Kreation – Reflexion – Echo
(Anne-May Krüger)
Restore Factory Defaults, konzipiert und realisiert in enger Zusammenarbeit mit der sowie für die Autorin, reflektiert das Verhältnis zwischen Live-Interpretin und Fixed-media-Komponente, die Arbeitsmodi zwischen Komponist und Interpretin sowie die explizite Vermittlung gesellschaftspolitischer Haltungen in La fabbrica illuminata. Als „Musik über Musik“ ist Restore Factory Defaults damit ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit Fragestellungen vor allem zu technischen und aufführungsästhetischen Problemen der historischen Komposition.
In der 20-minütigen Multimedia-Performance Restore Factory Defaults steht das Sängerinnen-Individuum hinsichtlich der Tätigkeit als Performerin im Zentrum, die klassische Stimmgebung rückt hier jedoch deutlich in den Hintergrund.

Die Performerin sitzt auf einem drehbaren Drum Throne vor einer Leinwand. Am Drehsitz ist ein Tablet befestigt, von dem die Performerin die Partitur ablesen und sich gleichzeitig im Winkel von 180° in verschiedene Positionen vor der Leinwand drehen kann. Die über die Partitur vermittelte komplexe Fülle an Aufführungsanweisungen ist mithilfe eines Click-Tracks in Koordination mit einem scheinbar interaktiven, tatsächlich jedoch im Zeitverlauf definierten Videozuspiel umzusetzen, das direkt auf den Oberkörper der Interpretin sowie auf die Leinwand projiziert wird. Sowohl eher konventionelle Parameter (Tonhöhen, Rhythmus, Dynamik, Text, Klangaktionen, Artikulation etc.) als auch Handbewegungen, Körperdrehungen, Mimik etc. sind in zum Teil extremer Dichte im Zeitverlauf organisiert, woraus die spezifische Komplexität des live umzusetzenden Performanceanteils resultiert. Aufgrund der starken rhythmischen Koordination von Live-Aktionen und Video sind Abweichungen deutlich wahrnehmbar und stören die Illusion einer Interaktion zwischen Mensch und Maschine.
Die aus der Dichte an Informationen resultierende Überforderung der Interpretin wird nicht nur durch die wahrnehmbar kaum zu realisierenden performativen Aktionen deutlich, sondern auch auf einer Kommentarebene. Diese ist gleichwohl in die zweiteilige Komposition eingeschrieben, vermittelt sich jedoch als changierend zwischen scheinbar privater und scheinbar zum Stück gehöriger Ebene.
Während die Interpretin in I. the alienation of the singer from their Gattungswesen mit der Maschinerie ihrer Performance-Umgebung zu ringen, aber auch zu kommunizieren scheint, ist sie in II. when sound exceeds the speed of light zu derselben geworden. Erst hier wird sie, visuell vervielfältigt, auch auf der Leinwand sichtbar. Dazu erfolgt im zweiten Teil eine Überlagerung des mit der Maschinerie in Verbindung gebrachten „Smiley-Face“ (vgl. Abb. 12 und 13) mit ihrem eigenen Gesicht – eine Unterscheidung zwischen dem Interpretinnen-Ich und dem virtuellen Ich kann nicht mehr eindeutig vorgenommen werden.
Restore Factory Defaults lässt sich innerhalb des beschriebenen Settings aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten: 1. als eigenständige Komposition und damit als Objekt musikalischer Interpretation sowie 2. als Kommentar zu La fabbrica illuminata im Sinne von Lawrence Kramers hermeneutic interpretation, hier angewandt auf einen musikpraktischen Kontext.
Interpretation in the hermeneutic sense – call it open interpretation – […] aims not to reproduce its premises but to produce something from them. It depends on prior knowledge but expects that knowledge to be transformed in being used. Open interpretation concerns itself with phenomena in their singularity, not their generality. It treats the object of interpretation more as event than as structure and always as the performance of a human subject, not as a fixed form independent of concrete human agency.75
Im ersten Fall ließe sich die Komposition als Zentrum einer Stratifikation nach de Assis’ Modell umreißen: La fabbrica illuminata sowie die von der Autorin geleistete Forschungsarbeit gehörten hier neben zahlreichen anderen Voraussetzungen für ihre Entstehung (Techniken, Geräte, Diskurse, Praktiken etc.) zu den substrata.

