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Stimmkunst im 21. Jahrhundert

von Martina Sichardt, Gesine Schröder, Constanze Rora,

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  1. I.
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  6. VI.

Die Schönheit des Dazwischen in Vokalmusik

Wie zeitgenössische Komponisten aus China und anderen Ländern sich von lokalen Dialekten anregen lassen 1

Shen Ye

Ich fühle mich geehrt, zu Ihnen im Rahmen des Symposiums über Stimmkunst im 21. Jahrhundert sprechen zu dürfen. Bei der Hochschule für Musik und Theater Leipzig und namentlich bei Constanze Rora bedanke ich mich für die Einladung. Dem Ort, an dem Sie jetzt sind, fühle ich mich sehr nah. Zum einen haben mich die Forschungsbeiträge von Kolleg:innen wie Gesine Schröder und Claus-Steffen Mahnkopf inspiriert, wie auch die musikalische Atmosphäre, in die ich während meiner 2018 an der HMT Leipzig gehaltenen Seminare geriet; die Kolleg:innen, denen ich dort begegnete, sind mir noch frisch in Erinnerung. Zum anderen fühle ich mich der HMT auch deshalb nahe, weil der Gründer des Shanghaier Konservatoriums, an dem ich zurzeit lehre – der Musikpädagoge, Theoretiker und Komponist Xiao Youmei (1884–1940) – vor gut einem Jahrhundert an der Leipziger Musikhochschule studiert hat. All diese Umstände lassen mich mit einer gewissen Herzenswärme über mein Thema sprechen.

I.

Heute möchte ich über jene geschmeidigen, allmählichen Klangveränderungen reden, denen man speziell auf dem Feld der menschlichen Stimme begegnet. Es lohnt sich, als Komponist:in die Quelle dieser Klangveränderungen aufzusuchen und sie immer wieder zu studieren. Denn kann es beim Vokalklang nicht hunderterlei Nuancen geben?

Beim Hören des Zyklus Drei Liebesgedichte für sechs Stimmen (2005) von Georg Friedrich Haas (* 1953) beobachtete ich ein eigentümlich leuchtendes Gleiten der Tonhöhen. Einmal erscheint dieses Phänomen im ersten Drittel des Werks, direkt nach einem Abschnitt in strengem Unisono. Zu hören ist hier ein lichter und zugleich raffinierter Akkord, der sich allmählich entfaltet und der sich aus nacheinander einsetzenden Vokalparts aufbaut. Der Akkord gleitet aufwärts und wird schließlich ausgeblendet. Ich habe eine Live-Aufführung mit den Neuen Vocal­solisten Stuttgart und außerdem zwei Aufnahmen gehört. Eine der Aufführungen unterscheidet sich deutlich von den anderen beiden: Der Einsatz in der zuletzt eintretenden Stimme ist akzentuiert und teilt das Stimmgewebe so in zwei Schichten: eine obere und eine untere. Mir suggeriert dieser Effekt Folgendes: Eine winzige Veränderung kann bei einem solchen Integral von flexibler Lautstärke und gleitender Tonhöhe die Hörerfahrung stark beeinflussen (s. Abb. 1).

Abb. 1: Schematische Darstellungen zur Hörwahrnehmung einer Passage aus Georg Friedrich Haas’ Drei Liebesgedichte . Links: Der Akkord gleitet als Einheit aufwärts, die dunklere Farbe steht für einen höheren dynamischen Grad. Rechts: Der deutlich vernehmbare Einsatz in der zuletzt einsetzenden Stimme teilt den gesamten Akkord in zwei Schichten, eine obere und eine untere.

