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Stimmkunst im 21. Jahrhundert

von Martina Sichardt, Gesine Schröder, Constanze Rora,

Gesangstechniken in der zeitgenössischen Vokalmusik

Pädagogische Herausforderung und musikermedizinisches Forschungsobjekt

Lisa Fornhammar, Michael Fuchs, Johan Sundberg und Lennart Heinrich Pieper

Im Rahmen des Leipziger Symposiums „Stimmkunst im 21. Jahrhun­dert“ haben Lisa Fornhammar, Michael Fuchs, Lennart Heinrich Pieper und Johan Sundberg Ergebnisse aus der Studienarbeit Measuring Voice Effects of Vibrato-Free and Ingressive Singing: A Study of Phonation Threshold Pressures vorgestellt. Der Artikel war zuvor im Juli 2020 im internationalen Journal of Voice 1 publiziert worden.

Ziel der oben genannten Studie war es, zu überprüfen, ob eine von uns modifizierte Messtechnik geeignet ist, um Effekte verschiedener Vokaltechniken auf die Schwingungseigenschaften der Stimmlippen beschreiben zu können. Ferner wollten wir überprüfen, ob es sich bei möglicherweise zu beobachtenden Effekten um positive oder negative stimmhygienische Effekte handelt. Hiermit sollte ein Grundstein für eine wissenschaftlich fundierte Beratung von Sänger:innen zeitgenössischer Vokalmusik gelegt werden. Neben dem klassischen Vibratogesang untersuchten wir daher auch Effekte experimenteller Vokaltechniken wie Senza-­Vibrato- und inhalativen Gesang.

Im Folgenden werden Lisa Fornhammar und Michael Fuchs in das Thema Gesangstechniken in der zeitgenössischen Vokalmusik aus gesangspädagogischer und medizinisch-phoniatrischer Sicht einführen. Anschließend werden Lennart Heinrich Pieper und Johan Sundberg die durchgeführte Studie und ihre Ergebnisse genauer erörtern.

Gesangspädagogische Einführung

(Lisa Fornhammar)

Seit den 1960er Jahren findet das Singen ohne Vibrato sowie das inha­latorische Singen vermehrt Verwendung in der Vokalmusik. So zum Beispiel das Singen ohne Vibrato in La fabbrica illuminata von Luigi Nono aus dem Jahre 1964 (s. Abb. 1.1) und das inhalatorische Singen in temA von Helmut Lachenmann (s. Abb. 1.2 und 1.3). Aber auch in aktuellem Repertoire finden sich vermehrt Einflüsse dieser experimentellen Vokaltechniken, z. B. in Die Alte von Carola Bauckholt aus dem Jahre 2001, hier zu hören mit Salome Kammer .

Ferner ist bei Komponist:innen ein wachsendes Interesse an einem instrumentalen Stimmklang ohne Vibrato zu beobachten.

Singen ohne Vibrato und das Singen auf der Einatemluft (inha­latorisches Singen) haben gemeinsam, dass sehr viele Sänger:innen dies als unangenehm empfinden. Insbesondere dann, wenn Komponist:innen es in ihren Werken für eine längere Dauer verlangen. Von Sänger:innen wird immer wieder beschrieben, dass sich die Stimmlippen nach längerem Singen ohne Vibrato unflexibel anfühlen. Nach inhalatorischem Gesang wird gehäuft ein subjektives Trockenheitsgefühl im Bereich des Halses und Kehlkopfes beschrieben.

Aufgrund des bestehenden Dissenses zwischen Sänger:innen und Komponisten:innen, die die genannten experimentellen Gesangstechniken ungern bzw. gern verwenden, initiierten wir ein Forschungsprojekt, welches sich der Frage nähern sollte, ob experimentelle Gesangstechniken für die Stimme schädlich sind oder einfach nur als unangenehm empfunden werden.

