlich ausdrücken sollte.

Selbst wenn dieses erste Problem geklärt wäre, ergibt sich als zweites die Frage, wie die Annahme eines unmittelbaren Ausdrucks zu erklären wäre – mit anderen Worten, wie es gelingen sollte, jenes Innere angemessen in eine Äußerung zu überführen, die nicht auf bereits geläufige Formen, auf Floskeln und Begriffe zurückgreift. Zum einen hat das Repertoire der Äußerungen, die wir mit unserer Stimme hervorbringen können, immer seine Grenzen, und mehr noch gilt dies für das, was wir mit dem Gesicht und dem Körper zeigen können, sodass jede dieser Äußerungen anderen, typisierten Ausdrucksformen ähnlich sein wird. Zum anderen nehmen andere Menschen diese Äußerungen wahr und bewahren sie mehr oder weniger detailliert und dauerhaft in ihrem Gedächtnis auf. Diese beiden Faktoren – die Verwandtschaft zu Ausdruckstypen, die wir schon kennen, und die Fixierung im Gedächtnis – müssten für den Gedanken vom inneren Kern der Person Zweifel daran wecken, dass es jemals möglich sein wird, die Individualität der Person und ihrer Regungen überhaupt angemessen zu äußern und nicht stets nur schatten- und schablonenhaft. Zwischen dem authentischen und dem gespielten, erlernten, vorgeprägten Ausdruck ließe sich gar keine deutliche Grenze ziehen. Der innere Kern müsste immer zu einem erheblichen Grad sprach- und stimmlos bleiben, wenn er so verstanden würde, dass er wesentlich jenseits des Selbstverständlichen, Gewohnten, von außen Aufgeprägten läge.

Der Gedanke vom inneren Kern ist wirkmächtig. 1 Aber wenn er so gedacht wird wie eben beschrieben, nämlich als Gegensatz zum Allgemeinen, der Außenwelt, den Rollen und Stereotypen, dann kann man ihn kaum verstehen. Der innere Kern entgleitet uns; er wird zusehends unfassbar. Das liegt daran, dass er sich im wörtlichen Sinn als Abstraktion erweist. Abstrahere bedeutet „abziehen“; und was hier abgezogen wurde, ist so gut wie alles, was wahrnehmbar und zugänglich ist. Übrig bleibt etwas ganz und gar Formloses, das seinen Ausdruck erst noch suchen muss – aber daran vorhersehbar scheitern wird. Der Philosoph Helmuth Plessner schreibt zu diesem Versuch, die Seele sich ausdrücken zu lassen, ohne Rücksicht auf die Welt der äußeren Formen zu nehmen:

Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt, es mag so echt gefühlt, gewollt, gedacht sein, wie es will […], trägt, indem es sich hervorwagt und erscheint, das Risiko der Lächerlichkeit . […] An dem Psychischen […] haftet gewissermaßen die Lächerlichkeit, sie ist in seiner Natur latent eben durch die Zweideutigkeit, die keine Bestimmung […] erträgt. […] In der Manifestation verliert Psychisches wesensnotwendig, aber da es von sich aus nichts dagegen machen kann und hilflos diesem Verlust an Gewicht zusehen muß, täuscht es immer noch mehr vor als was es faktisch schon ist. So kommt es zu jener an und für sich durchaus nicht verständlichen Lächerlichkeit aller […] Kundgabe von Psychischem überhaupt. 2

Der Ausdruck der Seele müsste sich am Maßstab des inneren Kerns genauso wie am Maßstab der ihm doch fremden Außenwelt bewähren, in der er verstanden werden soll. Aber gerade diese doppelte Bewährung birgt das Risiko, dass beide Seiten nicht zusammenkommen, und diese Diskrepanz ist der Boden des Lächerlichen. Der abstrakte Gedanke der eigenen Stimme als Ausdruck des inneren Kerns gehört dagegen vielleicht zu dem Wunsch nach einer Welt für mich allein 3 – einer Welt, die ganz und gar nach meinem Willen geht und in der das, was ich tue und was ich sage, durch keine Einwirkung beeinflusst und verzerrt wird, die der Verstand, die Auffassungsgabe und der Willen anderer Subjekte ausüben könnten. In dieser Vorstellung nimmt meine Umwelt urteilslos meine Äußerungen auf; und in ihr wäre die Lächerlichkeit ausgelöscht.