Die Aufführung durch die Neuen Vocalsolisten Stuttgart, die ich gehört hatte, fand im September 2016 im He-Lüting-Konzertsaal des Konservatoriums Shanghai statt. Das Ensemble führte damals auch Karlheinz Stockhausens Menschen hört auf. Es handelt sich dabei um den vierten Teil von Mittwoch (1995–1997) aus der Opern-Heptalogie Licht . Am Ende der Aufführung traten die sechs Sänger:innen von der Bühne ab. Während sie den Auftrittsweg hinuntergingen, sangen sie, und ihre Stimmen wurden in den Konzertsaal zurückgetragen bis zum völligen Verklingen in tiefer Stille. Feinere Beobachtungen von Details dieses Abgangs verschafften mir weitere Einsichten in dessen räumliche Wirkung. Für das Publikum, das d ie Klänge vernehmen konnte, solange sie noch den Konzertsaal erreichten, hatten diese Klänge ein leichtes Schwingen von einer zur anderen Seite des Raumes, vor allem bei mittleren und hohen Frequenzen. Sicherlich kommt es zu diesem Effekt, weil der He-Lüting-Saal einen eher einfachen Auftrittsweg hat und die Stimmen das Publikum gleichzeitig sowohl durch die linke wie durch die rechte Tür erreichen können. Außerdem war der Raum hinter der Bühne an jenem Tage fast leer, in ihm befanden sich nur ganz wenige Menschen und so gut wie keine Gerätschaften oder Möbelstücke, die die Klangübertragung hätten blockieren oder den Klang absorbieren können. Im Ergebnis schien das Hörexperiment erweitert und auch reicher als die Premiere, die im Oktober 2003 vom Radio des SWR2 gesendet wurde.

Diese Beispiele zeigen Folgendes: Sobald Komponist:innen bemerken, dass solche geschmeidigen Varianten von Dynamik, Rhythmus, Tonhöhe, räumlicher Dimension etc. auftreten können, werden sie auch feststellen, dass diese Aspekte miteinander interagieren und in unserem Hören verschmelzen. Daraus lässt sich systematisch ein multidimensionales System konstruieren, ein System allmählicher Veränderungen.

Das grundlegende musikalische Material eines Werks bestand bisher gewöhnlich aus einer Menge homogener, klar getrennter, statischer Elemente, beispielsweise einer Tonhöhenmenge, einem spezifischen Rhythmus oder einer Folge von Klangfarbenwechseln. Sogar wenn einige wenige Elemente für Übergänge einbezogen wurden, wie etwa ein Glissando oder ein Crescendo, kamen sie nur als Verbindung zwischen fixen Zuständen vor. Die statischen Elemente wurden als Ursprungsmaterial verbaut und deren allmähliche Veränderungen wirkten als Erweiterung, Deformation oder Dekoration. Nunmehr aber wird eine bestimmte Art von flüssigem Kontinuum das grundlegende Material. Es gibt unter diesen Umständen beispielsweise keine Möglichkeit mehr, irgendein stabiles oder fixes Tonhöhenmaterial innerhalb eines kontinuierlichen Gleitens der Tonhöhen zu isolieren, alles ist in Bewegung. Mehr noch: Ein Kontinuum kann, da es nicht stetig, sondern fluide ist, nicht mehr unabhängig vom Vergehen der Zeit betrachtet werden. Grundmaterial ist nun ein Tonhöhenkontinuum, das manchmal schneller und dann wieder langsamer gleitet. Das Maß an Beschleunigung und an Verlangsamung beim Gleiten ist damit eine Schlüsseleigenschaft des Tonhöhenkontinuums selbst. Wie an Haas’ und Stockhausens Werken gesehen werden kann, interagieren zahlreiche Abstufungen der Dynamik, der Tonhöhen und der Verräumlichung miteinander, um sich zu einer charakteristischen akustischen Gestaltung zu verbinden.

Wenn eine solche Gestaltungsweise zum Grundzug eines Werks wird, formt bereits die winzigste Änderung eines Details das Ganze neu. Mit einer Menge multidimensionaler beweglicher Elemente wird man nur in Kombination mit der Zeit einen verschmolzenen, nuancierten Klang erreichen können.

II.

Neben den Zwischenwerten verschiedenster Faktoren, die in Vokalmusik eine Rolle spielen, der Tonhöhe, des Rhythmus, der Dynamik etc., lohnt es sich in hohem Grade, wie ich denke, auch die Zwischenwerte des Timbres zu diskutieren, denn das timbrale Gefälle eines Vokalwerks zeitigt äußerst subtile Wirkungen; zudem sind Klangfarbenunterschiede in Vokalmusik komplexer als andere Faktoren. Als Beispiel ziehe ich den Solosopran-Abschnitt der Takte 21–24 aus Invisible Mantra (2005) von Jesper Nordin (* 1971) heran (s. Abb. 2). Die Partitur verlangt vom Solosopran, den hier gesungenen Vokal bei kontinuierlich gehaltener Stimme von ‚oo‘ allmählich in ‚aa‘ übergehen zu lassen.