Bevor auf die medizinischen Aspekte genauer eingegangen wird, soll die intrinsische Motivation zur Aufnahme dieser Forschungsarbeit sowie ihr Ziel herausgestellt werden. Der oben genannte Artikel ist Teil eines größeren Forschungsprojekts an der Doctoral School für Musikpädagogik an der Sibelius Akademie in Helsinki. Das Forschungsprojekt trägt den Titel : Kollaborative Praxen und forschungsorientiertes Lehren im Musikhochschulbereich . Die Beweggründe für dieses Forschungsprojekt sind vorwiegend praktischer Natur. Als ich im Jahre 2007 angefangen habe, das Fach Aufführungspraxis Neue Musik für Gesangsstudierende am Mozarteum Salzburg zu unterrichten, bestanden gewisse Ängste und Bedenken mancher Gesangslehrer:innen diesem Fach gegenüber.

Notenblatt: I Corale
Abb. 1.1: Luigi Nono, La fabbrica illuminata , S. 1

Zu Recht, wie ich zugeben muss, da in der neuen Vokalmusik die Grenzen des Möglichen, ähnlich wie im Extremsport, immer wieder verschoben und in Teilen sicherlich auch überschritten werden. Dies macht die Neue Musik aber andererseits auch so spannend.

Notenblatt: temA für Flöte, Stimme (Mezzosopran) und Violonchello
Abb. 1.2: Helmut Lachenmann, temA , Takt 1–9

Das beste Gegenmittel gegen Angst ist bekanntlich Aufklärung. Und so war mir ziemlich bald klar, dass wir diese Ängste ernst nehmen und untersuchen sollten, was sich beim Gebrauch erweiterter Vokaltechniken im Einzelnen abspielt, damit sowohl die Sänger:innen und Gesangspädagog:innen als auch die Komponist:innen diese Erkenntnisse in ihren praktischen Alltag und ihre Arbeit einbeziehen können.

Im Jahre 2007 betreute ich im Schnitt 15 Studierende, hauptsächlich in Musikpädagogik. Momentan sind es im Schnitt 40 Studierende in Kursen, die ich am Mozarteum Salzburg, an der HMT Leipzig und an der Hochschule Carl Maria von Weber in Dresden anbiete.

Spielanweisungen
Abb. 1.3: Helmut Lachenmann, temA , Spielanweisungen

Die meisten dieser Studierenden sind Konzertfachstudierende. Hinzu kommen drei Masterstudierende des Studienganges Neue Musik, in dem ich als Hauptfachlehrende fungiere. Der Grund für das stei­gende Interesse liegt auf der Hand: Den meisten Studierenden ist bewusst, dass Neue Musik ein Teil des Berufslebens von fast jedem professionellen Sänger bzw. jeder professionellen Sängerin sein wird. Die Neue-Musik-Szene ist sehr dynamisch. So werden u. a. immer neue Ensembles und Institute für Gegenwartsmusik, wie hier an der HMT, gegründet. Ferner ist auch generell zu beobachten, dass sich das Berufsfeld „Musik“ momentan rasant verändert. Und dies war auch schon vor Beginn der Corona-Pandemie der Fall. Teilweise werden auch die Berufe im Musikgeschäft neu definiert. Somit habe ich vermehrt Studierende, die sowohl als Komponist:in als auch als Performer:in unterwegs sind. Beispiele für diese Vielfältigkeit sind die Komponistin und Performerin Rino Murakami hier an der HMT Leipzig, oder auch Alexandra Lampert-Raschké, die sich bei der Aufführung von György Kurtágs Kafka-Fragmenten in ihrer Abschlussprüfung selbst auf der Geige begleitet hat. Für die berufliche Perspektive der Studierenden ist dies sehr förderlich. Das bedeutet jedoch auch, dass wir als Pädagog:innen neue Unterrichtskonzepte brauchen, um diese Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit zu ermöglichen und zu unterstützen. Für professionelle Sänger:innen ist diese Vielfältigkeit unumgänglich. So ist es essenziell, ein Repertoire mit breitem Spektrum zu beherrschen und zu wissen, wie man zwischen verschiedenen Stilen sicher und schnell wechseln kann.

Das in Abb. 2 dargestellte Beispiel zeigt, wie an diese Wandlungsfähigkeit gelegentlich höchste Anforderungen gestellt werden.