Eine Alternative zum „inneren Kern“

Das Verhältnis zwischen dem „Inneren“ und dem „Äußeren“ können wir jedoch auch auf weniger abstrakte Weise verstehen. Einen wichtigen Hinweis hierzu gibt wiederum Plessners Grenzen der Gemeinschaft (1924), ein Werk, das die Kritik an Authentizitätsforderungen in den Mittelpunkt stellt, ohne diese ganz abzuweisen. Um dieses Verhältnis zu analysieren, arbeitet Plessner mit dem Begriff der Seele. Die Seele, die der Mensch hat, befindet sich im Widerstreit zwischen zwei Bedürfnissen: sich zu verbergen und sich zu zeigen; eine Form zu finden und zugleich an diese Form nicht gebunden zu sein. 4 Zum einen ist die Seele ‚flüssig‘ – Plessner schreibt ihr eine „Quellnatur“ zu –, sie ist schöpferisch und kreativ, und in dieser Hinsicht ist sie stets mehr als das, was wir im Verhalten zeigen können. Zum anderen aber ist unser Verhalten, beispielsweise auch unsere Stimme, stets mehr als das, was in der Seele liegen mag, und zwar deshalb, weil unser Verhalten, Sprechen und Singen usw. immer schon anderem Verhalten ähnlich zu sein scheint, in Bedeutungszusammenhängen steht und so über sich hinausweist. Das sind Aspekte der Form des Verhaltens. Diese Formaspekte hat die Seele nicht in sich, und insofern ist sie weniger als das, was sich im Verhalten nach außen zeigt.

Vermittelte Unmittelbarkeit: Die Seele in der gemeinsamen Welt

Theorien des inneren Kerns sehen den zweiten Teil dieses Zusammenhangs als Mangel: Sie vermuten, dass jene Formaspekte, die über das individuelle Verhalten hinausweisen, abgetrennt werden müssten, damit wir zu einem wirklich authentischen Ausdruck kommen. Aus Plessners Ansatz können wir eine Alternative gewinnen. Für diese Alternative ist es wichtig, die Forderung „Es muss doch möglich sein, dass sich das, was in mir ist, unmittelbar ausdrückt!“ zurückzuweisen – oder sie etwas genauer zu beschreiben. Wir würden damit nicht bloß sagen: „Nein – was in mir ist, kann sich nicht unmittelbar ausdrücken!“ Genauer und mehr in Plessners Sinne wäre zu sagen: „Uns unmittelbar auszudrücken ist selbst eine vermittelte Tat.“ Ohne Vermittlung wäre die Seele nicht imstande, sich zu äußern – mit ihrer eigenen Stimme zu sprechen.

„Vermittlung“ bedeutet hier, dass menschliche Äußerungen auf ein Medium (dieses Wort entspricht dem „Mittel“ in „Vermittlung“) angewiesen sind, und zwar in der Weise, dass sie nur in diesem Medium als menschliche Äußerungen existieren können, ähnlich wie die Luft das Medium des Fliegens, das Wasser das Medium des Schwimmens, ein Schwerkraftfeld das Medium des Fallens sind. Sie sind damit nicht einfach Mittel im Sinne von Hilfsmitteln, sondern sie sind Bedingungen dafür, dass es diese Tätigkeiten überhaupt geben kann. 5 Vor dem Hintergrund dieser Analogie ist die geteilte, gemeinsame Welt das Medium der menschlichen Äußerungen. Dieses Medium besteht aus geteilten Bedeutungen, gemeinsamen Erwartungen, aus Begriffen und Zeichen, die wir wahrnehmen und verstehen und über die wir uns austauschen können.