Die seit der Uraufführung 2017 erfolgten weiteren Aufführungen76 sowie Dokumentationen entsprächen metastrata bzw. epistrata, diverse im Laufe der Arbeit entstandene Dokumente (Partiturversionen, Korrespondenzen etc.) wären den parastrata zuzuordnen. Damit würde zwar auf die sich seit der Entstehung der Komposition entfaltende multiplicity verwiesen und damit auf die Bedeutung der mit ihr verbundenen Materialien, angesichts einer noch relativ kurzen und wenig ambivalenten Aufführungsgeschichte bleibt jedoch offen, was durch das Stratifikationsmodell gewonnen wäre. Offenbar bedarf das Modell einer gewissen Sättigung an Materialien, um einen Mehrwert zu entfalten.

Das Verständnis der Entstehung und performativen Umsetzung von Restore Factory Defaults als Akt hermeneutischer Interpretation von La fabbrica illuminata mag hier weiterreichende Ergebnisse zeitigen, indem es gerade das Potenzial von musikalischer Praxis als Reflexionsmodus hervorhebt und für Szenarien unabhängig vom vorliegenden konkreten Forschungskontext erschließt. Damit soll Franks Komposition einerseits als performativer Verhandlungsraum von charakteristischen Aspekten der assemblage La fabbrica illuminata und damit als eigenständiger, nonverbaler Akt von open interpretation verstanden werden, andererseits muss Restore Factory Defaults Gegenstand verbaler Interpretation werden, um sein Potenzial als Modell künstlerischer Forschung entfalten zu können.
Kollaboration
Das Stück nimmt im Wesentlichen drei Themenkomplexe aus La fabbrica illuminata auf: 1. die Kollaboration zwischen Interpretin und Komponist, 2. die Positionierung der Interpretinnenfigur innerhalb eines jeweils aktuellen gesellschaftlichen Diskurses sowie 3. Fragstellungen zu technischen und ästhetischen Aspekten durch die Verbindung virtueller und tatsächlicher Präsenz der Interpretin innerhalb der Performance. Mit Blick auf den ersten Komplex erweist sich die stark hierarchisch geprägte Zusammenarbeit von Carla Henius und Luigi Nono als wesentliches Charakteristikum dieser historischen Kollaboration – mit Auswirkungen bis in die gegenwärtige Aufführungspraxis der Fabbrica (siehe oben). Die starke Position des Autors scheint sich hier auf mit diesem assoziierte Personen im bereits erhellten „sistema maestro/allievo“ übertragen zu haben. Dabei dürfte die historische Konstellation nicht als konfliktträchtig empfunden worden sein; vielmehr entspricht die klare Unterordnung der Interpretin Henius unter die Autorität des Komponisten einem Muster, das die Sängerin in Bezug auf eine Vielzahl von Akteuren – darunter auch Theodor W. Adorno, Dieter Schnebel und Bruno Maderna – pflegte. Aus heutiger Sicht erweist sich das genannte Meister-Schüler-System nicht nur aufgrund der Frage als problematisch, wer – insbesondere in zunehmend größerer zeitlicher Entfernung vom Moment der Kompositionsgenese – als autorisierter Stellvertreter Nonos gelten kann, sondern auch, weil die damit verbundene Aufführungspraxis explizit auf Lösungsansätze in Anlehnung an eine orale Tradition der Weitergabe von Informationen fokussiert und Entwicklungen auf der Basis anderer existierender Materialien weitestgehend ablehnt.77 Damit wäre dieses Vorgehen in seiner repetitiven Charakteristik letztendlich nicht als Interpretation zu bezeichnen, zumindest nicht im Sinne von Kramers Definition der open interpretation: Es stellt keinen „shock to the system“78 dar, sondern bestätigt dieses, womit ihm auch das Merkmal fehlt, einen qualitativen Sprung bewirken zu können.