Bild einer Aufführung mit vier weiß gekleideten Darstellern auf einer Bühne
Abb. 2: Produktion Au revoir, Euridice der Oper Leipzig und der Schaubühne Lindenfels (2017) 2

Zu sehen sind die drei Solist:innen in Aventures und Nouvelles Aventures von György Ligeti sowie Euridice aus Claudio Monteverdis L’Orfeo . Diese drei Werke wurden in der Produktion Au revoir, Euridice der Oper Leipzig und der Schaubühne Lindenfels aus dem Jahre 2017 ineinander verwoben. Eine sehr schöne und anstrengende Herausforderung, die erneut den Vergleich zum Extremsport nahelegt, da viele der Mitwirkenden in allen drei Stücken solistisch tätig waren.

Vielfältigkeit und Interdisziplinarität sind auch kennzeichnend für unsere Arbeitsgruppe, die aus Expert:innen aus unterschiedlichen Gebieten besteht und somit Musikpädagogik, Stimmforschung und Phoniatrie verbindet. Die Arbeitsgruppe, die sich hier gegründet hat, betreibt eine Art Grundlagenforschung im Bereich der zeitgenössischen Vokalmusik. Sie steht ganz am Anfang dieser Forschung, und ich hoffe, dass wir gemeinsam viele weitere interessante klinische Studien durchführen werden.

Musikmedizinische Aspekte

(Michael Fuchs)

Der Ort des geringsten Widerstandes

Bedenkt man aus stimmärztlicher Sicht mögliche Risiken für die Stimm­gesundheit angesichts spezieller Gesangstechniken in der zeitgenössischen Vokalmusik, so stellt sich zuerst die Frage nach dem Locus minoris resistentiae. An welcher Stelle des Stimmapparates könnte Schaden entstehen, der wiederum die stimmliche Leistungsfähigkeit und Qualität beeinträchtigt? Eine dafür prädestinierte anatomische Region ist die Oberfläche der Stimmlippen.

Um zu verstehen, was geschieht, wenn beim Singen im Kehlkopf ein Ton erzeugt wird, muss man den Feinaufbau der Stimmlippen innerhalb des Kehlkopfs kennen: Diese ziehen sich von der Innenfläche des Schildknorpels zu beiden Stellknorpelchen und bestehen aus mehreren Teilen: Im Inneren befinden sich Stimmmuskel und Stimmband, welches auch elastische Eigenschaften besitzt. Beide werden umkleidet von einem dreischichtigen Bindegewebe, an dessen Oberfläche eine Hautschicht (Epithel) die Stimmlippen abschließt und die als weißliche Struktur im Kehlkopfinneren sichtbar ist. Diese Flächen schlagen aneinander, wenn die Stimmlippen beim Singen schwingen. Dadurch entstehen an dieser Stelle Kraftwirkungen, die bei Überbelastungen zu Schädigungen des Epithels führen können. Es werden neben den Kräften beim Aufschlagen („impact stress“) auch Spannungs- und Scherkräfte beschrieben. 3 Kommt es zum Beispiel im Rahmen spezieller Gesangstechniken in der zeitgenössischen Vokalmusik (inhalatives Singen, Singen senza vibrato) – insbesondere bei unzureichend ausgebildeter Gesangstechnik – zu einem Missverhältnis zwischen diesen Kräften und der Widerstandsfähigkeit des Stimmlippengewebes, treten zunächst Veränderungen des Schwingungsablaufes auf, die stimmliche Symptome hervorrufen können. In der Regel zeigen sich zu diesem frühen Zeitpunkt aber noch keine organischen Veränderungen der Stimmlippenoberfläche. Besteht dieses Missverhältnis jedoch mittel- oder längerfristig, kommt es zu Epithelschäden an der Stimmlippenoberfläche.

Abb. 3a und b: Stimmlippenknötchen (a: Stimmlippen während der Atmung; b: Stimmlippen während der Phonation)

Der Organismus setzt daraufhin Entzündungs- und Heilungskaskaden in Gang, in deren Ergebnis organische Befunde an den Stimmlippenoberflächen sichtbar werden. Vereinfacht gesagt kann man diese organischen Veränderungen als Schutzreaktion des Körpers verstehen – vergleichbar mit einer Blase an der Haut der Ferse, wenn (neue) Schuhe eine Druckschädigung erzeugen. Klassische Formen dieser überlastungsinduzierten organischen Veränderungen sind Stimmlippenknötchen (Abb. 3a und b) und Stimmlippenödeme (Wassereinlagerungen).