Die Seele ist ein Aspekt der Person. Ihr ist das Bedürfnis eigen, sich verständlich zu machen und dafür eine Form zu finden. Solche Formen findet sie im Medium der gemeinsamen Welt, und indem sie diese Formen verwendet, versucht sie, jenes Bedürfnis zu erfüllen. Das bedeutet: Die Seele kann sich nur mitteilen und sich verständlich machen, indem sie eine Sprache verwendet, deren Struktur auch den Mitmenschen geläufig ist; indem sie mehr oder weniger vertraute Rollen übernimmt; indem sie Handlungen ausführt, die auch anderen bekannt sind; und sogar, indem sie Schreie ausstößt oder Tränen vergießt oder lacht. Wenn wir ernst nehmen, was oben zum Begriff „Medium“ erläutert wurde, müssten wir sogar genauer sagen: Es gibt keine Sprache, keine Ausdrucksweise (wie das Weinen, Lachen, Schreien), keine Rolle, die nicht zum Medium der geteilten Welt gehören würde – denn sonst wäre sie keine Sprache, kein Ausdruck, keine Rolle, keine Handlung. Wir wüssten überhaupt nicht, was sie wäre.

Die Dialektik der Rolle

Gerade der Begriff der Rolle ist besonders hilfreich, um dieses Verhältnis genauer zu verstehen. Eine Rolle umfasst viele der Formen, die gerade genannt wurden: bestimmte Handlungen, bestimmte Verhaltensweisen, bestimmte Ausdrucksweisen. Die Rolle des Spitzenpolitikers am Rednerpult erfordert eine andere Sprechweise als die Rolle der Professorin im Hörsaal – würde Letztere so vehement und energisch sprechen wie der Oppositionsführer in der Parlamentsdebatte, würde die Mehrheit der Anwesenden annehmen, sie sei ‚aus der Rolle gefallen‘. Beliebige weitere Beispiele ließen sich anfügen. Worauf es hier ankommt, sind folgende vier Punkte:

  • Eine Rolle muss man erlernen – man muss aus den Reaktionen anderer, aber auch aus der Beobachtung bewährter Rollenträger:innen erfahren, welches Verhalten angemessen ist und erwartet wird.
  • Eine Rolle kann man erlernen – Rollen sind allgemein; nur in seltenen Fällen sind sie direkt an eine Person gebunden (wie etwa bei Erbmonarchien); und daher steht es dem Individuum zu einem bestimmten Grad frei, Rollen zu wählen, und auch, sie an- und abzulegen.
  • Wenn eine Rolle nicht direkt an eine Person gebunden ist, ist sie nicht mit der Person, die sie trägt, identisch. Eine Rolle ist vergleichbar mit einer Maske: Sie verbirgt die Individualität der Person. Sie verhindert, dass das Innere, die Seele mit ihren Bedürfnissen und Regungen, nackt und ungeformt ans Licht tritt.
  • Rollen bieten allgemeine Verhaltensformen an: Durch eine Rolle, eine geläufige Redeweise, eine Art, sich zu kleiden usw., gewinnt das Individuum ein Gesicht und eine Stimme. Es wird von anderen als etwas bzw. als jemand erkannt. An der Wahl der Rolle und der Art, wie jemand sie spielt, wird sichtbar, ‚was für eine:r‘ jemand ist – zumindest zeitweise oder in dem Fall, dass die Rollenwahl gelungen ist. Die Rolle verbirgt nicht nur, sondern sie zeigt zugleich die Individualität.

Über Rollen und vergleichbare geteilte Formen ist die Person auf die Welt bezogen. Dieser Bezug ist nicht äußerlich und beliebig, er durchdringt die Person. Auch die Seele ist, als Aspekt der Person, von vornherein auf die Welt bezogen, mitsamt den Regungen und Bewegungen, von denen man meinen kann, dass sie ‚in ihr‘ sind und nach einer Äußerung suchen. Das Innere der Person und das Äußere ihres Verhaltens und der Welt, der sie begegnet, stehen damit nicht in dem oben angenommenen Gegensatz.