Das Gleiten ist eines der beiden wesentlichen Grundmaterialien dieses Werks. Nordin nutzt in der Partitur nach rechts weisende Pfeile, um damit seine Vorstellung von der Steigung bzw. vom Gefälle der vokalen Farbgebung oder des Vibratos in ihrem Verhältnis zum Zeitverlauf anzugeben. Die Zwischenstationen beim Übergang von einem zu einem anderen Vokal bedeuten Veränderungen des Timbres und sind zugleich mit anderen Nuancen verbunden, die hier in einer unauflösbaren Gemengelage durch das veränderliche Maß von Vibrato und Dynamik, durch die Veränderung der Tonhöhe etc. hervorgerufen werden.

Abb. 2: Jesper Nordin, Invisible Mantra , Takt 21–24. Partiturextrakt von Shen Ye.
Der allmähliche Übergang ist in den punktierten Rahmen gesetzt. 2

Eine mögliche Quelle dieser Zwischenwerte der Stimme drängt sich auf: phonetisch komplexe Vokale, Doppel- oder Zwielaute, in denen bereits Wechsel enthalten sind. So etwas findet sich in vielen Sprachen, beispielsweise in den deutschen Wörtern „Ei“ oder „Urlaub“, dem spanischen Wort „fuego“ oder dem indonesischen „kerbau“, den Diphthongen ɔu, ai, ei, au, ɔi im Englischen, „toit“ im Estnischen, „ “ im Mandarin-Chinesischen und „ “ im Kantonesischen. In den Dialekten der Städte Suzhou und Wuxi, mit denen ich vertraut bin, ist das Gleiten zwischen den Silben ein wenig langsamer, etwas komplexer und prononcierter. Anders als ein deutscher Polizist, der ruft: „Keine Bewegung!“, ruft ein Pekinger Polizist: „ 不许动!

Dieser kurze, starke Ausruf! Wenn die Polizei in Suzhou im Suzhou-Dialekt dasselbe sagen würde, wäre es „ 讷弗动 “. Es wäre viel weicher und weniger effektiv. Das „ “ hat ein ausgesprochen langsames Gleiten, viel langsamer als in anderen Dialekten, es hat einen fallenden Ton und einen Akzent, der zu dem Fallen passen muss. Angesichts einer solch reichen, durch viele Faktoren ausgelösten Nuancierung der Aussprache erscheinen die universalen phonetischen Symbole als ein Haufen verrotteter, dysfunktionaler Krücken.

Gerade weil die Dialekte schon beim gewöhnlichen Sprechen ein solch kunstreiches tonales Gefälle haben, ergibt sich kein Verschwimmen und kein Bedeutungsverlust, wenn die Worte in Volksmusik nochmals verlangsamt werden, beispielsweise wenn Maestro Jiang Yuequan „Madam Du Shiniang“ singt. Es handelt sich um eines der berühmtesten Pingtan-Dramen. Pingtan heißen die Balladen und das Geschichtenerzählen im Suzhou-Dialekt. Bei den Worten 窈窕风流,杜十娘 („Meine schöne Dame, Madam Du Shiniang“ 3 ) am Anfang des Gedichts werden die Silben ‚ ‘, ‚ ‘ und ‚ ‘ mit allen nur denkbaren Abstufungen zwischen den Selbstlauten ausgesprochen.