Die Aushebelung dieses Repetitionsmechanismus findet bereits im Rahmen des „Labors“ zu La fabbrica illuminata statt: Mit der partiellen Neuaufnahme des Zuspielbands weicht das Vorgehen klar vom hierarchisch geprägten Tradierungssystem der Komposition ab. Es entspricht einem Ausbruch aus dem bestehenden System und führt im Vergleich zur tradierten Aufführungspraxis zu einer qualitativen Differenz des daraus resultierenden performativen Ereignisses La fabbrica illuminata – nicht zuletzt auch hinsichtlich des damit verbundenen Handlungsraums von Interpretation. Restore Factory Defaults lässt sich als weiterer Schritt im Verlassen dieses Systems verstehen, indem Kramers hermeneutic interpretation auf den Kontext musikalischer Interpretation angewendet und ins Extrem getrieben wird. Aus der Untersuchung der spezifischen Dynamik zwischen Henius und Nono und der Interpretation der daraus gewonnenen Erkenntnisse zum Nachwirken dieser spezifischen Zusammenarbeit auf die Aufführungspraxis wird diese Grundkonstellation zwischen Interpretin und Komponist zu einem fokussierten Aspekt im Schaffensprozess von Restore Factory Defaults. Der Befund der historiografischen Untersuchung erfährt so seine Anwendung auf die Entstehung einer neuen Komposition, indem als problematisch identifizierte Konstellationen von vornherein vermieden werden. Die sich entwickelnde Dynamik kann als performativer Nachvollzug einer historischen Konstellation angesehen werden, in der die entstehende Komposition den Rahmen für das enactment der Rollen „Interpretin“ und „Komponist“ abgibt. Dabei stellt sich die Basis dieser Zusammenarbeit als grundsätzlich verschieden von jener der historischen Kollaboration dar, ging doch bereits der Impuls zur Entstehung der Komposition von der Interpretin, nicht vom Komponisten aus. Zudem war durch die Sängerin/Forscherin als Grundbedingung die Bezugnahme auf La fabbrica illuminata vorgegeben – eine gestalterische Einschränkung, die Frank zunächst durchaus als Belastung empfand. Mit Rekurs auf Jennifer Torrences Kollaborations-Modell, das die Involviertheit von Interpretierenden in den kompositorischen Schaffensprozess zu erfassen sucht und dabei zwischen „interpreter“, „adviser“ und „deviser“79 unterscheidet, kann das Agieren der Sängerin/Forscherin als fluide Bewegung zwischen allen drei Rollen beschrieben werden: Als Auftraggeberin und an der Konzeption eng Beteiligte verortet sich ihre Rolle zwischen „deviser“ und „adviser“, nach Fertigstellung des Aufführungsmaterials durch den Komponisten und in der gemeinsamen Probenarbeit zwischen „adviser“ und „interpreter“. Einflussnahmen auf die Komposition in inhaltlicher oder formaler Hinsicht erfolgen zu diesem späteren Zeitpunkt kaum noch, sondern lediglich Anpassungen der grafischen Darstellung der Partitur mit Blick auf ihre Praktikabilität im Proben- und Aufführungskontext. Auf die als egalitär zu bezeichnende Dynamik in der Zusammenarbeit zwischen der Autorin und Frank dürfte neben den spezifischen Umständen und den individuellen Arbeitsweisen auch ein seit den 1960er Jahren zu beobachtender grundsätzlicher Wandel im Verhältnis zwischen Interpretierenden und Komponierenden Einfluss gehabt haben. Gleichwohl ist zu bemerken, dass ein Agieren abseits traditioneller Hierarchien auch in der Musik des 21. Jahrhunderts nicht die Regel darstellt. Inwiefern die hier beschriebene Ausgangskonstellation langfristig für die Aufführungspraxis der Komposition Restore Factory Defaults von Bedeutung sein wird, muss allerdings die Zukunft zeigen.
Engagement
Einen zweiten Anknüpfungspunkt zur Fabbrica stellt die Frage gesellschaftspolitischen Engagements dar, ein bereits in der historischen Komposition als problematisch zu bezeichnender Aspekt. So scheint Nonos Kritik an den Arbeitsumständen von Stahlarbeitern in Genua in den 1960er Jahren auf eine schon zur Entstehungszeit der Fabbrica überholte Vorstellung der Technisierung und deren Wahrnehmung in der Arbeiterschaft zu basieren.80 In den 1980er Jahren revidierte der Komponist zudem seine Sicht auf die Fabbrica als quasi didaktische Komposition,81 die, aufgeführt vor Fabrikbelegschaften, diese auf ihre prekäre Situation aufmerksam machen und dadurch womöglich ein Engagement der Arbeiter selbst befördern sollte:
Es entspringt wirklich kuriosem Denken, Musik in der Fabrik aufzuführen. Die Arbeiter, die sich immer dort aufhalten, wollen andere Räume, andere Säle. Sie nun zu zwingen, am Ort ihres Leidens auch noch Konzerte zu hören, ist ein wenig sadistisch. Man hat in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, zu Zeiten Mussolinis und in der Gegenwart Konzerte in der Fabrik veranstaltet. Deswegen sage ich, daß die Aufführung von Musik in Fabriken für sich nichts aussagt.82
Auch auf der Ebene der Rezeption des gesellschaftspolitischen Gehalts deuten sich Widersprüchlichkeiten an, wenn der Einsatz der solistischen Stimme am Ende der Komposition nicht selten mit der humanistischen Utopie des „emanzipierten Individuums“83 assoziiert wird, der vermeintliche Antagonismus zwischen Mensch und Technik jedoch dadurch relativiert wird, dass Nono sich in der Fabbrica gerade aktueller Technik als zentralem kompositorischem Mittel bedient.