Daher sollten wir das Eigentümliche der Seele, nämlich den ­Aspekt, dass sie sich zugleich zu verbergen sucht, nicht so verstehen, als bedeute es, die Seele wolle den Bezug auf die gemeinsame Welt überhaupt zurückweisen und käme erst so zu sich. Das Bedürfnis, sich zu verbergen, hat eine andere Bedeutung: Die Seele wehrt sich dagegen, sich mit einem bestimmten Bezug oder einer bestimmten Form ganz zu identifizieren und sich darauf festzulegen. In diesem Bedürfnis und diesem Widerstand zeigt die Seele, dass sie einem utopischen Wesen angehört. Die Person ist utopisch, insofern sie nicht ganz hier ist und nicht ganz in den momentan bestimmten Weltbezügen und Verhaltensformen aufgeht, sondern weiß: „Es könnte auch anders sein – ich könnte auch anders sein.“

Bildung der Person – Bildung der Stimme

Wenn die Person mit ihrer Seele im Medium der geteilten Welt lebt, kann man nicht mehr daran festhalten, dass die eigene Stimme ganz und gar aus dem inneren Kern des Individuums hervorgegangen sein muss. Das Individuum findet eine Stimme überhaupt nur, indem es Formen, Bedeutungen und Klänge benutzt, die bereits da sind. Dabei ist dieses Benutzen ein durchaus langwieriger Prozess, bei dem man zweifeln kann, ob er je ein bleibendes Ergebnis hervorbringt. Und wahrscheinlich wird er immer wieder in Sackgassen führen und scheitern. Jedenfalls führt die Suche nach der eigenen Stimme, womöglich auch nach der eigenen Seele, gar nicht nach innen . Denn zur Seele und zur eigenen Stimme führt kein direkter Weg. Die Suche nach ihnen braucht eine Vermittlung: So finde ich sie wohl nur, indem ich mich mit der Welt auseinandersetze – mit den Handlungsformen, Ausdrucksformen, Bedeutungen und Ansprüchen, die in ihr kursieren. Diese Auseinandersetzung wurde oft „Bildung“ genannt.

Im Feld der Künste ist das ein althergebrachtes Vorgehen: Eine Stimme oder ein Stil bilden sich nicht einfach von innen heraus, sondern indem Künstler:innen Werke studieren, die schon existieren, indem sie Vorbilder nachahmen, Stile imitierend einüben, in Rollen schlüpfen und Masken aufsetzen. Für Ansichten der Kunst, die dem Gedanken vom inneren Kern anhängen, ist dieses althergebrachte Vorgehen kritikwürdig, denn es erscheint als Ablenkung, Umweg oder als Verfälschung des authentischen Schaffens. Aber ist das künstlerische Selbst so verfasst? Die obigen Überlegungen widersprechen dieser Ansicht. Ihnen zufolge gewinnt das künstlerische Selbst seine individuelle Verfassung indirekt bzw. vermittelt. Die Individualität muss ausprobieren, welche schon bereitstehenden Formen – welche Rollen, Stile, Konventionen – zu ihr passen und was sie aus ihnen machen kann.

Dies ist keine Verkleidung und Unterwerfung der Individualität. Wenn ein solcher Prozess der Bildung gelingt, geschieht etwas mit den Formen, Rollen, Stilen und Konventionen, die zuvor vor allem unter dem Gesichtspunkt betrachtet wurden, dass sie dem Individuum vorhergehen, ihm zunächst äußerlich sind und als allgemein gelten. Diese Bestimmungen werden durch das sich bildende Individuum transformiert: Es eignet sich jene Formen an . Die Betonung auf „eigen“ ist ganz wörtlich zu verstehen. Ein Individuum, das sich eine Rolle oder eine Ausdrucksform, einen Stil oder eine Stimme wirklich angeeignet hat, hat aus den allgemeinen, in der Außenwelt gängigen Formen etwas Besonderes und Eigenes gemacht. Es hat sich mit jenen allgemeinen Formen zusammengeschlossen und zugleich seine Differenz von ihnen markiert, indem es zeigt, dass es von solchen Formen nicht beherrscht wird und ihnen unterworfen ist, sondern dass es sie selbst beherrscht und die Souveränität hat, sie flexibel zu gebrauchen.

