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Stimmkunst im 21. Jahrhundert

von Martina Sichardt, Gesine Schröder, Constanze Rora,

Vorwort

Der Band Stimmkunst im 21. Jahrhundert versammelt die Beiträge des gleichnamigen Symposions am „Zentrum für Gegenwartsmusik“ (ZfGM) der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig vom 21.–22.11.2020. Das Symposion fand aufgrund der damaligen Corona-Situation kurzfristig als Online-Veranstaltung (Zoom-Konferenz) statt. Konzipiert und moderiert wurde es von den Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes, die alle Lehrende der HMT Leipzig sind.

Im Symposium ging es um Fragen der Stimme und ihrer Verwendung in Musiken des 21. Jahrhunderts. Dem Komponieren für Stimme(n) steht heute eine neue Bandbreite stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung, bei denen auch die Bezugnahme auf ‚andere‘, z. B. nichteuropäische Stimm- und Gesangstechniken eine Rolle spielen kann. Auf Seiten der Gesangspraxis und -pädagogik erfordert dies eine zunehmende Aufmerksamkeit für erweiterte vokale Gestaltungsformen und die Auseinandersetzung mit neuen Notationsformen. In Vorträgen und einer Podiumsdiskussion wurden die Besonderheiten dieses künstlerischen und pädagogischen Aufgabenfeldes dargestellt und diskutiert.

Flankiert wurde das Symposion von einigen Konzerten, die ebenfalls allesamt online stattfinden mussten. Das geplante Eröffnungskonzert am Abend vor dem Symposion (20.11.2023) mit Studierenden der Hochschule unter der künstlerischen Leitung von Lisa Fornhammar, Pablo Andoni Olabarría und Fabien Lévy, mit Werken von Beat Furrer, Györ­gy Kurtág, Fabien Lévy, Rino Murakami, Karin Rehnqvist, Aribert Reimann und Gerhard Stäbler, musste kurzfristig abgesagt werden; immerhin konnte die Einstudierung von Karin Rehnqvists „I dina ögons klara morgonljus“, Fabien Lévys „Murmelt mein Blut“ und von zwei Kafka-Fragmenten György Kurtágs aufgezeichnet und im Verlauf des Symposions vorgeführt werden. Darüber hinaus gab es eine Kooperation des ZfGM mit dem Forum für Zeitgenössische Musik Leipzig (FZML): In dem vom FZML und dem Ensemble Tempus Konnex organisierten, gleichfalls online stattfindenden Ensemblefestival für aktuelle Musik 2020 Leipzig erklangen am 19.–22.11.2020, gespielt von herausragenden Ensembles zeitgenössischer Musik aus China, Japan, Russland und Deutschland, zahlreiche Ur- und Erstaufführungen.

Der vorliegende Band erscheint im innovativen Format einer multimedialen Publikation – einer digitalen Publikationsform also, die neben Texten gleichermaßen Audios und Videos einbezieht. Videos und Audios sind sowohl als eigenständige ‚Buch‘-Kapitel als auch, in größerer Zahl, in die Textbeiträge aufgenommen (s. insbesondere die Beiträge von Shen Ye und Rino Murakami). Der Band eröffnet damit eine neue, zweite Schriftenreihe der Hochschule: „Schriften_multimedial“, herausgegeben im Auftrag der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy Leipzig“. Neben der digitalen Open-Access-Publikation erscheint gleichzeitig eine Print-Version der Textbeiträge in kleinerer Auflage; hier sind die in die digitale Version eingebundenen AV-Medien durch Unterstreichung kenntlich gemacht, aufrufbar sind sie per QR-Code (s. Verzeichnis S. 163ff.).

Die Idee, ein neues Publikationsformat für die Hochschule zu entwickeln, entstand bei den Herausgeberinnen im Zuge der Überlegungen, wie die Beiträge des Symposions in geeigneter und der Sache angemessener Form einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden könnten. War bereits während des Symposions durch die ungewöhnlich hohe Teilnehmer:innenzahl das große Interesse an der Thematik zutage getreten, so wurde dies durch mehrere hundert Klicks an nur zwei Tagen, an denen die Zoom-Sitzungen noch aufrufbar waren, nochmals überdeutlich. So entstand die Idee einer Veröffentlichung der Beiträge des Symposions in einer Form, die es möglich macht, die zahlreichen Demonstrationen von Stimm- und Sprachkunst, Stimmexperimenten etc. des Symposions gleichermaßen in die Publikation zu integrieren, da sie einen essenziellen Bestandteil des Symposions bildeten. Eine ideale Lösung, die es ermöglicht, neben Texten auch Audios und Videos zu integrieren, wurde in Gesprächen mit Prof. Dr. Barbara Wiermann (Leiterin der Abteilung Musik und AV-Medien der SLUB Dresden) gefunden: Der Symposiums-Band Stimmkunst im 21. Jahrhundert wurde ausgewählt als Pilotprojekt einer multimedialen Open-Access-­Publikation im musikwissenschaftlichen Fachrepositorium musiconn.publish. Unter dem Namen „musiconn – für vernetzte Musikwissenschaft“ betreibt die Bayerische Staatsbibliothek München gemeinschaftlich mit der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden den „Fachinformationsdienst Musikwissenschaft“; musiconn.publish wird als Teil des DFG-finanzierten Fachinformationsdienstes Musikwissenschaft (FID) an der SLUB Dresden betreut und betrieben und auch kontinuierlich weiterentwickelt. Das Angebot bewegt sich einerseits im Netz der Fachinformationsdienste für die Wissenschaft, 1 ist andererseits aber auch eng eingebunden in NFDI4Culture 2 als Teil des neuen Systems der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur.