Scheinbar lässt sich in Gegenüberstellung der als paradigmatische politische Komposition rezipierten Fabbrica mit Restore Factory Defaults vor allem eine Abwesenheit vordergründigen Engagements in letzterer Komposition konstatieren: Die Solistin agiert nicht im Namen benachteiligter Gruppen, die Textebene verharrt im quasi Privat-Professionellen, emotionale Äußerungen – Empörung, Wut, Sarkasmus etc. – beziehen sich ausschließlich auf sie selbst, genauer: auf die zwischen halbprivater Bühnenpersona und der Rolle der maschinal dominierten Sängerin changierende Performerinnen-Figur. Damit scheinen Frank und die Autorin im Wesentlichen einer klaren Positionierung zum politischen Engagement in der Fabbrica im Kontext der Kreation von Restore Factory Defaults ausgewichen zu sein.
Tatsächlich spielten gesellschaftspolitische Diskurse jedoch in der Konzeption von Restore Factory Defaults eine zentrale Rolle. Frank unterteilt die Komposition noch im Februar 2017, also drei Monate vor der Uraufführung, analog zur Fabbrica in vier, statt wie in der finalen Fassung in zwei Abschnitte, die sämtlich gesellschaftspolitische Komplexe reflektieren (siehe auch oben):
„I. the Alienation of the singer from their Gattungswesen (0:00–6:44)
II. fließende Bänder – vokale Arbeit (6:45–12:15)
III. l’art est mort – vive l’art (12:16–14:14)
IV. riproduzione del ultimo suono (14:15–17:00)Zu I. Der Untertitel/Begriff stammt von Marx (singer ersetzt worker in unserem Fall …), den auch Nono prinzipiell thematisiert, es geht um den Begriff der entfremdeten Arbeit … […] Marx’ Begriff [ist] übertragen in eine poetisch-epische Fantasie, in der die Protagonistin/Sängerin (also Du) sich in ihrem ‚Neue Musik‘-Arbeitsumfeld wiederfindet und mit ihrer ‚Vokalarbeit‘ das szenische (Video/Licht) Umfeld gestaltet/baut/steuert/interagiert, aber eben mit ‚Techniken‘ der neuen Musik, was sie von ihrer eigentlichen Tätigkeit, dem Belcanto, abhält.
Zu II. […] Es geht um die körperliche Erzeugung und Auseinandersetzung von Klang mit dem Körper (von der Lunge über Stimmbänder bis zum gesungenen Ton/Geräusch) und [um] das Verhältnis [des] Mensch[en] zur und mit der Arbeit, auch um Fließbandarbeit, Kritik an der stumpfen Wiederholung, die sich durch monotone Abfolgen des immer wieder gleichen Einfachen und Geisttötenden auszeichnet … Eine Art Lecture/Vocalperformance
Zu III. Ausgehend davon, dass jegliche Arbeit irgendwann durch Maschinen ersetzt wird, suchen wir Menschen unseren Ausweg in der Ausübung von Kunst & Musik. Eine utopische Reflexion über die Zukunft der Kunst mit Querschlägen zu französischen Revoluzzern …
Zu IV. Die Fabrik, die du baust, mit der du interagierst und in der du dich befindest, hat am Ende dazu gedient, selbst das Singen zu reproduzieren. Sie verselbstständigt sich und wirft ein nihilistisches Bild auf das ganze Konstrukt, in dem wir Menschen uns befinden, und das Streben nach Produktionsoptimierung auf Kosten der Menschenwürde.“84
In der performativen Umsetzung bleibt dieser politische Gehalt allerdings weitgehend verborgen. Dass die politische Dimension nicht vordergründig in Restore Factory Defaults aufscheint, ist allerdings nicht zwingend gleichbedeutend mit dem grundsätzlichen Fehlen von politischem Engagement. Gunnar Hindrichs führt am Beispiel von Jacques Wildbergers … die stimme, die alte, schwächer werdende Stimme … (1975) aus, dass engagierte Musik, verstanden als Appell, gerade in ihrem Appellcharakter scheitern muss und damit ihre Bedeutung darin liegt, „engagierte Musik als Problem“85 darzustellen.