Dieser Prozess ist langwierig und kaum vorhersehbar, daher zu einem bestimmten Grad unkontrollierbar und instabil. Das hat zum Teil mit den körperlichen und intellektuellen Voraussetzungen zu tun, die ein Individuum mitbringt, sodass ihm manche Rollen, Praktiken oder Ausdrucksformen leicht gelingen, andere aber gar nicht. Zu einem anderen Teil hat es aber direkt mit der Psyche oder Seele zu tun. Plessners Anthropologie legt großen Wert darauf, die Seele des Menschen als unergründlich und flüssig zu beschreiben. Anders als der Verstand erarbeitet sie auch keine Handlungen oder Handlungsregeln, sondern sie wirkt als Kraft, 6 die sich vor allem spüren lässt – als Interesse, Zuneigung und Begeisterung oder als Abneigung, Widerstand und Fluchttrieb, und in vielen Fällen schließlich auch ambivalent, hin- und hergerissen. Solche Regungen werden in unseren Weltbezügen, unseren Handlungen, Gesprächen und Äußerungen spürbar. Sie zeigen an, ob das, was wir gerade tun und erfahren, passt – ob es in einer Weise an uns anschließt, dass es uns als mögliches Eigenes erscheint, oder ob es uns kaltlässt, fremd erscheint oder sogar abstößt. Genau jene Regungen sind unergründlich in dem Sinn, dass wir weder die Gründe oder Ursachen für sie völlig durchschauen noch sie direkt unter unsere Kontrolle nehmen könnten. Und sie sind flüssig, weil wir uns nie ganz auf sie verlassen können. Etwas, das sich lange bewährt hat, haben wir manchmal satt. So drängen uns die Regungen der Seele dann und wann auch aus unseren eigenen Gewohnheiten wieder heraus und zeigen stattdessen an, dass es Zeit ist, sich mit etwas zu befassen, das uns möglicherweise lange uninteressant, unverständlich oder unpassend erschienen ist.

Bildungsprozesse umfassen ein Zusammenspiel von Seele und allgemeinen Formen. Das Individuum, das Rollen, Ausdrucksformen und Handlungsweisen kennenlernt, ausprobiert, einübt und sie sich aneignet oder auch wieder verwirft, passt sich damit nicht einfach äußerlichen Normen und Erwartungen an, während es im Kern dasselbe bliebe. Eher ist es so, dass ich einmal durch diese praktische und gedankliche Auseinandersetzung, zum anderen aber durch die Seelenregungen, die in diesem Prozess aufkommen, überhaupt erst etwas über mich selbst erfahren kann. Die allgemeinen Formen sind nicht nur für die anderen, deren Erwartungen ich durch sie erfüllen kann und denen ich mich durch sie mitteilen kann, sondern indem ich mich an ihnen versuche und sie gebrauche, komme ich dazu, mich selbst zu verstehen und zu begreifen, wer ich im Kern bin. Aber der Kern ist flüssig; je nachdem, welche Erfahrungen wir gemacht haben, entwickelt er andere Regungen und Kräfte.

Schluss

Wir sind der Frage nachgegangen, welche Bedeutung in der Phrase liegt, „seine eigene Stimme zu finden“, und haben dabei zu Beginn angenommen, dass es sinnvoll und möglich ist, die eigene Stimme zu unterscheiden von Varianten der nicht-eigenen Stimme. Was ist nun aus dieser Annahme und aus der Frage nach dem Maßstab der eigenen Stimme geworden?

Eines der Probleme war, zu verstehen, was der Maßstab für Individualität sein könnte, den jene Unterscheidung erfordert, weil das Eigene nicht darin aufgehen konnte, dass man etwas allgemein Bestimmtes auf richtige Weise ausführt. Dieses Problem hat sich nicht gelöst. Im Gegenteil: Es scheint sich verschärft zu haben, denn es hat sich gezeigt, dass der Maßstab des Eigenen nicht nur individuell, sondern auch noch flüssig ist. Das macht es unmöglich, die eigene Stimme als eine Errungenschaft anzusehen, die den Endzustand einer Suche bedeuten würde. Die eigene Stimme scheint nun weder eine Fähigkeit noch einen Besitz zu bedeuten, sondern geradezu einen Appell, auf eine bestimmte Weise in Bezug auf das, was wir in der Welt und der Kunst und auch in unseren eigenen Begabungen vorfinden können, tätig zu sein. „Finde deine eigene Stimme!“ hieße damit: „Sieh zu, was du aus dem machen kannst, was es schon alles gibt!“ – aus demjenigen also, was wir anscheinend schon einmal gesehen und gehört haben, was wir alle zu verstehen meinen oder selbst zu beherrschen glauben.