Normaler Ablauf der Stimmlippenschwingung

Singt man ein a’, so müssen die Stimmlippen in einer Frequenz von 440 Hz, also 440-mal pro Sekunde schwingen. Dies ist von einem Muskel nicht zu bewältigen, denn er würde ab einer Frequenz von 30 Hz in einen Dauerkrampf übergehen. Vielmehr ist es das Wechselspiel zwischen dem Luftstrom, der von unten an die Stimmlippen geleitet wird, und den Kräften der inneren Kehlkopfmuskeln und des elastischen Stimmbands, das zur Entstehung des Tons führt. Daraus leitet sich die Bezeichnung der aerodynamisch-myoelastischen Stimmentstehungstheorie ab. Nach dem Einatmen wird die Stimmritze geschlossen, beide Stimmlippen bewegen sich aufeinander zu und liegen im Idealfall aneinander. Wird der Luftstrom von unten zu stark, reichen die muskulären und elastischen Kräfte nicht mehr aus und die Stimmritze öffnet sich für einen Moment einen kleinen Spalt weit. Durch die so entweichende Luft sinkt der Druck unterhalb der Stimmlippen wieder. Außerdem führt die an den Stimmlippen vorbeiströmende Luft auch erneut zu anziehenden Kräften, die gemeinsam mit der Stimmlippenspannung wieder zum Schließen der Stimmritze führen. Dieser Ablauf wiederholt sich zyklisch und führt zur Entstehung des sogenannten primären Kehlkopftons. Dieser ist jedoch lediglich für die Tonhöhe und zum Teil auch für die Lautstärke der Stimme verantwortlich. Um ihn tragfähig und klangschön werden zu lassen, sind akustische Phänomene im Ansatzrohr erforderlich.

Die Stimmlippen stoßen bei jeder Einzelschwingung nicht wie zwei flache Platten aneinander, sondern ihr freier Rand an der Stimmritze hat eine gewisse Dicke und geht in einer sanften Wölbung in die unteren Teile des Kehlkopfs über. Dadurch wird eine Randkante erzeugt, die bei der Schwingung eine nach außen rollende Bewegung über die Oberfläche der Stimmlippe vollführt. Diese Bewegung wird auch als Randkantenbewegung oder -schwingung bezeichnet. Auch der Begriff „Randstimme“ leitet sich davon ab. Je stärker diese Randkantenschwingung ausgeprägt ist, desto obertonreicher ist der primäre Kehlkopfschall. Der resultierende Reichtum an Obertönen und der höhere Energiegehalt (Schalldruckpegel) der einzelnen Obertöne sowie der Grundfrequenz stellen Qualitätsparameter des Klangs dar, weil sie eine bessere Grundlage für die weitere akustische Formung und Verstärkung für die Vokalbildung beim Sprechen und insbesondere beim Singen bilden. Verändert eine Erkrankung die Oberfläche der Stimmlippen, so bewirkt sie als eines der ersten Symptome eine Reduktion der Randkantenschwingung und damit eine Veränderung des Stimmklangs. Im umgekehrten Fall sollten alle stimmlich und sängerisch Aktiven versuchen, eine möglichst gute Randkantenschwingung zustande zu bringen. Außerdem ist das Ausmaß der Randkantenschwingung von der Tonhöhe, vom Schwingungsmechanismus in den verschiedenen Stimmregistern und von der Lautstärke abhängig. Bei Männern lässt sich die Randkantenschwingung bei der Kehlkopfuntersuchung besser sehen als bei Frauen.

Beim Sprechen und insbesondere beim Singen, also beim schnellen Wechsel der Frequenzen, ist eine permanente, diffizile Abstimmung des transglottischen Luftstroms mit der muskulär-elastischen Spannung der Stimmlippen erforderlich. Die Steuerung erfolgt mittels auditiver und kinästhetischer Kontrolle durch sehr schnelle neuronale Verschaltungen im Hirnstamm und durch übergeordnete Bereiche der Hirnrinde. Diese Prozesse müssen sowohl beim Spracherwerb im Kleinkindalter erworben als auch beim Erlernen des Singens durch Training erlernt werden. Danach ist ein musterhafter Abruf von muskulären Einstellungen (Spannungszuständen) und Bewegungsabläufen der anatomischen Strukturen des Stimmapparates möglich. Die hier gegebene Darstellung ist fokussiert auf die Stimmlippenbewegungen, aber es gilt natürlich, alle muskulären Aktivitätszustände und Bewegungsabläufe des Stimmapparates zu bedenken, also auch diejenigen bei der Atmung und der Klangformung und Artikulation in den Ansatzräumen.