Das innovative Format einer multimedialen Publikation ist einer Hochschule für Musik und Theater quasi ‚auf den Leib‘ zugeschnitten, eignet es sich doch vorzüglich zur Publikation wie Dokumentation künstlerisch-wissenschaftlicher Projekte, besonders auch im Hinblick auf eventuelle zukünftige Projekte aus dem Bereich Künstlerischer Forschung.

Der vorliegende Band hat letztlich in mehrfacher Hinsicht experimentellen Charakter: Die Beiträge entstammen einer als Notlösung veranstalteten Zoom-Konferenz – das Symposion war ursprünglich in Präsenz geplant, dann als Hybrid-Veranstaltung, um schließlich in letzter Minute als reine Online-Veranstaltung stattzufinden; eine Veröffentlichung der Beiträge war nicht geplant. Daher wurde keinerlei Vorsorge im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung getroffen. Die technische Qualität der Videos und Audios entspricht daher nicht immer dem gewohnten Standard, sondern spiegelt bisweilen die etwas improvisierte Live-Atmosphäre wider (Störstellen in der Zoom-Übertragung, offene Mikros von Teilnehmer:innen, Geräusche, die nur zum Teil durch technische Nachbearbeitung etwas gemildert werden konnten etc.). Das Roundtable-Gespräch konnte aus rechtlichen und technischen Gründen nicht als Video, sondern nur im Audioformat in den Band aufgenommen werden. Die ursprüngliche Reihenfolge der Vorträge wurde für die Publi­kation leicht geändert: Die philosophischen Überlegungen Thomas Dworschaks (Video-Vortrag als Eröffnung und ein neu beauftragter Essay als Beschluss) bilden nun eine Klammer um die musikermedizinischen, musikwissenschaftlichen und musikpädagogischen Beiträge.

Zum Inhalt des Bandes: Thomas Dworschak problematisiert in seinem auf Video festgehaltenen Vortrag „Stimme und Person in der Philosophischen Anthropologie. Eine systematische Skizze“ die Ambivalenz zwischen Allgemeinheit und Individualität des persönlichen Ausdrucks. Da jedem Individuum aufgegeben ist, sich im Laufe seiner Entwicklung Ausdrucksformen anzueignen und Rollen zu verkörpern, muss der Anspruch auf Authentizität im Sinne des von Helmuth Plessner formulierten anthropologischen Grundgesetzes der vermittelten Unmittelbarkeit zweideutig bleiben. Dies gilt in besonderer Weise auch für den stimmlichen Ausdruck, der sich im Sprechen und Singen in angeeigneten normierten Formen ebenso wie in nonverbalen Äußerungen vermittelt.

Im Text-Beitrag „Gesangstechniken in der zeitgenössischen Vokalmusik. Pädagogische Herausforderung und musikermedizinisches Forschungsprojekt“ stellt die Sängerin und Gesangspädagogin Lisa Fornhammar experimentelle Gesangstechniken seit den 1960er Jahren, insbesondere das vibratolose und das inhalatorische Singen vor – Techniken, die Sänger:innen und Gesangspädagog:innen vor erhebliche Schwierigkeiten und Probleme stellen. Die Ergebnisse einer medizinisch-phoniatrischen Studie über die Auswirkungen solcher Stimmtechniken auf die Stimme, durchgeführt von einer im Jahr 2018 gegründeten interdisziplinären Forschungsgruppe unter Beteiligung von Gesangspädagogik, Stimmphysiologie und Phoniatrie, werden von Michael Fuchs, Lennart Heinrich Pieper und Johan Sundberg vorgestellt.

Den Kosmos des Gesangs in der Neuen Musik zwischen den Polen Sprechen, Flüstern, theatrale Aktion, Mikrotonalität und Belcanto stellt Angelika Luz dar und verfolgt damit eine ähnliche Systematik wie Thomas Dworschak im obengenannten Vortrag. In ihrem Video-Vortrag „Sologesang des 20. und 21. Jahrhunderts. Wege zur Interpretation und gesangsdidaktische Erfahrungen“ geht es Angelika Luz um Fragen der Interpretation, Einstudierung und didaktischen Vermittlung, wobei jeweils die Umsetzung der Notation diskutiert und (ggf. in verschiedenen Versionen) demonstriert wird.