Der Vorwurf des Epigonalen, des Abklatschs und der Kopie, den wir zwischendurch gestreift haben, wird damit vage. Er entspringt wohl vor allem einer Perspektive, die von der Vermutung geprägt ist, es gebe nichts Neues unter der Sonne und alles sei schon einmal dagewesen. Vor allem aus der Nähe der Zeitgenossenschaft ist es vermutlich kaum möglich, diese Perspektive zu widerlegen. Dauert es nicht manchmal sehr lange, bis wir merken, wie neu und eigen etwas gewesen ist? Das würde aber dafür sprechen, die Eigenartigkeit, Individualität und Unverwechselbarkeit viel eher als einen Prozess anzusehen, der sich durch die Zeit hinweg entfaltet, während wir aus der Nähe kaum imstande sind, die eigene Stimme als solche aufzufassen.

Dass es möglich sei, zu unterscheiden, ob jemand die eigene Stimme gefunden hat oder nicht, ist eine Hypothese, die diesen gesamten Versuch begleitet hat. So ist das Ergebnis dieses Versuchs im Rahmen dieser Hypothese zu verstehen: Wenn, ja wenn es möglich ist, die eigene Stimme von der nicht-eigenen zu unterscheiden, dann wird es wohl das bedeuten, was oben unter den Aspekten des Verhältnisses zu Rollen und der Auseinandersetzung mit bekannten Formen diskutiert wurde.

Es wäre nun ein zweiter Versuch, zu sehen, was sich ergibt, wenn wir diese Hypothese verwerfen und eine gegenteilige annehmen: Es ist sinnlos und irreführend, die eigene Stimme von der nicht-eigenen Stimme unterscheiden zu wollen. Die Aufforderung, die eigene Stimme zu finden, läuft ins Leere. Es stimmt nicht, was die einleitend genannten Ratgeber sagen: dass es nämlich auf die Authentizität der Stimme über die Technik hinaus ankommt. Eigentlich versprechen sie nur Technik-Übungen. Das Eigene aber ist nicht zu üben. In Wahrheit haben wir alle je schon unsere eigene Stimme und brauchen sie nicht erst zu suchen. Mehr noch: Das, was Mühe bereiten und uns herausfordern würde, wäre, sie abzulegen – und mit einer anderen Stimme oder der Stimme der Anderen zu sprechen und zu singen.


1 Vgl. dazu beispielsweise Christoph Menke, Was ist eine ‚Ethik der Authentizität‘? , in: Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor , hrsg. von Michael Kühnlein und Matthias Lutz-Bachmann, Berlin 2011, S. 217–238.

2 Helmuth Plessner, Die Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radika­lismus , Frankfurt a. M . 2002 [1924], S. 70f.

3 Die Anregung zu diesem Gedanken stammt aus einer Quelle, die es gerade deshalb wert sein mag, sie anzuführen, weil sie an dieser Stelle so weit hergeholt ist. Von der „lure of a world without men“ schreibt Octave Mannoni in Prospero and Caliban. The Psychology of Colonization , 2. Auflage, New York 1964, S. 101–106 (zuerst erschienen als: Psychologie de la colonisation , Paris 1950).

4 Ich fasse hier kurz und trocken zusammen, was Plessner in sehr farbigen Formulierungen darstellt: vgl. Grenzen der Gemeinschaft , S. 62–66. – Wie oben gezeigt, ergibt sich aus dieser Zweideutigkeit der Seele das „Risiko der Lächerlichkeit“, aber auch dessen Gegenstück, nämlich die Problematik, die Würde der eigenen Person zu erhalten und die der anderen zu respektieren. Vgl. hierzu Kai Haucke, Das liberale Ethos der Würde. Eine systematisch orientierte Problemgeschichte zu Helmuth Plessners Begriff menschlicher Würde in den Grenzen der Gemeinschaft , Würzburg 2003, S. 38–44.

5 Zu diesem Begriff des Mediums vgl. Volker Schürmann, Souveränität als Lebensform. Plessners urbane Philosophie der Moderne , Paderborn 2014, S. 102–106.

6 Ich verwende „Kraft“ mit der Betonung darauf, dass diese eher von sich selbst aus wirkt, als dass sie von einer Person bewusst und kontrolliert benutzt würde. Vgl. dazu Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie , Berlin 2017.