Wie kann man Stimmlippenschwingungen sichtbar machen?

Die Stimmlippen sind Teil des Kehlkopfes, ihre Schwingung kann durch eine indirekte Kehlkopfspiegelung (Laryngoskopie) im Rahmen der klinischen Untersuchung in sitzender Position sichtbar gemacht werden (Abb. 4). Dazu ist es zunächst erforderlich, mittels eines Endoskops (Laryngoskop) den Kehlkopf zu beleuchten und mittels eines optischen Systems (Prismen und Linsen) darzustellen. Diese Optiken existieren als starre oder flexible Untersuchungsinstrumente.

Abb. 4: Kehlkopfspiegelung (Laryngoskopie)
Abb. 5: Automatisierte Erkennung der freien Stimmlippenränder und Vermessung der Schwingungsabläufe mittels einer Echtzeitlaryngoskopie

Die Beurteilung der Einzelschwingungen ist mit bloßem Auge und ohne weitere technische Hilfsmittel nicht möglich. Grundsätzlich werden zwei Verfahren mit der indirekten Laryngoskopie gekoppelt: die Videostroboskopie und die Echtzeitlaryngoskopie. Bei der Stroboskopie wird entweder ein Blitzlicht ( strobos = griechisch: der Blitz) verwendet oder die Blende der Videokamera unterbricht mithilfe eines Shutters das Bild. In beiden Fällen werden nur einzelne kurze Abschnitte der sich zyklisch wiederholenden Schwingungen beleuchtet. Dabei wird die Frequenz des Blitzlichtes bzw. des Shutters mit der Grundfrequenz des ausgehaltenen Tones und damit mit der Frequenz der Stimmlippenschwingung abgeglichen. Dadurch entsteht eine verlangsamte Darstellung (quasi eine Zeitlupe) aus der Aneinanderreihung der einzelnen Bilder, die jeweils ganz unterschiedlichen Zeitpunkten der Schwingung entspringen. Insofern basiert diese Untersuchungstechnik streng genommen auf einer optischen Täuschung. Sind die Schwingungen regulär, erzeugt die Stroboskopie zuverlässig aussagekräftige Aufnahmen. Bei stark heiseren Stimmen sind die Schwingungen aber irregulär, d. h. die Grundfrequenz schwankt. Hier stößt die Stroboskopie an ihre Grenzen. Die Echtzeitlaryngoskopie nimmt mit einer Hochgeschwindigkeitskamera mehrere Tausend Bilder pro Sekunde auf. Dadurch kann jede Stimmlippenschwingung tatsächlich abgebildet werden, wobei schon bei kurzer Aufnahmedauer (z. B. zwei Sekunden) eine immense Datenmenge durch die vielen Einzelbilder erzeugt wird. Das Verfahren eignet sich auch sehr gut für irreguläre Schwingungen und bietet zudem den Vorteil einer quantitativen Auswertung der Schwingungen. Dazu erfolgt eine automatisierte Erkennung der freien Stimmlippenränder und eine Vermessung der Schwingungsabläufe (Amplituden, Phasengleichheit etc., Abb. 5). Zudem können in der Kymografie die Schwingungen einzelner Stimmlippenabschnitte sehr differenziert betrachtet werden (Abb. 6).

Abb. 6: Kymografie mittels einer Echtzeitlaryngoskopie

Die Studie

(Lennart Heinrich Pieper und Johan Sundberg)

Einleitung

Da in der aktuellen Literatur Untersuchungen zu den Effekten experimenteller Vokaltechniken auf die Stimme nur spärlich gesät sind, hat sich im Jahr 2018 eine interdisziplinäre Forschungsgruppe aus den Bereichen Gesangspädagogik, Stimmphysiologie und Phoniatrie zusammengefunden, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Effekten experimenteller Vokaltechniken auf die Stimme zu generieren.