Abb. 3: Shen Ye, Gogol, Takt 7–8.Sehr langsames Verblassen eines Lauts. 4

Zeitgenössische Komponist:innen beziehen ihre Inspiration aus solcher Flexibilität, sie haben die Freiheit, die Geschwindigkeit der allmählichen Veränderung zu kontrollieren. In meinem Werk Gogol für Sopran kommt zum Beispiel das Wort „ “ vor (was „wie“ bedeutet). Im Mandarin-Chinesischen wird dieses „ “ wie [ ʃʌn ] gesprochen und hat einen sehr schnellen Verlauf. In meinem Werk kann der Laut des Wortes aber auch ganz allmählich blasser werden: von beinahe [ ʃiː ] über [ jɛː ] und [ ɑː ] bis zu [ ŋ ] (s. Abb. 3).

In jeder dieser Phasen ließe sich die Geschwindigkeit der Timbrewechsel kontrollieren. Dieses Gefälle der Zwischenwerte kann auch mit unterschiedlicher Intonation, einem gewissen Gefälle der Intensität und veränderlicher Geschwindigkeit verbunden werden, um reiche und verschiedenartige Klangmuster zu bilden.

Abb. 4: Chen Qigang, Poème lyrique II , Partiturausschnitt der Takte 39–45.
Der Komponist fügte dem Wort „ “ hier den Laut [ai] hinzu. 5

Mit dem allmählichen Werden des Klangs in seinem jeweiligen Zeitverlauf wird die Musik selbst kunstvoll verändert, sobald die Lyrik über die gedehnten Schlüsselsilben hinwegfließt. Dieses Werden des Klangs erzeugt eine Elastizität der Zeit. Auch ist es möglich, sich ein wenig Freiheit zu leisten, wenn man während des Verblassens Laute hinzufügt, die nicht zu dem Wort gehören. Doch geschieht Derartiges eher selten. Im 水调歌头 Poème Lyrique II für Bariton und Instrumentalensemble (1991) von Chen Qigang (* 1951) wendet sich beispielsweise bei dem Text „ 把酒问青天 “ (was soviel heißt wie „Ich erhebe den Kelch als Opfergabe zum Himmel und frage“) das Wort „ “ von dem Laut [n] zu [ai] und kehrt dann wieder zum ersten Laut zurück (s. Abb. 4). Dieser [ai]-Klang ist kein Laut, der wirklich zu dem Wort „ “ gehörte; der Komponist hat ihn aus ästhetischen Gründen hinzugefügt, wegen des Klangwechsels. In einer Mail, die Chen Qigang mir am 10. Februar 2022 sandte, schrieb er, dass er diese Variabilität der Silben aus üblichen Verfahren in der Tradition Suzhou Pingtans und volkstümlicher Opern gewonnen habe. Die Schauspieler:innen heben dort oft absichtlich den gesamten Ausspracheverlauf eines Wortes hervor und übertreiben die Betonungen, um auf diese Weise ein Element von Unerwartetem in ihren Gesang einzubringen.

Für die Freiheit im Umgang mit solchen Zwischenwerten gibt es bei Chen eine Grenze: Ganz gleich, wie ausgiebig oder übertrieben der Komponist die Zwischenwerte handhabt, lösen sie sich von den Lauten der ausgesprochenen Wörter doch nie ganz los. Daher bleiben Musik und Text stets aufeinander bezogen und sind nur partiell unabhängig.

III.

Falls sich Komponist:innen noch näher an die Zwischenwerte der Timbres und an deren internes Arrangement heranwagen, können die Nuancen zu einer Entfernung von der Wortbedeutung führen. An solchen Stellen wird Vokalmusik im Zuge allmählicher Veränderungen des Stimmklangs zusehends unabhängiger von dem vertonten Gedicht.

Mein neues Werk Babel wurde im Oktober 2020 vom KlangForum Heidelberg uraufgeführt. In der Zeile „ 造一座城 “ („Baue eine Stadt“) habe ich bei dem Wort „ “ (Stadt) dessen Laute gedehnt, was in etwa das hier ergab: [ə:]-[ən]-[əŋ]-[ŋ] .

Behutsam gab ich auch dem Gleiten mehr Zeit, vergrößerte dabei den Tonhöhenambitus beim Aufwärtsgleiten und schichtete die Laute des Wortes in den sechs Gesangstimmen teilsynchron übereinander (s. Abb. 5).