Engagierte Musik erfüllt […] gegen ihren Willen einen Zweck: Sie ist der allgemeinen Handlungsform gemäß, die die Handlung ihrer Erschaffung vereinzelt. Autonome Kunst durchschneidet das Band ihrer Erschaffung. Wie auch immer man diesen Schnitt artikulieren mag, er ist anzuerkennen, sofern man die Autonomie des Kunstwerks behaupten will. Engagierte Musik behauptet ihre Autonomie in dem Begriff ihrer Zwecklosigkeit. Dann muss sie aber auch den Schnitt akzeptieren. Folglich kann sie nicht zum Zweck einer Handlung werden. Anders gesagt: Sie kann kein Appell sein. Weil sie dann aber keine engagierte Musik sein kann, muss sie verstummen.86
Als autonomes Kunstwerk würde, so Hindrichs, engagierte Musik durch ihren Anspruch, zweckfrei zu sein, eingeholt und damit fraglich. Gerade damit gewinne engagierte Musik jedoch ihre Gültigkeit.87 Der Appell in Restore Factory Defaults ließe sich im Ausbrechen aus den Zwängen eines Systems, in dem der Mensch seine Würde durch seine Unterwerfung unter die Mechanismen einer kapitalorientierten Maschinerie verliert, benennen. Der „Menschheit Stimme“88 wird hier nicht nur unterdrückt, sondern schließlich von der Maschine selbst simuliert und damit in ihrer Wirkmacht neutralisiert. Das Verstummen lässt sich in Restore Factory Defaults damit nicht im buchstäblichen allmählichen Schweigen der Performerin finden, jedoch in der Verschmelzung mit ihren virtuellen Alter Egos. Während die Live-Interpretin im ersten Teil, I. the alienation of the singer from their Gattungswesen, als Gegenspielerin zur mit ihr kommunizierenden Maschine kenntlich wird und im zweiten Teil, II. when sound exceeds the speed of light, zunächst noch als Einzelindividuum mit ihren virtuellen Vervielfachungen in Kontakt tritt („ihr seid also schneller als Schall?“,89 „I find myself in a difficult situation“,90 „ich verstehe gar nichts mehr“,91 etc.), ist sie zum Ende des Stücks in ihren Alter Egos aufgegangen („are we excited by the speed of sound?“,92 „with lights we exceed the speed of“93). Der „Menschheit Stimme“ ist damit auch hier verloren gegangen – sie ist Teil der Maschine geworden. Die Distanzierung zur in der Fabbrica transportierten Utopie findet sich dabei auch auf der Textebene: Der Poesie des Nono-Schlusses auf die Worte Cesare Paveses – „ritroverai qualcosa“ – steht hier die banal anmutende Phrase „more is more, and less is less“, eine Potenzierung des Gemeinplatzes „less is more“, gegenüber. Aus dessen qualitativ konnotierter Metaphorik wird hier das rein quantitative „more is more“. Restore Factory Defaults, so ließe sich mit Hindrichs argumentieren, verhandelt demnach im Scheitern als engagierte Musik gerade die Problematik eben dieser. Gleichzeitig müsste vor diesem Hintergrund La fabbrica illuminata nicht als engagierte Musik, sondern als aktivistische Musik verstanden werden, dient sie doch – zumindest in ihrer Konzeption – einem außermusikalischen Zweck, nämlich dem der politischen Unterweisung von Fabrikarbeiterinnen und -arbeitern. Allerdings lässt sich diese Deutung nur – wie bei Hindrichs geschehen94 – unabhängig von aufführungspraktischen und rezeptionsästhetischen Aspekten vollziehen. Auch steht der hier zugrundeliegende Werkbegriff quer zum in dieser Arbeit verfolgten Verständnis des musikalischen Werks als assemblage. Auf dessen Basis muss davon ausgegangen werden, dass sich nicht nur Nonos Blick auf den „Zweck“ der Fabbrica über die Jahre gewandelt hat und dass Diskurse, Aufführungen, Analysen etc. zu einer Überlagerung des „Werks“ bzw. seines images beigetragen haben, sondern dass ihre „aussermusikalische Absicht“95 auch mit zunehmender zeitlicher Entfernung von ihrer Entstehung zumindest in ihrer Rezeption in den Hintergrund rückt. Damit lässt sich mit Hindrichs’ Modell zwar die in Restore Factory Defaults erfolgte Auseinandersetzung mit politischem Engagement in der Musik – vor allem im Hinblick auf die Fabbrica – erhellen, eine ontologische Bestimmung sowohl von Franks als auch Nonos Komposition auf dieser Basis liegt aber weder im Interesse der Arbeit, noch kann sie in der Verquickung zweier so unterschiedlicher Werkbegriffe geleistet werden.