Im Rahmen der im Folgenden dargestellten Studie sollte herausgefunden werden, ob experimentelle Gesangstechniken zu einer messbaren Stimmermüdung führen. Hierzu wurde der sogenannte Phonation Threshold Pressure (PTP) als Parameter herangezogen, um Effekte von Stimmermüdung zu untersuchen. Der PTP beschreibt den minimalen subglottischen Druck, der benötigt wird, um eine reguläre und kontinuierliche Stimmlippenschwingung zu initiieren. Es ist bekannt, dass der PTP bei zunehmender Stimmermüdung ansteigt. 4 Er scheint somit geeignet, um Daten zu erhalten, die Aufschluss darüber geben, ob sich eine bestimmte stimmliche Belastung potenziell negativ auf die Stimmgesundheit auswirken könnte.

Ziel der Studie war zunächst einmal, zu überprüfen, ob eine durch uns modifizierte Messtechnik zur Ermittlung des PTP geeignet ist, um den Effekt verschiedener Vokaltechniken auf die Schwingungseigenschaften der Stimmlippen beschreiben zu können. Ferner sollte überprüft werden, ob experimentelle Vokaltechniken zu einer schnelleren Stimmermüdung führen und sich daraus mögliche Konsequenzen für die phoniatrische sowie gesangspädagogische Betreuung von Sänger:innen ergeben.

Material und Methoden

Im Rahmen der Studie wurden vier ausgebildete Sänger:innen (zwei Sopranistinnen, ein Bariton und ein Bass) untersucht. Alle Sänger:innen, abgesehen vom Bass, gaben Vorerfahrungen mit experimentellen Gesangstechniken an. Hierbei waren vor allem die zwei Sopranistinnen als besonders erfahren einzustufen.

Zentrales Element der Studie war es, die Veränderungen des PTP vor und nach definierter stimmlicher Belastung zu ermitteln. Hierzu wurde der PTP mittels modifizierter Messtechnik auf drei unterschiedlichen Tonhöhen vor und nach stimmlicher Belastung ermittelt (s. Studienprotokoll, Abb. 7). Dabei lagen die Töne je eine Terz von der unteren (1) bzw. oberen (2) Tonhöhenumfangsgrenze entfernt bzw. in der Mitte des Tonhöhenumfanges (3). Es wurden drei Tonhöhen ausgewählt, da nach vorab erfolgtem Gespräch mit den Sänger:innen die Hypothese formuliert wurde, dass sich eine Stimmermüdung zunächst an den Grenzbereichen des Stimmumfanges bemerkbar mache.

Abb. 7: Studienprotokoll

Um den PTP-Wert zu ermitteln, waren die Sänger:innen dazu aufgefordert, den jeweils vorgegebenen Ton in repetitiven Diminuendosequenzen auf /pa/ zu singen. Die Explosivlaute wurden ausgewählt, da der Druck in der Mundhöhle während der Phonation von Explosivlauten (z. B. /pa/) dem Druck unmittelbar unterhalb der Stimmlippen, dem sogenannten subglottischen Druck, entspricht. Somit konnte mittels einer leicht handhabbaren intraoralen Drucksonde der subglottische Druck non-invasiv ermittelt werden. Nach Abschluss der Messungen wurde dann der PTP als Mittelwert des subglottischen Druckes vor dem letzten stimmhaften und dem ersten nicht mehr stimmhaften /pa/-Laut ermittelt (s. Abb. 8).

Abb. 8: Dargestellt ist die zeitlich justierte Darstellung von Tonschallsignal (Oszillogramm) oben und intraoraler Druckkurve (entspricht dem subglottischen Druck) unten. Die Ermittlung des PTP-Wertes erfolgte als Mittlung des Druckwertes vor
dem letzten noch phonierten /pa/-Laut (P1) und dem ersten nicht mehr phonierten
/pa/-Laut (P2).