Abb. 5: Shen Ye, Babel , Takt 11. Das Wort „ “, ausgestattet mit einem eigenen Klangdesign. 6

Das Wort „ “ wird dadurch vieldeutig. Das Klangkontinuum bei ‚ ənŋ ‘ wird zu einem akustischen Dazwischen, das wie ein Echo des schnelleren Glissandos bei ‚lai – ei‘ am Anfang des Werks wirkt.

IV.

Die eigentümliche Aussprache in Dialekten ist nur eine von vielen Quellen für den Klang, der in Vokalmusik des 20. und 21. Jahrhunderts vorkommt. Mit der Stimme lassen sich fast alle Klänge simulieren, die wir hören. Oder um noch weiter zu gehen: Sobald wir einige grundlegende Regeln der Aussprache verinnerlicht haben, können wir vokale Klänge generieren, die allein in unserer Vorstellung existieren und die ganz ab­strakt sind.

Die beiden folgenden kurzen Ausschnitte aus dem Stück Treadeth upon the Waves of the Sea stammen aus meinem Chorzyklus 1 , den ich 2019 für die Taipei Chamber Singers komponiert habe, das Stück basiert auf Worten aus dem biblischen Buch Hiob 9:8–10. Zwar bleiben hier Reste vom üblichen Vokalklang übrig, die Stimmen erzeugen ansonsten aber einen reinen Klang mit Abstufungen, die gegenüber den zugrundeliegenden Silben völlig neu sind.

Abb. 6: Shen Ye, Treadeth upon the Waves of the Sea , Takt 10–14. Fortwährende Änderung des Timbres der Grundtöne. 7

Die Sänger:innen sollen in einer Passage (s. Abb. 6) das Innere ihrer Münder so weit als möglich vergrößern, um Resonanzräume zu schaffen. Die jeweilige Formung des Mundes, die Position der Zunge und des Kehlkopfes sorgen in ihrer jeweiligen Kombination für Wechsel zwischen einigen Vokalen , die hier extrem langsam vonstattengehen. Deren Obertöne sind nun schwächer und weicher, während sich das Timbre der Grundtöne fortwährend ändert. Diese Methode des Umgangs mit dem Stimmklang unterscheidet sich sowohl vom mongolischen als auch vom tibetanischen Obertongesang.

Das in Abb. 7 dargestellte Beispiel zeigt, wie ich für die vier Wörter 丝施予希 acht Zwischenstationen mit unterschiedlicher Aussprache von jeweils zwei Wörtern zu finden versuchte. Es ging darum, von „ “ nach „ “ acht Nuancen der Lautartikulation unterzubringen. Zuerst gewöhnen sich die Sänger:innen mit einer eigenen Ausspracheübung an die grundlegenden Laute, um anschließend die Zwischenstationen im Verlauf der acht Stationen zu üben. Zuletzt singen alle Sänger:innen zusammen.

V.

Vom Konzept zur Ausführung bringt die allmähliche Veränderung von Vokalklängen technische Schwierigkeiten mit sich. Auf der einen Seite existieren feine, aber wichtige Unterschiede in der Methode der Hervorbringung von Lauten. Wie lassen sich die Stimmmuskeln trainieren, um einen bestimmten Klang zu produzieren? Das sind keine Techniken, die alle Sänger:innen bereits beherrschen würden, sondern es ist etwas Neues. Auf der anderen Seite geht es um den Austausch: darum, wie Komponist:innen diese Methoden der Lautproduktion aufschreiben und wie der Laut wiederum bei genau diesen Sänger:innen klingt.

Nordins Zugang zur musikalischen Produktion beinhaltet die Duldung von Unterschieden und von temporären Veränderungen. In den Erläuterungen zu seinem Stück Invisible Mantra schreibt er: „[T]he sounds of the vowels and consonants in the score can be sung in a way that feels natural in the native tongue of the singers, the differences in colour between choirs from different countries are encouraged.“ Andere, eher traditionelle Zugänge sind meist mit detaillierteren Angaben verbunden, dass beispielsweise bestimmte Hervorbringungsweisen der Laute nur dann zu bevorzugen sind, wenn sie in den Noten ausdrücklich gefordert werden. Möglich sind derlei Vokalklangexperimente nur, wenn die Sänger:innen einen annähernd gleichen linguistischen Background haben.