Medien
Das vordringlichste aufführungspraktische Problem der Fabbrica besteht allerdings in der nach Henius aufgehobenen ästhetisch-dramaturgischen Grundkonstellation der Komposition. Die aus der Inkongruenz zwischen Partitur und Zuspielband in qualitativer (Aufhebung der Einheit zwischen Band- und Live-Stimme), aber auch in quantitativer Hinsicht (Zeitraster und vor allem Tonhöhen) erwachsenden Fragestellungen wurden bei Frank auf einer ersten Ebene technisch beantwortet: Durch die Schaffung eines MAX-Patches96 kann die mediale Komponente (Audio- und Video-Zuspielungen) für nachfolgende Interpretinnen individualisiert, das heißt neu produziert werden. Damit ist die in Franks Komposition vor allem visuell bedingte notwendige Einheit zwischen der Live-Performerin und ihren medialen Alter Egos auch für zukünftige Interpretinnen umsetzbar, was eine Aktualisierung nicht nur auf der performativen Ebene der Live-Interpretation ermöglicht, sondern auch der audiovisuellen Komponente. Dies impliziert die Möglichkeit – anders als in La fabbrica illuminata –, über die Zeit sich wandelnde aufführungsästhetische Prämissen auch in die mediale Ebene einbeziehen zu können.
Versteht man das Zuspielband in Nonos Fabbrica mit seinen diversen Bestandteilen – O-Tönen aus dem Stahlwerk, Vertragstexten der Stahlarbeiterinnen und -arbeiter, chorischem Gesang und Skandieren etc. – als künstlerisch sublimierten Ort eines gesellschaftspolitischen Geschehens, lässt sich die Rolle der Live-Interpretin mit ihrer tatsächlichen Präsenz im Moment der Aufführung und ihrer medialen Präsenz auf dem Band und somit als Teil dieses Geschehens vor allem als die einer Vermittlerin verstehen: als Moderatorin zwischen dem Publikum einerseits und den Stahlarbeiterinnen und -arbeitern in ihrer als prekär begriffenen Situation andererseits. Ihre Person ermöglicht den empathischen Blick einer Menschengruppe auf eine andere. Muss dieser naturgemäß monodirektional bleiben, ließe sich doch von einem fiktionalen Dialog sprechen. Bedenkt man die ursprünglich von Nono verfolgte Idee, La fabbrica illuminata als didaktische Komposition vor Arbeiterinnen und Arbeitern zu spielen, dürfte es ursprünglich mehr noch denn um Empathie um eine Identifikation des Publikums mit den Geschehnissen auf dem Band gegangen sein – auch hierfür muss die Solistin in ihren zwei medialen Erscheinungen als maßgeblicher Link verstanden werden.
Die im musiktheatralen Sinne dramaturgische Funktion der Einheit von Live- und Bandstimme im Abschnitt Giro del letto zur Darstellung des um das Bett kreisenden Fabrikarbeiter-Ehepaars – also der Einheit als Paar, sowie der Zweiheit als Mann und Frau – wurde bereits oben ausführlich dargelegt. Auch hier verweist die Sängerin auf Situationen und Aussagen über ihre eigene Situation als Interpretin hinaus, wobei der Zuordnung von Live- und Bandstimme zur selben Interpretin erneut eine zentrale Rolle für die Vermittlung dieser Gehalte zukommt. Allerdings beziehen sich diese sowohl im Kontext der Vermittlung zwischen den genannten Personengruppen als auch in der privaten Szenerie von Giro del letto nicht primär auf die Sängerin selbst.