Es wurden drei stimmliche Belastungen, deren Effekte wir hinsichtlich einer Stimmermüdung untersuchen wollten, ausgewählt: (1) Singen mit Vibrato, (2) Singen ohne Vibrato (senza vibrato) und (3) Singen während des Einatmens (sogenanntes inhalatorisches Singen; engl. inhalation phonation, ingressiv singing ). Als standardisierte stimmliche Belastung, die zwischen zwei PTP-Messungen erfolgte, wurde das sogenannte Stimmumfangsprofil ausgewählt. Im Rahmen der Erhebung des Stimmumfangsprofils (SUP; engl. Voice Range Profil, VRP ) war der Proband/die Probandin aufgefordert, vorgegebene Töne über den gesamten Tonhöhenumfang der Stimme so leise und so laut wie möglich nachzusingen. Ein abschließend sich daraus ergebendes Stimmumfangsprofil ist beispielhaft in Abb. 9 dargestellt. Das Stimmumfangsprofil wurde je nach Messdurchlauf (1) im Vibratogesang, (2) im vibratofreien Gesang (senza vibrato) bzw. (3) im inhalatorischen Gesang erhoben.

Abb. 9: Beispielhaftes Stimmumfangsprofil von Sopranistin B, aufgenommen
im Vibratogesang. Die schwarze Kurve entspricht der Kurve des lautesten Singens.
Die blaue Kurve entspricht der Kurve des leisesten Singens.

Vor und nach jedem Messdurchlauf wurde zudem eine Videolaryngostroboskopie (VLS) durchgeführt und die Stimmlippen wurden auf folgende Parameter hin klinisch untersucht: Farbe, Gefäßzeichnung, aufliegender Schleim, Oberflächenbeschaffenheit, Stimmlippenschluss, Randkantenverschieblichkeit und nicht schwingende Anteile.

Ergänzend wurden Interviews vor bzw. nach der jeweiligen Stimmbelastung durchgeführt. Dabei wurden die Teilnehmenden gefragt, ob sie die stimmliche Belastung (Erhebung des SUP) als stimmlich unangenehm empfanden, ob sie nach dem Messdurchlauf eine stimmliche Ermüdung verspürten, und wenn ja, wie lange es anschließend dauerte, bis sich ihre Stimme subjektiv erholt hatte.

Ergebnisse und Diskussion

Bei allen Proband:innen waren nur geringe Veränderungen des PTP vor und nach den einzelnen stimmlichen Belastungen zu beobachten (siehe Abb. 10). Der PTP erhöhte sich mit zunehmender Stimmfrequenz. Dieser Effekt wurde auch bereits in vorausgehenden Studien beschrieben. 5

Die stärksten Anstiege des PTP nach stimmlicher Belastung zeigten sich vorwiegend im Bereich der oberen Stimmumfangsgrenze nach inhalatorischem Gesang. Hier ist demnach von einer Reduktion der myoelastischen Eigenschaften auf Stimmlippenebene auszugehen, die wiederum in einer Erhöhung des PTP resultieren.

Abb. 10: Die Abbildung zeigt die Ergebnisse der PTP-Messung (Mittelwerte) für
die vier Proband:innen jeweils vor (grüne Säule) und nach der stimmlichen Belastung (rote Säule) zu jeder Belastungsmodalität (+V = Vibratogesang, -V = senza vibrato, IP = inhalatorischer Gesang). Angegeben ist zudem die Standardabweichung zur
jeweiligen Messung.

Als Auswirkungen einer geringen Erfahrung mit den obengenannten Stimmtechniken zeigten sich bei einem Probanden höhere PTP-Werte nach der Belastung (Bariton). Bei einem anderen Probanden (Bass) zeigte sich ein geringerer Tonhöhen- und Dynamikumfang, der bei der inspiratorischen Aufgabenstellung im SUP erreichbar wurde. Es ist in diesem Zusammenhang zu vermuten, dass die einzig bei diesem Probanden beobachtbaren abfallenden PTP-Werte nach dem inhalatorischen Gesang auf eine geringere Belastung unter der Messung zurückzuführen sind.

In der VLS zeigten sich vereinzelt vermehrte Sekretauflagerungen nach stimmlicher Belastung in allen Gesangsstilen (s. Abb. 11). In den Interviews gaben die Proband:innen (abgesehen vom Bariton) eine stimmliche Ermüdung nach inspiratorischem Gesang mit einer verlängerten Regenerationsphase von bis zu 24 Stunden an.

Abb. 11: Zu sehen ist der videolaryngostroboskopische Befund des Baritons links vor und rechts nach stimmlicher Belastung im Vibratogesang. Zu sehen ist eine vermehrte Schleimauflagerung nach Stimmbelastung (rote Kreise).

Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die PTP-Messung als objektives und quantitatives Instrument zur Erfassung stimmlicher Belastungszeichen bei einzelnen Personen verwendet werden kann. Dabei sind Erhöhungen des PTP am ehesten auf veränderte aerodynamische und myoelastische Eigenschaften auf Stimmlippenebene zurückzuführen. Die PTP-Messung kann z. B. für intraindividuelle Verlaufskonsultationen im Rahmen phoniatrischer Sprechstunden genutzt werden. Indem sie mögliche Gründe für Stimmstörungen aufdecken kann, könnte sie zudem bei der Optimierung von Stimmtherapien Verwendung finden. Dies dürfte sowohl im pädagogischen als auch im klinischen Bereich von großer Relevanz sein. Weitere Messungen sind erforderlich, um Normwerte zu generieren. Bevor die Messmethode jedoch in größerem Umfang angewandt werden kann, muss sie noch weiterentwickelt werden.

Zusammenfassung

Die von uns adaptierte, experimentelle Methodik zur Ermittlung des PTP zeitigt plausible Daten für die Abschätzung der mechanischen Belastung des Stimmlippenepithels unter stimmlicher Belastung. Sie könnte somit eine empfehlenswerte ergänzende Diagnostik im Rahmen phoniatrisch-musikermedizinischer Sprechstunden sein, wenn es darum geht, Sänger:innen und Gesangsstudierende besser hinsichtlich eines möglicherweise bestehenden stimmschädigenden Stimmgebrauches beraten zu können.

Schlussfolgerung

Auch in unserer Studie zeigt sich, dass inhalatorischer Gesang mit einem Gefühl des stimmlichen Unbehagens und der Notwendigkeit einer längeren stimmlichen Erholungsphase einhergeht. Erhöhte PTP-Werte bei einem weniger erfahrenen Sänger weisen auf eine erhöhte stimmliche Belastung durch die inhalatorischen Gesangstechniken hin. Bei Sängerinnen mit einem hohen Erfahrungswert auf dem Gebiet der experimentellen Vokaltechniken zeigten sich niedrigere Anstiege des PTP nach entsprechender stimmlicher Belastung. Ein unmittelbar stimmschädigender Effekt konnte im Rahmen der Studie nicht nachgewiesen werden.

Im Rahmen sängerischer bzw. gesangspädagogischer Tätigkeiten sollten subjektive stimmliche Beschwerden unter Verwendung experimenteller Vokaltechniken unbedingt ernst genommen werden. Ein geschulter Umgang mit experimentellen Vokaltechniken inklusive spezieller stimmbildnerischer Maßnahmen und einer schrittweisen Steigerung der Belastung scheint angesichts unserer Daten und Erfahrungen empfehlenswert.


1 Lisa Fornhammar, Johan Sundberg, Michael Fuchs und Lennart Pieper, Measuring Voice Effects of Vibrato-Free and Ingressive Singing: A Study of Phonation Threshold Pressures , in: Journal of Voice 36/4 (2022), S. 479–486, erstmals veröffentlicht im Okto­ber 2020. Online verfügbar unter : https://doi.org/10.1016/j.jvoice.2020.07.023 .

2 Foto: Tom Schulze, s. Homepage der Schaubühne Lindenfels, https://www.schaubuehne.com/spielplan/au-revoir-euridice-2/3/9/10-sept#&gid=lightbox-group-248&pid=9 , zuletzt eingesehen am 08.01.2023.

3 Katherine Verdolini, Markus M. Hess, Ingo R. Titze, Wolfgang Bierhals und Manfred Gross, Investigation of Vocal Fold Impact Stress in Human Subjects , in: Journal of Voice 13/2 (1999), S.184–202. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.1016/S0892-1997(99)80022-8 .

4 Laura Enflo, Johan Sundberg und Anita McAllister, Collision and Phonation Threshold Pressures Before and After Loud, Prolonged Vocalization in Trained and Untrained Voices , in: Journal of Voice 27/5 (2013), S. 527–530. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.1016/j.jvoice.2013.03.008 .

5 Nancy Pearl Solomon und Michelle Stemmle DiMattia, Effects of a Vocally Fatiguing Task and Systemic Hydration on Phonation Threshold Pressure , in: Journal of Voice 14/3 (2000), S. 341–362. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.1016/S0892-1997(00)80080-6 .