Soweit es mich betrifft, schätze ich Kommunikation. Gemeint ist damit, dass ich Wege suche, etwas von mir selbst anderen zu übermitteln, etwas von diesem Ort an einen anderen zu bringen und zu erkennen, was ich mit anderen nicht gemeinsam habe. Ich begrüße feine Unterschiede der Details und füge sie zu Musik zusammen, die perzeptibel und aussagekräftig ist. Das mag der Grund dafür sein, warum ich nicht den Weg gewählt habe, kompositorisch mit uniformen Mustern und Standards fortzufahren, warum ich aber auch nicht dazu ermutige, sich allein des Lokalkolorits einzelner Länder zu bedienen. Ich versuche die Unterschiede zwischen Stimme und Singen in unterschiedlichsten Kulturen zu verstehen und sie in meinen Vokalwerken auf vielerlei Weise zu vermitteln: natürlich mit Notationsarten, aber auch mit Tonaufnahmen, Videos und verbalen Kommentaren, damit die einzelnen Sänger:innen möglichst schon vor den Proben üben können und um bestimmte Gewohnheiten gemeinsam mit den Sänger:innen infrage stellen zu können. Diese Vermittlungsmethoden müssen flexibel und adäquat sein. Und zwar deshalb, weil unsere Kommunikation so veränderlich bleiben muss, dass wir in der Lage sind, die Zwischenwerte und Charakteristika der Vokalklänge diverser Kulturen akkurat hervorzubringen.

Abb. 7 (gegenüberliegende Seite): Shen Ye, Treadeth upon the Waves of the Sea , Takt 1–5 (Ausschnitt). Allmählicher Wechsel zwischen den vier Wörtern 丝施予希 über Luftklänge. 8

Unsere Kommunikation kann nicht allein auf Noten gegründet sein, nicht auf Vorschriften, aber auch nicht auf bloße Nachahmung von Gehörtem ohne Schrift. Wenn wir beispielsweise die Standardnotation für Vokalklänge verwenden wollten, die ja für musikalische Kulturen bestimmter kultureller Regionen – sagen wir: die deutschsprachigen Gebiete – besser als für andere geeignet ist, so wäre das übliche Notationssystem brauchbar. Sobald es aber für Musik aus japanischen, russischen, französischen oder chinesischen Regionen verwendet werden soll, wird diese Notationsweise eher schlecht funktionieren und der Klang wird regelrecht verstimmt sein.

Deshalb kann es für Komponist:innen nützlich sein, Ton- oder Tonbildaufnahmen zu machen sowie den Noten Einführungen zu Übungsmethoden beizugeben wie die oben geschilderten, worin die Sänger:innen ermuntert werden, im Voraus eine Anzahl von unterschiedlichen Positionen zwischen „ “ und „ “ zu üben. Kurz gesagt: Meine Methoden sind flexibel, auf den ersten Blick zwar weniger einfach und nicht gerade systematisch, im Ergebnis können aber verschiedenste klangliche Nuancen hervorgebracht werden. Und immer, wenn wir zusammenarbeiten, stoßen die Sänger:innen und ich gemeinsam auf etwas Neues.

VI.

Die Zwischenwerte, die bei allmählichen Übergängen in Vokalmusik zustande kommen, eröffnen die willkommene Möglichkeit, dass sie sich vom Wortklang abstrahieren lassen. Sie bergen eine Fülle an Veränderungspotenzial. Es ist verlockend, die Schönheit solcher Nuancen zu erforschen.

Musikalischer Klang ist gewöhnlich ein spezifischer Verlauf von Energiebewegung, wobei relative Ruhe und Stabilität lediglich vorübergehend sind. Was ist die Ästhetik von Zwischenwerten? Sie erlaubt, sich für die Wahrnehmung von Klangveränderungen Zeit zu lassen, sie fesselt unsere Aufmerksamkeit, sie macht zuvor unsichtbare Übergänge sichtbar und bringt Klangwechsel mit anderen, von uns Menschen kaum vernehmbaren Veränderungen in Korrelation.