Im zentralen Abschnitt von Luigi Nonos La fabbrica illuminata duettiert die Sängerin mit sich selbst. So war es bei der Uraufführung 1964: Vom Tonband hörte die livesingende Carla Henius ihre eigene Stimme. Wie lässt sich heute mit dem vorproduzierten Band umgehen? Basierend auf Nonos Manuskripten und auf Recherchen zum Entstehungsprozess der Fabbrica erwägt die forschende Sängerin Anne-May Krüger in dem Beitrag „‚The Alienation of the Singer from Her Gattungswesen‘. Andreas Eduardo Franks Restore Factory Defaults (2017) als Echoraum zu La fabbrica illuminata (1964) von Luigi Nono“ Strategien vom Morphing des alten Tonbands bis zur Neuaufnahme. Als Surplus stellt sie gemeinsam mit ihrem Koautor Andreas Eduardo Frank eine aktuelle Version der Selbst-Duett-Idee vor: Franks Restore Factory Defaults restauriert Nonos politisches Komponieren für die Gegenwart.

Im Anschluss an die Vorträge von Lisa Fornhammar, Michael Fuchs, Lennart H. Pieper, Johan Sundberg, Angelika Luz, Anne-May Krüger und Andreas Eduardo Frank fanden sich die Vortragenden, unter Beteiligung von Caroline Stein, zu einem Roundtable „Stimme im 21. Jahrhundert. Medizinische, ästhetische und pädagogische Fragen“ zusammen, das im weiteren Verlauf auch für Fragen aus dem Publikum geöffnet wurde. Im Vordergrund des Gesprächs standen medizinische Fragen zu Stimmtechniken neuer Vokalmusik.

Welche Wunderkammern öffnen Dialekte doch einem Komponisten, der für Stimmen schreiben möchte! In seinem Beitrag „Die Schönheit des Dazwischen in Vokalmusik. Wie zeitgenössische Komponisten aus China und anderen Ländern sich von lokalen Dialekten anregen lassen“ zeigt Shen Ye anhand etlicher Beispiele, unter anderem von Jesper Nordin, Chen Qigang, und eigener Stücke, dass Zwischenwerte der Intonation beim Sprechen (beispielsweise in unterschiedlichen Dialekten der chinesischen Sprache), dynamische Schattierungen, ein Gleiten der Zeit und feine Abstufungen des Timbres das Schreiben von Vokalkompositionen bereichern können.

Rino Murakami, Composer-Performerin aus Japan, berichtet in ihrem Beitrag „Den eigenen kulturellen Hintergrund überdenken. Ein Weg zu neuer Stimmkunst“ von dem Entstehungsprozess eines eigenen Stücks für Stimme und Instrumente, mit dem sie ihre Herkunft aus Japan thematisiert. Sie experimentiert mit der Verbindung dreier für japanische Musik typischer Stile: einer Stimmgebung im klassischen japanischen Stil, den Rufen japanischer Marktschreier und japanischem Rap. Resultat war die Erfahrung, wie wohl ein behutsamer Umgang mit stilistischen Readymades noch einem absurden Vokalklang-Theater tut.

Dass wir nach einer eigenen Stimme nicht erst suchen müssen, weil wir sie immer schon haben (wie unseren Fingerabdruck), ist ein Fundstück philosophischer Rekurse wiederum auf Plessner. In seinem Beitrag „Die eigene Stimme finden. Essay über einen ästhetisch-pädagogischen Gemeinplatz“ zeigt Thomas Dworschak, dass es im Gegenteil Mühe macht und herausfordert, die eigene Stimme abzulegen und mit einer anderen Stimme oder der Anderer zu sprechen, zu singen (und zu komponieren).

Herzlich gedankt sei Prof. Dr. Barbara Wiermann (SLUB Dresden) und Dr. Christian Kämpf (Projekt-Koordinator musiconn, SLUB Dresden) sowie Ulrike Böhmer (Olms Verlag) für die Diskussion, Beratung und Planung des neuen multimedialen Publikationsformats. Dem Beirat der Hochschulschriften-Reihe gebührt Dank für die Planung und Beratung, dem Olms Verlag und dem Rektorat der HMT Leipzig für die Zustimmung zur Gründung der neuen Schriftenreihe „Schriften_multimedial“. Prof. Dr. Barbara Wiermann und Dr. Andrea Hammes (SLUB Dresden) sei herzlich gedankt für die ausführliche Beratung und Hilfe bei der Einholung der Rechte, Hans-Reinhard Wirth für den Schnitt der Video- und Audiofiles, Svenja Rademacher (HMT Leipzig) für Unterstützung bei Lektorat und Korrektur, Dr. Konrad Vorderobermeier für seine Sorgfalt und Hilfsbereitschaft bei Lektorat und Satz – und nicht zuletzt den Autoren der Beiträge für ihre Geduld.

Leipzig, im Mai 2023

Martina Sichardt, Gesine Schröder und Constanze Rora