Anders in Franks Komposition. Hier lassen sich zwei ineinander verschränkte Ebenen ausmachen, die jeweils Inszenierungen performativer Situationen bzw. ihrer Kontexte darstellen: 1. die vermeintlich eigentliche Performance-Ebene, charakterisiert durch rein klangliche Vokaläußerungen, und 2. eine Kommentarebene, die sich in englischer wie deutscher Sprache an das Publikum sowie das technische Personal des Veranstaltungsorts („May I have the lights please?“97) zu richten scheint. Tatsächlich bilden beide Ebenen nur zusammen die Komposition Restore Factory Defaults und führen erst in ihrem Zusammenwirken zu jener Überforderungssituation – als Gesamteffekt der Komposition ergibt sich daraus die für das Stück charakteristische Virtuosität –, die die Kommentarebene thematisiert. Gleichzeitig verbinden sich beide Schichten, indem auf semantischer Ebene die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Resultat ist ein Oszillieren in der Wahrnehmung vokaler Äußerungen zwischen der rein klanglichen Charakteristik jener vermeintlichen eigentlichen Performance-Ebene und der Semantik der Kommentarebene, in der die vokalen Klänge zu Trägern emotionaler Gehalte umgedeutet werden.98 Das gilt auch für die gestische Schicht der Komposition, die mit ihren Konnotationen (Daumen nach oben, Daumen nach unten, Victory-Zeichen, geballte Faust etc.) ebenfalls in Funktion zu jener sich im Verlauf der Performance konstruierenden semantischen Ebene wahrgenommen wird. Die damit zu assoziierenden Inhalte beziehen sich jedoch sämtlich auf die Sängerin selbst, was im zweiten Teil der Komposition (II. when sound exceeds the speed of light) in der zunehmenden Verschiebung der diskursiven Schicht vom Publikum hin zu ihren virtuellen Manifestationen – fünf Videoprojektionen der Sängerin – kulminiert: Die Sängerin kommentiert ihre eigene Performance mit und durch sich selbst. Damit wird nicht zuletzt die jeweilige Aktualisierung des medialen Zuspiels zur zwingenden Voraussetzung der Aufführung von Restore Factory Defaults. Auch dies lässt sich als Kommentar auf das in der Fabbrica als problematisch herausgearbeitete Verhältnis zwischen historischem Zuspielband und Live-Interpretation verstehen: Frank ermöglicht nicht nur eine entsprechende Aktualisierung, er macht sie aus der Grundkonzeption der Komposition heraus zum Obligatorium.
Konklusion 2
Die Interpretation wesentlicher Bestandteile der assemblage La fabbrica illuminata ließe sich damit als Verschränkung einer Extremvariante von Kramers hermeneutic interpretation mit de Assis’ problematisation verstehen: Anstelle der musikpraktischen Auseinandersetzung innerhalb ihres ursprünglichen Manifestationsorts fungiert hier die Musikpraxis in einem eigens dafür geschaffenen performativen Rahmen einerseits als Kommentar auf die historische Konstellation, andererseits erfolgt darin die Umsetzung von Lösungsstrategien für identifizierte Probleme, die in der historischen Komposition nicht angewendet werden können bzw. nicht zu kompromissfreien Ergebnissen führen würden. Diese Problematik verdeutlicht insbesondere die im „Labor“ La fabbrica illuminata (Giro del letto) durchgeführte partielle Neuaufnahme des Zuspielbands, die auf das gesamte Stück ausgedehnt nicht nur einen erheblichen Arbeitsaufwand nach sich ziehen, sondern auch – zumindest zum aktuellen Zeitpunkt – rechtliche wie ästhetische Fragen aufwerfen würde. Mit der Schaffung von Restore Factory Defaults erfolgt eine Anwendung von Forschungsergebnissen außerhalb des sie generierenden Interpretationsrahmens, womit der Handlungsraum der problematisation um musikalische Produktion erweitert wird. Als Echoraum von La fabbrica illuminata reflektiert Restore Factory Defaults nicht nur Fragestellungen, die aus der Arbeit an der historischen Komposition erwachsen, sondern – in der Genese wie in der Aufführungssituation – auch Rollen und Potenziale von Interpretierenden. Indem Interpretation darin explizit und im Wortsinn als kreative, nicht nachschaffende Praxis verstanden wird, arbeitet dieser Raum der Entfremdung Marx’scher Prägung entgegen: Die Selbstverwirklichung der Sängerin in ihrer Arbeit wird in der fiktiven Realität der Performance zwar untergraben, in der Realität der Sängerin/Forscherin jedoch verwirklicht.