Sehr subtile und langsame Veränderungen können Menschen gewöhnlich nicht sinnlich wahrnehmen. So die Veränderungen des Wasserstands bei Seen und Meeren, die Evolution von Tier- oder Pflanzenarten, die Gletscherschmelze, das Bröckeln von Sozialsystemen. Wir wissen, dass diese Veränderungen existieren und dass sie wichtig sind. Oft nehmen wir sie aber erst wahr, wenn eine Spezies ausstirbt, Gletscher abbrechen oder wenn sich Gesellschaften polarisieren.

Die Phänomene von Gefälle und Veränderung in unsere Musik eingehen zu lassen, hilft bei der Aufdeckung unserer subkutanen kognitiven Erfahrung. Das Jahr 2020 begann mit großen Herausforderungen an unsere Zeit. Ich war in diesem Jahr mehr auf Anschlussmöglichkeiten und den Austausch mit anderen fokussiert als jemals zuvor. Riesigen und erstaunlichen Veränderungen geht oft ein kaum wahrnehmbares Rumoren voraus.

Wahrscheinlich ändern sich manche Positionen nur ganz allmählich, sie lassen sich dann noch gegeneinander austauschen und unter den Menschen kommt es zu einer Verbindung zwischen unterschiedlichsten Gesichtspunkten. Das Dazwischen in Vokalmusik beinhaltet keine Schönheit, die lediglich von ein paar wenigen Musiker:innen in Asien oder Europa wahrgenommen werden könnte. Die Schönheit von Zwischenwerten, die Schönheit der relativen Ruhe und die Schönheit von Varianten können Menschen universal fühlen und brauchen.

Nochmals bedanke ich mich dafür, dass ich mit meinen Werken und Gedanken zu diesem Symposium beitragen durfte. Obwohl wir in diesem Moment weit voneinander entfernt sind, sind wir über die Musik eng miteinander verbunden.

Übersetzung aus dem Englischen: Gesine Catharina Magdalene Schröder


1 Vortrag, gehalten in englischer Sprache am 22. November 2020, online aus Shanghai.

2 Ausschnitt aus einer Aufnahme von Jesper Nordins Invisible Mantra (2005) auf der CD Utmost Utterance of the Time (A Tribute to Contemporary Choral Music) . Taipei Chamber Singers unter der Leitung von Chen Yun-Hung, 2008/2009. Copyright 2009 Taipei Chamber Singers.

3 Die Aufnahme entstammt der CD Madam Du Shiniang , gesungen von Jiang Yuequan. Copyright 1959 China Record Corporation.

4 Ausschnitt aus einer Aufnahme von Shen Yes Gogol (2016) mit Lini Gong (Sopran) und Burkhard Kehring (Klavier) aus dem Mitschnitt eines Konzerts an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Copyright 2017.

5 Ausschnitt aus einer Aufnahme von Qigang Chens Poème Lyrique II (1991) aus dem Mitschnitt eines Konzerts am 2. April 1991 mit dem Bariton Shi Kelong, begleitet vom Nieuw Ensemble unter der Leitung von Ed Spanjaard. Copyright 1991 Gérard Billaudot Éditeur, CD 1994 Nieuw Ensemble/Zebra Records.

6 Ausschnitt aus Babel (2020) von Shen Ye . Mitschnitt eines Konzerts vom 28. Okto­ber 2020 beim KlangForum Heidelberg. Zu hören sind die SCHOLA HEIDELBERG und das ensemble aisthesis, Leitung: Walter Nußbaum.

7 Ausschnitt aus einer Aufnahme von Shen Yes Choral Cycle I: Anticipation – Treadeth upon the Waves of the Sea (2019) von der CD Yin – An Unlimited Passage . Es singen die Taipei Chamber Singers unter der Leitung von Chen Yun-Hung. Copyright 2020 Taipei Chamber Singers.

8 Ausschnitt aus einer Aufnahme von Shen Yes Choral Cycle I: Anticipation – Treadeth upon the Waves of the Sea (2019) von der CD Yin – An Unlimited Passage . Es singen die Taipei Chamber Singers unter der Leitung von Chen Yun-Hung. Copyright 2020 Taipei Chamber Singers.