75 Lawrence Kramer, Interpreting Music, Berkeley 2011, S. 2.
76 Juni 2017 bei Attacca – Festival für aktuelle Musik Basel, April 2018 an der Northwestern University/Illinois, Dezember 2018 in Berlin, November 2019 bei Wien Modern, April 2021 im Walcheturm Zürich und bei der Gare du Nord Basel, April 2022 bei der SMC Lausanne.
77 Vgl. Cossettini, Tracce di un contrappunto a due dimensioni, S. 53.
78 Kramer, Interpreting Music, S. 13.
79 Vgl. Jennifer Torrence, A Reflection on the Artistic Research Project. Percussion Theatre. A Body in Between, online verfügbar unter: https://researchcatalogue.net/view/533313/534335, zuletzt aktualisiert 2019, zuletzt eingesehen am 06.01.2022.
80 Vgl. Möller, Nonos ‚La fabbrica illuminata’ heute, S. 205–256.
81 „Seit einiger Zeit führen Genosse Luigi Pestalozza und ich ein sehr bedeutsames Experiment durch: Auf Einladung von Arbeiterkulturklubs tragen wir einige meiner Kompositionen vor, hauptsächlich ‚La fabbrica illuminata‘ […] und diskutieren darüber. Für uns ist das eine Kontrolle, eine neue Überprüfung der Funktion und der Gründe der heutigen Musik und des heutigen Musikkonsums.“ Luigi Nono, Der Musiker in der Fabrik (1967), in: Luigi Nono. Texte. Studien zu seiner Musik, hrsg. von Jürg Stenzl, Zürich 1975, S. 104–106, hier S. 105.
82 Luigi Nono im Gespräch mit Bernd Riede am 25.02.1983, zitiert nach Riede, Luigi Nonos Kompositionen mit Tonband, S. 18.
83 Marion Saxer, Kunstgesang als Klangsymbol. Belcanto in experimenteller Vokalmusik nach 1960, in: Musik & Ästhetik 23/4 (2019), S. 5–25, hier S. 7.
84 Email von Andreas Eduardo Frank an die Autorin, 13.02.2017 (sprachlich editiert durch die Autorin).
85 Gunnar Hindrichs, Aktivismus und Engagement, in: Musik & Ästhetik 23/4 (2019), S. 26–42, hier S. 39.
86 Ebd., S. 39f.
87 Vgl. ebd., S. 41.
88 Jacques Wildberger in einem Brief an Helmut Lachenmann, datiert auf den „28. April 1995“, CH-Bu, NL 361 B I 48: „Geräuschhaftes Spiel, besonders bei Streichern, habe ich schon seit Jahren angewandt. Aber in einem anderen Kontext als Du. Bei mir war es immer ein ‚noch nicht‘ oder ein ‚nicht mehr‘. In der Mitte stand der relativ traditionelle Normal- oder Schönklang als Zeichen der – pathetisch-ironisch ausgedrückt – ‚Menschheit Stimme‘. Immer gefährdet vom Sprachverlust.“
89 Andreas Eduardo Frank, Restore Factory Defaults, Partitur, S. 29, T. 140f.
90 Ebd., S. 30, T. 147.
91 Ebd., T. 150.
92 Ebd., S. 35, T. 184.
93 Ebd., T. 185.
94 Vgl. Gunnar Hindrichs, Der autonome Klang. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2014.
95 Hinrichs, Aktivismus und Engagement, S. 40.
96 Der Patch ist derzeit noch in Arbeit.
97 Frank, Restore Factory Defaults, Partitur, S. 8., T. 22.
98 Vgl. z. B. ebd.: Die vor dem Satz „May I have the lights please?“ stehende vokale Äußerung, ein aufwärts gerichteter Klang auf dem Vokal „ö“ mit „vocal fry“, lässt sich in dieser Konstellation als mit dem Satz in Verbindung stehend wahrnehmen, d. h. als vokale Äußerung des Ärgers über das fehlende Licht.
- Inhalt
- Vorwort
- 1. Stimme und Person in der Philosophischen Anthropologie.
- 2. Gesangstechniken in der zeitgenössischen Vokalmusik
- 3. Sologesang des 20. und 21. Jahrhunderts
- 4. „The Alienation of the Singer from Her Gattungswesen“
- 5. Stimme im 21. Jahrhundert
- 7. Die Schönheit des Dazwischen in Vokalmusik
- 8. Den eigenen kulturellen Hintergrund überdenken
- 9. Die eigene Stimme finden
- Kurzbiografien
- Bildnachweis